Drucken

11. Die gottesdienstlichen Lesungen

11. Die gottesdienstlichen Lesungen
Auf das Kollektengebet, das den Eingangsteil des Gottesdienstes beschließt, folgt nun der zweite Teil des Gottesdienstes, der „Wort-Teil“.Lesungen aus der Heiligen Schrift gehören von Anfang an zum christlichen Gottesdienst dazu; die Kirche hat diese Praxis aus dem Gottesdienst der Synagoge übernommen, in der die Lesungen aus der Heiligen Schrift ebenfalls eine zentrale Rolle einnehmen. So berichtet das Neue Testament selber, wie Jesus am Sabbat als Lektor in der Synagoge tätig war und dort einen Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja vortrug (St. Lukas 4,16-21); entsprechend wird in Apostelgeschichte 13,15 geschildert, wie im Gottesdienst in der Synagoge in Antiochien das Gesetz, also ein Abschnitt aus den Fünf Büchern Mose, und die Propheten gelesen wurden. Auch im christlichen Gottesdienst wurde zunächst „nur“ aus dem Alten Testament gelesen, denn das Neue Testament lag ja noch nicht als fertige Sammlung schriftlich vor; das Alte Testament war also für die ersten Christen „die Schrift“. In den Lesungen aus „der Schrift“ vollzog sich dabei jedoch eine deutliche Akzentverschiebung: Während im jüdischen Synagogengottesdienst die Lesung des Gesetzes, der Tora, also der Fünf Bücher Mose, das Zentrum darstellt und die Propheten gleichsam als Ausleger der Tora gehört werden, hört die christliche Gemeinde das Alte Testament als Buch von Christus. Von daher erhalten die Lesungen der Propheten ein sehr viel stärkeres Gewicht; sie werden als Christuspredigt verstanden (vgl. Apostelgeschichte 13,27 sowie Apostelgeschichte 17,11 und St. Johannes 5,39). Neben den Lesungen aus dem Alten Testament wurden dann aber auch bald die Briefe der Apostel im Gottesdienst vorgetragen; sie waren ja von Anfang an zur gottesdienstlichen Verlesung bestimmt (vgl. Kolosser 4,16). Das Gleiche gilt dann auch für die Evangelien, die ebenfalls von Anfang an als gottesdienstliche Texte konzipiert waren. Es dauerte dann allerdings eine Zeit, bis Abschriften der Apostelbriefe und Evangelien in den Gemeinden allgemein zur Verfügung standen. Ab der Mitte des 2. Jahrhunderts ist dann in den christlichen Gottesdiensten zumindest eine dreifache Schriftlesung (Altes Testament [zumeist Propheten] – Epistel – Evangelium), des Öfteren auch eine vierfache Schriftlesung (Tora – Propheten – Epistel – Evangelium) die Regel. Zu den Episteln zählten dabei auch die Apostelgeschichte und die Johannesoffenbarung. Im Laufe der Zeit wurde die Lesung der alttestamentlichen Abschnitte immer weiter eingeschränkt; bereits ab dem 4. Jahrhundert umfasste der Begriff „Epistel“ auch schon die Lesungen des Alten Testaments. Schließlich blieben nur noch zwei „klassische“ alttestamentliche Lesungen im Verlauf des Kirchenjahres als Episteln übrig: Jesaja 60 zu Epiphanias und Jesaja 53 am Karfreitag. Die Zweizahl der Lesungen im Gottesdienst war bis ins 18. Jahrhundert üblich; dann kürzte man, um den Bedürfnissen des modernen Menschen nach kürzeren Gottesdiensten entgegenzukommen, die zwei Lesungen zu einer zusammen, die dann zugleich auch als Predigtlesung verwendet wurde. Erst Ende des 19. Jahrhunderts begann man in der evangelischen Kirche mit der Wiedereinführung von Epistel und Evangelium. Nach den Erfahrungen des Dritten Reiches, in dem das Alte Testament als „jüdische Bibel“ auch in kirchlichen Kreisen in Verruf geraten war, hat man in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung der alttestamentlichen Lesungen im Gottesdienst wieder neu entdeckt und wahrgenommen, wie tief die neutestamentlichen Lesungen im