Drucken

3. Die Predigt

Die Predigt als Auslegung der zuvor gelesenen biblischen Texte war bereits Bestandteil des vorchristlichen jüdischen Synagogengottesdienstes. An diese Praxis schloss die Kirche ab der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts an, als neben dem Kanon des Alten Testaments auch die Schriften des Neuen Testaments in festerer Form vorlagen und entsprechend im Gottesdienst regelmäßig verlesen wurden.

Jesus selber hat zwar auch in den Synagogen gepredigt (vgl. St. Lukas 4,14-21); doch beschränkte sich seine Predigttätigkeit nicht auf den Synagogengottesdienst, sondern suchte eine breitere Öffentlichkeit. Vor allem aber war seine Predigt nicht bloß Auslegung eines schriftlichen Textes, sondern Auslegung des Wortes Gottes, das Er selber in Person war und ist. Entsprechend bezog sich auch die Predigt der Apostel nicht nur auf die Worte des Alten Testaments, auch wenn diese in ihrer Verkündigung stets eine wichtige Rolle spielten. Ihre Predigt war vielmehr Zeugnis von dem, was sie selber gehört und gesehen hatten, und in diesem besonderen Sinne kirchenbegründende Predigt. Neben der Verkündigung an die Gemeinde (vgl. Apostelgeschichte 2,42) hielten die Apostel vor allem auch missionarische Predigten. Dies konnte in der Synagoge an der Stelle der dort vorgesehenen Predigt geschehen (vgl. Apostelgeschichte 13,14ff), aber auch außerhalb von gottesdienstlichen Stätten, wie dies die Apostelgeschichte an vielen Stellen schildert.

Auf eine Blütezeit der Predigt im 4.-6. Jahrhundert (Chrysostomus, Ambrosius, Hieronymus, Augustinus, Leo I.) folgte sowohl in der Ostkirche als auch in der Westkirche ein rascher Verfall. In den orthodoxen Kirchen des Ostens hat die Predigt bis heute nicht mehr die Stellung zurückerhalten, die sie ursprünglich einmal hatte; sie hat keinen festen Platz in der Liturgie und unterbleibt in den Gottesdiensten zumeist ganz. In der Westkirche war es Karl der Große, der die Predigt wieder neu förderte, weil er die Notwendigkeit der Missions- und Lehrpredigt für die oftmals nur oberflächlich christianisierten germanischen Völker sah. Da viele Geistliche selber nicht dazu in der Lage waren, Predigten zu verfassen, ließ Karl seinen Hoftheologen Paulus Diakonus eine Predigtsammlung aus den Kirchenvätern zusammenstellen, die das ganze Mittelalter hindurch von großer Bedeutung blieb.

Im hohen Mittelalter wurde in Deutschland die Predigt ebenfalls durch bedeutende Bischöfe und Mönchsorden (Der Dominikanerorden galt als der „Predigerorden“) gefördert; große Prediger wie Bernhard von Clairvaux, Berthold von Regensburg, Meister Eckhart oder Johann Tauler übten einen großen Einfluss sowohl auf andere Prediger als auch direkt auf das Laienvolk aus. Allerdings wurde die Predigt in dieser Zeit allmählich aus der Ordnung des Messgottesdienstes hinausgedrängt: Die Predigten wurden vor oder nach der Messe, oftmals auch im Freien, gehalten. Um die Predigt herum legte sich vielfach eine eigene Gottesdienstordnung, die selbständig neben der Ordnung der Messe stand.

Die Bedeutung der lutherischen Reformation für die Predigt besteht darin, die Predigt wieder als festen Bestandteil dem Hauptgottesdienst mit der Sakramentsfeier eingefügt zu haben; die Trennung von Predigt- und Sakramentsgottesdienst wurde so überwunden, bis sich unter dem Einfluss reformierten Denkens und dem Einfluss von Pietismus und Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder die Praxis von Predigtgottesdiensten ohne Sakramentsfeier in der Kirche einbürgerte und man damit wieder in die Zeit vor der Reformation zurückfiel. Inhaltlich war die lutherische Predigt durch ihren festen Bezug auf das Wort der Heiligen Schrift gekennzeichnet; sie war nicht bloß freie Rede über ein Thema. Dies bedeutete und bedeutet zugleich, dass die Predigt immer ganz zentral Christuspredigt ist und ihn, Christus, jeweils im Zentrum hat. Dabei diente die Predigt nicht bloß der Unterrichtung oder gar der moralischen Ermahnung der Gemeinde, sondern wurde als wirksames Gnadenmittel verstanden und wahrgenommen: Die Predigt hat nach lutherischem Verständnis selber sakramentalen Charakter und ist eben nicht bloß eine „erbauliche Rede“.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte die Predigt in der evangelischen Kirche einen Verfall auf breiter Linie, von dem sich die Kirche bis heute nicht ganz erholt hat: Im Pietismus diente die Predigt vor allem der Förderung der persönlichen Frömmigkeit des Einzelnen; dabei trat zugleich die Frömmigkeit und Persönlichkeit des Predigers in den Vordergrund, durch die diese Frömmigkeit der Gemeindeglieder gefördert werden sollte. In der Aufklärung, die sich daran anschloss, wurde die Predigt zum Lehrvortrag über moralische Fragen, in dem der biblische Text zumeist nur noch als „Sprungbrett“ verwendet wurde. Die Wünsche und Bedürfnisse der Zuhörer wurden zu einem wichtigen Richtpunkt für die Gestaltung der Predigt. Da das Sakrament zugleich aus dem Gottesdienst verdrängt wurde, erhielt die Predigt im Gesamtablauf des Gottesdienstes eine beherrschende Stellung: Der Gottesdienst geriet in die Gefahr, zu einer Vortragsveranstaltung mit Liedumrahmung zu werden.

