2. Die lutherische Kirche

Wer andere Kirchen verstehen, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Eigenarten erkennen will, muss zunächst einmal seine eigene Kirche kennen und wissen, wie sie sich selber versteht und worum es ihr selber geht. Von daher wollen wir in dieser Ausgabe der Glaubensinformationen zunächst einmal die lutherische Kirche betrachten.

Die lutherische Kirche ist nach ihrem Selbstverständnis keine Sonderkirche, die sich im 16. oder gar 19. Jahrhundert gegründet hat, und sie ist erst recht kein Martin-Luther-Verehrungsverein. Vielmehr erhebt sie den Anspruch, in der Kontinuität der katholischen und orthodoxen Kirche aller Zeiten, also der alle Länder und Zeiten umfassenden rechtgläubigen Kirche zu stehen. „Man kann erkennen, dass es in unserer Lehre nichts gibt, was von den Heiligen Schriften oder der katholischen Kirche oder der römischen Kirche abweicht“, so heißt es im Abschluss der Lehrartikel des Augsburger Bekenntnisses, einer Bekenntnisschrift der lutherischen Kirche. Es ist historisch und sachlich falsch, wenn behauptet wird, die lutherische Kirche habe sich von der katholischen oder auch nur von der römisch-katholischen Kirche „abgespalten“; Martin Luther ist auch nicht „aus der Kirche ausgetreten“. Dass es dennoch im 16. Jahrhundert zum kirchlichen Bruch und in der Folgezeit zur Entstehung von verschiedenen Konfessionskirchen gekommen ist, ist natürlich richtig, aber nicht weniger schmerzlich wie der Bruch zwischen West- und Ostkirche im Jahr 1054. Die Initiative zu dieser Trennung ging dabei nicht von denen aus, die man später einmal – ursprünglich als Schimpfwort gemeint – als „Lutheraner“ bezeichnete. Historisch gesehen steht die lutherische Kirche natürlich in der Tradition der Westkirche; doch haben sich die lutherischen Reformatoren bemerkenswerterweise auch in besonderer Weise um Verbindungen zu den orthodoxen Kirchen bemüht, weil sie sich auch ihnen in vielfältiger Weise verbunden wussten. Die Geschichte der Alten Kirche und der Kirche des Mittelalters ist also auch die Geschichte der lutherischen Kirche; umgekehrt ist nicht alles, was Martin Luther im Laufe seines Lebens von sich gegeben hat, gleich auch verbindliche Lehre der lutherischen Kirche; diese ist vielmehr in den lutherischen Bekenntnisschriften zusammengefasst.

Weil die lutherische Kirche in der Kontinuität der katholischen und orthodoxen Kirche aller Zeiten steht, teilt sie mit der gesamten Kirche auch die Lehrentscheidungen der alten Kirche, wie sie etwa im Glaubensbekenntnis von Nicäa und Konstantinopel, das in unseren Hauptgottesdiensten an jedem Sonntag bekannt wird, oder etwa auch in der Entscheidung des Konzils von Chalcedon mit seinem Bekenntnis zur wahren Gottheit und wahren Menschheit Jesu Christi dargestellt sind. Dass die lutherische Kirche in der Kontinuität der Kirche aller Zeiten steht, wird auch in ihren Gottesdiensten erkennbar, die bewusst auf das liturgische Erbe der Alten Kirche und des Mittelalters zurückgreifen.

Nicht alle Entwicklungen in der Kirche sind jedoch automatisch richtig und eine Wirkung des Heiligen Geistes. Darum bleibt für die lutherische Kirche die Heilige Schrift als Gottes Wort der entscheidende Maßstab, um zu beurteilen, ob Lehre und Praxis in ihr der Lehre und der Praxis der Einen heiligen katholischen und apostolischen Kirche entsprechen. Natürlich lesen wir die Heilige Schrift nicht als erste, sondern als Glieder der Kirche, die mit der Heiligen Schrift fast 2000 Jahre lang geistliche Erfahrungen gemacht hat. Aber wir trauen es der Heiligen Schrift als dem Wort Gottes zu, dass sie zugleich auch immer ein kritisches Gegenüber bleibt, das uns als einzelne und als Kirche immer wieder auch korrigiert und zur Umkehr ruft. Genau darum ging es damals in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit, und genau darum geht es der lutherischen Kirche bis heute: Allein die Heilige Schrift ist Richtschnur und Maßstab kirchlicher Lehre; sie richtet uns, und es ist auch nicht unsere Aufgabe, ihr gegenüber Richter zu spielen, indem wir entscheiden, was wir in ihr für Gottes Wort halten und was nicht, was uns einleuchtet und was uns nicht passt.