Alten Testament gründen. Darum sind in unserer Agende auch wieder drei Lesungen im Gottesdienst vorgesehen; alle drei Lesungen (Lesung aus dem Alten Testament – Epistel – Evangelium) sind auch in unserem Gesangbuch abgedruckt. Leider wird allerdings auch heute aus Zeitgründen zumeist entweder nur die Epistel oder nur die alttestamentliche Lesung im Gottesdienst vorgetragen; das Evangelium lässt sich ohnehin durch keine andere Lesung ersetzen.Die gottesdienstlichen Lesungen dienen nicht bloß der „Information“ der Gemeinde, der im Gottesdienst ein „Text“ vorgelesen wird. Sondern in den Worten der Lesungen spricht Gott selber zur Gemeinde, ist der auferstandene Christus selber gegenwärtig. Darum haben die Schriftlesungen im Gottesdienst in ihrer eigentlichen Bedeutung geradezu etwas „Dramatisches“ an sich; in vielen Kirchen geht der Schriftlesung selber eine Prozession voraus, die das Kommen des Wortes Gottes in die Welt für die Gemeinde auch sichtbar zum Ausdruck bringen. Das lebendige Wort Gottes hören wir in den Lesungen; darum kann es beim Vortrag der Lesungen nicht darum gehen, dass der Lektor, der Vorlesende, versucht, durch seinen Vortragsstil dem „toten Buchstaben“ des Textes eine persönliche Note zu geben und ihm damit Leben einzuhauchen. Um dieser Gefahr zu wehren, wurden in der Kirche über lange Zeit zumindest an Festtagen die Lesungen in den sogenannten Lektionstönen gesungen. Heute kennen wir dies noch aus der Heiligen Osternacht, wo die Epistel und das Evangelium in diesen Lektionstönen vorgetragen werden. Martin Luther selber hielt es jedoch für wünschenswert, die Lesungen grundsätzlich im Gottesdienst in diesen Lektionstönen vorzutragen, auf deren Ausarbeitung er viel Sorgfalt verwendet hat. Damit kam nach seinem Verständnis das sakramentale Verständnis der Lesungen – entsprechend den gleichfalls gesungenen Einsetzungsworten bei der Konsekration des Heiligen Mahles – in besonderer Weise zum Ausdruck. Auch in unserem heutigen Lektionar, dem Buch mit den Lesungen aller Sonntage des Kirchenjahrs, ist der Vortrag der Lesungen im Lektionston als eine Möglichkeit vorgesehen.

Die Reihenfolge der Lesungen steht aus sachlichen Gründen fest: Als erste Lesung erfolgt, wenn alle drei Lesungen vorgetragen werden, stets die Lesung aus dem Alten Testament: Gottes Reden und Handeln im Alten Testament geht der Erfüllung in Christus zeitlich und sachlich voraus. Im Hören auf die Worte des Alten Testaments lassen wir uns dabei leiten von den Worten des 2. Petrusbriefs: „Um so fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, das ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen. Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet.“ (2. Petrus 1,19-21) Darauf folgt die Epistel, wenn diese nicht ohnehin als erste Lesung vorgetragen wird. Für das Hören auf sie gilt, was der Apostel Paulus schreibt: „Darum danken wir auch Gott ohne Unterlass dafür, dass ihr das Wort der göttlichen Predigt, das ihr von uns empfangen habt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort, das in euch wirkt, die ihr glaubt.“ (1. Thessalonicher 2,13) Die Epistel geht wiederum stets dem Evangelium voraus, zum einen, weil zumindest die Briefe des Apostels Paulus früher geschrieben wurden als die Evangelien, zum anderen aber und vor allem, weil nach dem Gesetz der Steigerung das Evangelium als Höhepunkt als letzte der drei Lesungen erscheint. Gewiss sind die Lesung aus dem Alten Testament, die Epistel und das Evangelium als das Wort Gottes alle miteinander gleichwertig; aber sie sind nicht in allem gleichartig. Im Evangelium kommt der Mensch gewordene Gottessohn Jesus