Diese Entwicklungen haben bis heute ihre Spuren im Verständnis der Predigt im evangelischen Raum hinterlassen: Die Persönlichkeit des Predigers spielt dort bis heute eine besondere Rolle: Während in Gottesdienstankündigungen in Zeitungen römisch-katholische Gottesdienste in aller Regel ohne den Namen des Priesters bekanntgegeben werden, der den Gottesdienst leitet, ist dies bei evangelischen Gottesdiensten in aller Regel der Fall: Man möchte wissen, „wer predigt“ und „zu wem man hingeht“. Das sakramentale Verständnis der Predigt ist auch in der lutherischen Kirche oftmals abhanden gekommen.

In der jüngsten Zeit sieht sich die Predigt in der Kirche einer ganz neuen Herausforderung gegenüber: In einer immer stärker visuell ausgerichteten Welt wird es vor allem für jüngere Menschen immer schwieriger, einfach nur zuzuhören. Dies wirkt sich auch auf die Länge der Predigten aus: War eine Predigt von einer Stunde Länge in früheren Zeiten ganz normal, ertragen heute viele Predigthörer schon eine zwanzigminütige Predigt kaum noch, weil sie es einfach nicht gewohnt sind, solch eine „lange“ Zeit nur hörend zu verbringen. Die Gefahr ist dann groß, dass Prediger meinen, dieser Problematik dadurch begegnen zu können, dass sie ihre Predigt in einen Lehrvortrag umwandeln, bei dem dann diverse Möglichkeiten moderner Didaktik Verwendung finden können, dass sie versuchen, ihr „Publikum“ mit Gags oder Aktionen bei der Stange zu halten, oder gar auf die Form der Predigt als Zuspruch des Wortes Gottes ganz verzichten. Doch es bleibt dabei, was der Apostel Paulus schreibt: „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.“ (Römer 10,17)

Die Predigt ist, recht verstanden, nicht einfach bloß ein Vortrag, sondern sie ist „Kampfgeschehen“: Christus selber greift in der Predigt ein in den Kampf zwischen altem und neuem Menschen in einem jeden getauften Predigthörer, macht durch die Predigt des Gesetzes den alten Menschen zunichte und stärkt den neuen Menschen durch die „Gotteskraft“ (Römer 1,16; 1. Korinther 1,18) des Evangeliums. Dem sollte die Predigt auch in ihrer Gestalt Rechnung tragen.

Wenn der Prediger letztlich auch nichts anderes als bloß Mund Christi ist und es nicht darauf ankommt, ob er mit seiner Predigt die Gemeinde gut unterhalten und bei ihr Zustimmung gefunden hat, tut der Prediger doch gut daran, seine Predigt in einer Weise vorzubereiten und zu gestalten, die der Bedeutung dieses Gnadenmittels gerecht wird. Wie wir für die heiligen Gefäße zur Feier des Altarsakraments bewusst kostbare Materialien verwenden, soll und darf auch die äußere Form der Predigt Gefäß dessen sein, was durch die Predigt den Hörern in der Kraft des Geistes Gottes wirkmächtig mitgeteilt wird. Umgekehrt ist es für die Hörer wichtig, dass sie auch ihrerseits die Predigt als sakramentales Geschehen erkennen und sich beim Hören der Predigt nicht auf die Person des Predigers konzentrieren oder darauf warten, möglichst rhetorisch ansprechend unterhalten zu werden. Was der Apostel Paulus zu diesem Thema geschrieben hat, gilt bis heute: „Ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.“ (1. Korinther 2,3-5)

Die Predigt selber ist in unserem Gottesdienst von einer kurzen Liturgie umrahmt, die noch ein wenig an die Eigenständigkeit der Predigtliturgie in der Zeit vor der Reformation erinnert. Wenn der Prediger als Kanzelgruß einen apostolischen Gruß verwendet (1.Korinther 1,3; 2. Korinther 13,13), bringt er schon damit zum Ausdruck, dass er nun nicht seine Privatmeinung vorträgt, sondern als Gesandter Christi im Amt in der Nachfolge der Apostel auftritt: In seinem – menschlich gesprochen oft kümmerlichen – Wort ist Christus selber verborgen gegenwärtig. Die Gemeinde erhebt sich zu diesem Segensgruß auch dann, wenn anschließend keine weitere Predigtlesung erfolgt, weil der Prediger über die bereits zuvor verlesene Epistel oder das zuvor vorgetragene Evangelium predigt. Am Schluss der Predigt erhebt sich die Gemeinde dann erneut zum Empfang des Kanzelsegens, der ebenfalls von dem Apostel Paulus stammt (Philipper 4,7): Es ist der Friede Gottes, der der Gemeinde vor und nach der Predigt zugesprochen wird und der zugleich auch immer wieder der zentrale Inhalt der Predigt selber ist: das Heil und die Gemeinschaft mit Gott, die uns durch Christus geschenkt sind. Dass uns dieser Friede durch das Kreuz Christi zuteil geworden ist (vgl. Epheser 2,14-16), wird beim Kanzelgruß und beim Kanzelsegen zugleich auch durch das Segenszeichen des Kreuzes zum Ausdruck gebracht.