Wir verstehen die Heilige Schrift nur richtig, wenn wir sie als Christusbuch wahrnehmen: Alles, was wir in ihr lesen, ist auf Christus ausgerichtet: Die Heilige Schrift lässt uns zum einen Gottes Willen erkennen; sie deckt damit zugleich unsere Schuld auf und lässt uns erkennen, wie ganz und gar wir auf Gottes Erbarmen und Vergebung angewiesen sind, weil wir ohne seine Vergebung ewig verloren wären. Und sie zeigt uns zum anderen, wie Gott uns dieses Erbarmen und diese Vergebung schenkt – vor allem in der Sendung seines Sohnes Jesus Christus, durch seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung und durch sein fortwährendes Wirken in der Kirche. Gottes Wort informiert uns darüber nicht bloß, sondern Gott wirkt selber durch sein Wort in doppelter Weise, durch „Gesetz und Evangelium“, wie wir es zusammenfassend nennen, Umkehr und Glauben.

Was Christus für uns getan hat und was er uns schenkt, das reicht, um selig zu werden, um am Ende unseres Lebens in Gottes Gericht bestehen zu können. Christi Tun muss nicht durch unser Tun, durch unsere Entscheidung oder unsere guten Werke ergänzt werden. Unser Heil ist nicht das Ergebnis eines Zusammenwirkens zwischen Christus und uns, bei dem Christus gleichsam den ersten Teil vollbringt und wir den zweiten. Durch seinen Tod am Kreuz hat Christus tatsächlich die Schuld der ganzen Welt auf sich genommen und weggetragen. Genau dies wird jedem einzeln in der Heiligen Taufe zugeeignet: Der Täufling wird mit Christus verbunden, sodass Gott, wenn er auf den Getauften sieht, auf Christus sieht, der ihn umgibt wie ein Kleid. Darum erklärt er ihn für gerecht, für richtig in seinen Augen – und wirklich gerecht ist er damit auch, weil Gottes Wort Realität schafft. Das Wort der Absolution, der Vergebung, ist zugleich schon der Freispruch im letzten Gericht Gottes: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen.“ (Johannes 20,23) Und im Heiligen Abendmahl werden wir immer wieder neu leibhaftig mit Christus verbunden, wenn wir seinen Leib und sein Blut mit unserem Mund empfangen. Immer wieder geht es um die Gemeinschaft mit Christus, die uns durch das Wort und die Sakramente geschenkt wird: Zu dieser Heilswirklichkeit, die Gott selber durch Christus für uns und in uns schafft, brauchen wir nichts hinzuzufügen und können das auch gar nicht. Auch der Glaube ist keine Ergänzung des Heilswerks Christi, sondern ist selber seinem Wesen nach nichts Anderes als diese Gemeinschaft mit Christus, eine Wirklichkeit, die nicht an unserer Fähigkeit, etwas zu verstehen, hängt. Der Glaube wird durch Wort und Sakrament gewirkt, und er bezieht sich immer wieder auf diese Gaben des Heils. Er schaut ganz von sich selber weg hin auf Christus und erkennt staunend das Heil, das ihm schon zuteil geworden ist. Noch einmal anders ausgedrückt: Der Glaube ist die Art und Weise, in der Gottes Heil bei uns Menschen ankommt und bei uns eine neue Wirklichkeit setzt. Das meint die lutherische Formel „allein durch den Glauben“: Es gibt keine andere Art und Weise, in der wir das Heil empfangen können, als allein die Christusgemeinschaft, die uns geschenkt wird. All unser Verstehen, Annehmen und Handeln als Christen ist schon Folge dieses geschenkten Heils und keine Bedingung, das Heil zu erlangen oder in Gottes Gericht freigesprochen zu werden; es ist, biblisch gesprochen, „Frucht des Glaubens“. Dass wir allein durch den Glauben selig werden, stellt also die Aussage, dass wir allein aus Gnaden selig werden, nicht in Frage, sondern drückt dasselbe Geschehen nur noch einmal unter einem anderen Blickwinkel aus: Glauben heißt eben gerade: nicht selber etwas tun, sondern beschenkt werden, eben allein aus Gnaden. Denn Gott reagiert mit dem Geschenk seines Heils nicht auf irgendetwas an uns und in uns, was ihm besonders gefiele, sondern er schafft im Gegenteil durch die Verbindung mit Christus erst eine ganz neue Wirklichkeit, einen „neuen Menschen“, wie Paulus dies formuliert. Und diese neue Wirklichkeit bleibt natürlich nicht ohne Folgen: Das Leben eines Menschen, in dem Christus lebt, wird natürlich von Christus bestimmt werden. Doch was dieser Mensch dann tut, wird immer unvollkommen bleiben, weil es bis in den Tod immer auch den Kampf zwischen dem alten Menschen, der ohne Gott auskommen möchte, und dem neuen Menschen in jedem Christen gibt. Darum beruhen unser Heil und Gottes Freispruch nicht auf dem, was wir in der Kraft der Gnade Gottes getan haben, nicht auf unseren Fortschritten, die wir in der Kraft des Glaubens gemacht haben mögen, sondern allein auf dem, was Christus für uns getan und uns geschenkt hat. Darum allein dürfen wir als Christen unseres Heils gewiss sein – trotz allen Versagens, das uns immer wieder zum Empfang der Vergebung Gottes zurückkehren lässt.