Christus unmittelbar zur Sprache; Seine Worte und Taten werden uns geschildert; Er ist es, der auch über einen Zeitraum von fast 2000 Jahren im Evangelium unmittelbar zu uns spricht. Darum begrüßen wir Ihn, den in Seinem Wort gegenwärtigen Herrn, auch nach der Ankündigung des Heiligen Evangeliums mit den Worten „Ehre sei dir, Herre“ und antworten auf das Heilige Evangelium mit den Worten „Lob sei dir, o Christe“. In der alten römischen Liturgie war es üblich, dass der Priester nach diesen Worten das Evangelienbuch küsste und die Worte sprach: „Per evangelica dicta deleantur nostra delicta“ – „Durch die jetzt gesprochenen Worte des Evangeliums mögen unsere Verfehlungen getilgt werden.“ In diesen Worten kam in sehr schöner Weise zum Ausdruck, dass die Lesung des Evangeliums ein sakramentales Geschehen darstellt, durch das ganz real etwas geschieht. Es versteht sich von selbst, dass die Gemeinde sich zur Verlesung des Heiligen Evangeliums erhebt und auf diese Weise ihrem Herrn, der nun zu ihr spricht, ihren Respekt bekundet. Dagegen ist in unserer Kirchenagende vorgesehen, dass sich die Gemeinde zur Lesung der Epistel setzt. Sicher ist es auch angemessen, auch die Worte der Epistel, wie alle Worte der Heiligen Schrift, als Zeichen des Respekts im Stehen zu vernehmen. Umgekehrt ist das Sitzen im Gottesdienst aber auch kein Ausdruck von Bequemlichkeit oder Respektlosigkeit, sondern die Haltung aufmerksamen Zuhörens. Darum setzt sich die Gemeinde in aller Regel ja auch zur Predigt, obwohl ja auch in der Predigt der lebendige Christus selber durch seinen Boten zur Gemeinde spricht. Da es Kirchenbänke überhaupt erst seit wenigen hundert Jahren in der westlichen Christenheit gibt – in den orthodoxen Kirchen des Ostens sind sie ja bis heute unbekannt – , kann man hier auch nicht auf irgendwelche altkirchlichen Praktiken zurückverweisen. Der besonderen Position des Heiligen Evangeliums als Höhepunkt des Wortgottesdienstes, in dem die Fleischwerdung des Wortes Gottes der Gemeinde ganz besonders vor Augen gestellt werden soll, entspricht es aber durchaus, wenn auch durch das Aufstehen zur Evangelienlesung im Unterschied zur Epistel das Heilige Evangelium noch einmal besonders hervorgehoben wird, ohne dass die Epistel damit etwa zurückgesetzt oder entwertet werden soll. Nach altkirchlicher Sitte wird die Epistel im Gottesdienst jeweils von der Gemeinde aus gesehen von der rechten Seite und das Evangelium von der linken Seite aus verlesen. Üblicherweise sind Kirchgebäude ja „geostet“, also nach Osten ausgerichtet, in Richtung der aufgehenden Sonne als Symbol des wiederkommenden Christus. Auf ihn zu feiert die Gemeinde ihren Gottesdienst. Entsprechend steht der Ambo, von dem die Epistel gelesen wird, im Süden, während das Evangelium vom Norden aus gelesen wird. Der Norden ist das Symbol für die Dunkelheit, da aus dieser Himmelsrichtung die Sonne niemals scheint. Entsprechend zeichnet der Weg vom Epistelpult zur Evangelienlesung den Weg der Frohen Botschaft von Christus in die Finsternis dieser Welt nach: „Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“ (St. Johannes 1,5) Einen ähnlichen Sinn hat auch die Prozession mit dem Evangelienbuch in die Mitte des Gotteshauses, von wo aus das Evangelium dann vorgetragen wird. Diese Prozession, die es in ähnlicher Form auch in der orthodoxen Kirche gibt, ist in vielen lutherischen Gemeinden in den USA üblich oder beispielsweise auch in unserer Schwestergemeinde in Riga. Mit ihr wird ganz sinnenfällig zum Ausdruck gebracht, was St. Johannes verkündigt: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ (St. Johannes 1,14)