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Das Vaterunser: Sechste und Siebente Bitte und Beschluß.

Das Vaterunser: Sechste und Siebente Bitte und Beschluß.

 

DIE SECHSTE BITTE
Und führe uns nicht in Versuchung.

Was ist das?
Gott versucht zwar niemand;
aber wir bitten in diesem Gebet,
daß uns Gott wolle behüten und erhalten,
auf daß uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch
nicht betrüge und verführe in Mißglauben, Verzweiflung
und andere große Schande und Laster;
und ob wir damit angefochten würden,
daß wir doch endlich gewinnen und den Sieg behalten.


DIE SIEBENTE BITTE
Sondern erlöse uns von dem Bösen.

Was ist das?
Wir bitten in diesem Gebet als in der Summa,
daß uns der Vater im Himmel von allerlei Übel an Leib und Seele,
Gut und Ehre erlöse
und zuletzt, wenn unser Stündlein kommt, ein seliges Ende beschere
und mit Gnaden von diesem Jammertal zu sich nehme in den Himmel.


Das Verhältnis zwischen Gott und dem Bösen ist eine Frage, die alle Religionen, ja letztlich auch alle Weltanschauungen bewegt und die in ganz unterschiedlicher Weise beantwortet wird. Der christliche Glaube sieht im Bösen nicht einfach nur einen Schein oder eine Einbildung, und er versucht das Böse auch nicht dadurch logisch zu erklären, daß nur durch die Existenz des Bösen das Gute in seinem Gutsein überhaupt erst recht erkannt werden kann. Die Hoffnung des christlichen Glaubens richtet sich gerade auf eine Welt, in der es überhaupt kein Böses mehr geben wird und in der doch das Gute in seiner ganzen Vollkommenheit erfahren werden wird. Der christliche Glaube erkennt auch nicht bloß „das Böse“ im Sinne von bösen Strukturen oder bösen Ereignissen, sondern er nimmt hinter diesem Bösen „den Bösen“ in Person wahr, den Widersacher Gottes, den Teufel. Aus diesem Grunde wurde der Wortlaut der letzten Vaterunserbitte in der ökumenischen Fassung des Vaterunsers auch biblisch sachgemäß von „Erlöse uns von dem Übel“ in „Erlöse uns von dem Bösen“ geändert, wobei in „dem Bösen“ „das Böse“ und „der Böse“ gleichermaßen enthalten sind. Es ist aber bezeichnend, daß der Widersacher Gottes als „der Böse in Person“ in der Heiligen Schrift erst mit der Erscheinung Christi deutliche Konturen gewinnt. Denn „dazu ist erschienen der Sohn Gottes, daß er die Werke des Teufels zerstöre.“ (1. Johannes 3,8)

Umgekehrt sind im christlichen Glauben Gott und der Teufel nicht einfach zwei ebenbürtige Mächte, geschweige denn, daß der christliche Glaube von der Existenz von zwei Urprinzipien, einem Guten und einem Bösen, ausginge. Am Beginn der Welt steht Gott allein, und was Er schafft, ist nach dem Zeugnis des ersten Kapitels der Heiligen Schrift nur gut und nicht auch ein bißchen böse. Unvermittelt und unerklärbar tritt das Böse bzw. der Böse dann im dritten Kapitel des 1. Mosebuchs auf den Plan als der Versucher. Die Frage „unde malum?“ (Woher kommt das Böse?) bleibt dabei unbeantwortet. Klar ist jedoch, daß der Böse Gott und Seinem Willen unterworfen bleibt: Seinem Strafurteil kann er sich nicht entziehen. Der Beginn des Hiobbuches läßt erkennbar werden, daß der Satan nur unter der Zulassung Gottes handeln kann, und das letzte Buch der Heiligen Schrift, die Johannesoffenbarung, schildert schließlich die endgültige Vernichtung des Bösen, der sich Christus widersetzt.

Von daher hat die „Versuchung“ in der Heiligen Schrift immer zwei Aspekte, die sich logisch nur begrenzt miteinander vereinbaren lassen: Sie ist zum einen teuflischer Angriff, der uns von Christus und Seinem Reich fortzuziehen versucht, und sie geschieht zum anderen doch stets unter der Zulassung Gottes und kann von daher einen positiven Sinn als Prüfung und Bewährung des Glaubens gewinnen. In diesem Sinne kann in 1. Mose 22,1 sogar direkt davon gesprochen werden, daß Gott Abraham versuchte.

Darum ist für uns Christen auch Gott, unser Vater, allein der richtige Ansprechpartner beim Thema „Versuchung“. Wir glauben als Christen zwar, daß es den Teufel gibt, aber wir glauben als Christen nicht an den Teufel, geschweige denn, daß wir mit ihm irgendwelche Verhandlungen in puncto „Versuchung“ führen könnten. Die einzig angemessene Form der Rede mit dem Teufel ist seine Verspottung: „Satan, laß dir dieses sagen: Ich bin ein getaufter Christ, und damit kann ich dich schlagen, ob du noch so grausam bist.“ (ELKG 464,3) Gott ist also zuständig beim Thema „Versuchung“. Er allein kann verhindern, daß die Versuchungen des Widersachers Gottes bei uns Erfolg haben und wir, wie Luther es formuliert, von ihm verführt werden „in Mißglauben, Verzweiflung und andere große Schande und Laster“. Mit der kirchlichen Tradition weiß Luther darum, daß die Versuchung stets in eine doppelte Richtung zielt: Sie will uns entweder zur Vermessenheit oder zur Verzweiflung führen. Die Vermessenheit, von Luther hier als „Mißglauben“ bezeichnet, maßt sich an, auch ohne Gottes Wort und Vergebung auskommen zu können. Luther entfaltet sie in einer Predigt beispielhaft sehr eindrücklich an dem Überdruß, den wir gegenüber der Predigt des Evangeliums empfinden, das wir doch schon längst kennen und das zu hören wir darum doch gar nicht mehr nötig haben. Die Verzweiflung hingegen sieht nur noch das eigene Versagen und verliert den rettenden und vergebenden Gott ganz aus den Augen.