Diese Heilsbotschaft der Heiligen Schrift, zusammengefasst unter dem Stichwort „Rechtfertigungsbotschaft“, die Gottes Heilshandeln zum Inhalt hat, stellt das Zentrum aller Verkündigung und allen Handelns in der lutherischen Kirche dar. Auf die Verkündigung und Austeilung dieses Heils zielt letztlich alles, was in ihr geschieht. Darum hat der Gottesdienst solch eine zentrale Stellung in der lutherischen Kirche, weil in ihm das Heil als Gemeinschaft mit Christus ausgeteilt und geschenkt wird. Und die Austeilung dieses Heils ist auch der zentrale Inhalt des einen von Christus gestifteten Amtes der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung in der lutherischen Kirche, des Hirtenamtes in der Nachfolge der Apostel.

„Evangelisch“ ist unsere Kirche darum, weil in ihr diese biblische Heilsbotschaft unverfälscht verkündigt wird. „Lutherisch“ nennt sie sich einzig und allein, um an die Wiederentdeckung dieses Evangeliums in der Kirche und die damit verbundene Erneuerung der Kirche zu erinnern, die nicht allein im 16. Jahrhundert stattgefunden hat, sondern die Christus seiner Kirche immer wieder schenken muss. Dass unsere Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) „selbständig“ ist, gehört nur insofern zum Wesen der lutherischen Kirche, als sie um die Unterscheidung der beiden Regierweisen Gottes weiß: Gott regiert in der Welt durch weltliche „Obrigkeit“ und durch Gesetze; in der Kirche herrscht er hingegen durch seine Vergebung. Die Kirche darf den Staat nicht mithilfe von dessen Machtmitteln zu ihrem Vorteil instrumentalisieren, und der Staat darf umgekehrt nicht in die Kirche hineinregieren. Eben dies war den Vätern und Müttern der freien lutherischen Kirchen im 19. Jahrhundert hier in Deutschland ein wichtiges Anliegen. Die Existenzform als selbständige „Minderheitskirche“ hat für unsere SELK heutzutage viele praktische Vorteile; sie fördert beispielsweise das Engagement der einzelnen Gemeindeglieder. Dennoch ist die „Überschaubarkeit ihrer Gemeinden“ und ihre „familiäre Struktur“ kein Wesensmerkmal der lutherischen Kirche. Dies besteht allein in dem, was sie verkündigt und was in ihren Gottesdiensten ausgeteilt wird.