So sieht die Sechste Bitte uns Christen in einem beständigen Kampf, dem wir in unserem Leben niemals entkommen können, ja der sich im Hinblick auf das Ende unseres Lebens und das Ende der Welt sogar noch zuspitzt. Diesen Kampf können wir aus eigener Kraft niemals bestehen; ihn kann allein Christus für uns und in uns gewinnen. Das Gebet des Vaterunsers ist dabei eine entscheidende Waffe, die Christus selber uns in diesem Kampf in die Hand gibt.

Die Sechste und Siebente Bitte gehören als eine Doppelbitte ganz eng zusammen. Der negativen Bitte „Führe uns nicht“ entspricht das positive „sondern erlöse uns von dem Bösen“. Wieder erwartet der Beter mit dieser Bitte alle Rettung allein von Gott dem Vater und nicht von sich selber. Luther spitzt die Erklärung zu auf „unser Stündlein“, auf die letzte Stunde unseres Lebens, in der der Kampf zwischen dem Versucher und Gott seine letzte Entscheidung findet.

Die Bitte um ein „seliges Ende“ spielt in unserer heutigen Frömmigkeit zumeist nicht mehr dieselbe Rolle wie in früheren Zeiten. Tod und Sterben werden aus unserem alltäglichen Leben weitgehend verdrängt und treffen uns dann um so heftiger, wenn wir mit ihnen beispielsweise im Zusammenhang mit einer Katastrophe konfrontiert werden. Und erst recht liegt uns Menschen heute zumeist der Gedanke fern, daß unser Sterben die letzte entscheidende Bewährungsprobe unseres Glaubens sein könnte und es eben gerade nicht selbstverständlich ist, daß jedes Sterben zugleich auch ein „seliges Ende“ darstellt. Während wir in der Litanei darum bitten, daß Gott uns vor einem „bösen, schnellen Tod“ behüten möge, wünschen wir uns heute in aller Regel gerade solch ein schnelles Ende, einen möglichst kurzen Übergang von einem leidfreien, aktiven Leben zum Tod. Eben darum sollten wir beim Gebet dieser letzten Bitte des Vaterunsers immer auch besonders das Ende unseres Lebens vor uns haben und Gott bitten, daß er uns die Möglichkeit schenken möge, uns auf unser Ende vorzubereiten. Eben solche Vorbereitung geschieht auch schon mit dem bewußten Nachvollzug dessen, was wir in dieser letzten Bitte von Gott erbitten.


DER BESCHLUSS
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit. Amen.


Was heißt Amen?
Daß ich soll gewiß sein,
solche Bitten sind dem Vater im Himmel angenehm und erhöret.
Denn er selbst hat uns geboten, also zu beten,
und verheißen, daß er uns will erhören.
Amen, Amen, das heißt: Ja, ja, es soll also geschehen.


Der abschließende Lobpreis „Denn dein ist das Reich …“ wurde, wie bereits erwähnt, erst später dem Vaterunser hinzugefügt. Darum begnügt sich Martin Luther in seinem Katechismus mit der Erläuterung des „Amen“. „Amen“ ist ein hebräisches Wort und stellt von seinem Wortsinn eine Bekräftigung dar: Ja, so ist es. Mit dem „Amen“ machen sich die Beter ein Gebet zueigen. Von daher spricht im Gottesdienst jeweils die Gemeinde das „Amen“ am Schluß der Gebete oder des Segens, nicht der Pastor. Diesem bleibt einzig das „Amen“ am Schluß der Predigt, dessen Zeitpunkt doch vom Prediger und nicht von der Gemeinde bestimmt werden sollte.

Martin Luther deutet das „Amen“ zugleich auch als Ausdruck der Gewißheit, die wir als Beter des Vaterunsers haben dürfen: Weil Gott in Christus selber genau dieses Gebet uns geboten hat und uns befohlen hat, so zu ihm zu beten, und weil Gott in Christus zugleich fest versprochen hat, daß wir dieses Gebet des Vaterunsers nicht vergeblich sprechen, sondern mit diesen Bitten auf jeden Fall erhört werden, dürfen wir gewiß sein, daß Gott auch erfüllt, was wir in diesem Gebet von ihm erbitten. Auch das Vaterunser ist keine „Zauberformel“, mit der wir Gott unserer Verfügungsgewalt unterwerfen. Wer sich aber mit diesem Gebet tatsächlich an ihn, den Vater im Himmel, wendet, der darf auch gewiß sein, daß Gott ihn als sein Vater erhören wird und erfüllen wird, was er uns selbst in den Mund gelegt hat. Ob uns dies nicht Lust dazu macht, das Vaterunser künftig noch viel lieber – und auch viel öfter – zu beten?