9. - Artikel 8: Über die Wirklichkeit der Kirche
Obwohl die Kirche eigentlich die Versammlung der Heiligen und wahrhaft Glaubenden ist, so darf man doch, da in diesem Leben viele Heuchler und Schlechte darunter gemischt sind, die Sakramente gebrauchen, auch wenn sie von Schlechten verwaltet werden, nach dem Worte Christi: „Es sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer auf dem Stuhle Moses usw.“ Die Sakramente und das Wort sind wirksam wegen der Anordnung und des Befehls Christi, auch wenn sie durch Schlechte gespendet werden.
Sie verurteilen die Donatisten und ihresgleichen, welche sagten, man dürfe in der Kirche den Dienst der Schlechten nicht hinnehmen, und meinten, der Dienst der Schlechten sei unnütz und wirkungslos.
Kurz bevor im Jahr 313 der christliche Glaube von Kaiser Konstantin zu einer erlaubten Religion erklärt wurde, hatte es unter seinem Vorgänger Diokletian noch einmal eine ganz heftige Christenverfolgung gegeben. Sie war so brutal gewesen, dass nicht wenige Christen, ja auch Priester, zeitweilig ihren Glauben widerrufen oder zumindest heilige Schriften oder heilige Geräte den Schergen des Kaisers ausgeliefert hatten. Als die Verfolgungszeit nun vorbei war, stellte sich der Kirche die dringende Frage, wie mit denen umzugehen sei, die während der Verfolgung vom Glauben abgefallen (lapsi) waren oder die heiligen Gegenstände herausgerückt hatten (traditores), nun aber in die Kirche zurückkehren wollten. Dabei ging es vor allem um diejenigen, die selber ein kirchliches Amt versehen hatten und nun wieder nach ihrer Rückkehr dieses Amt in der Kirche versehen wollte. Der Streit entbrannte im Winter 312/313 in Karthago: Eine Gruppe erkannte den neugeweihten Bischof Caecilianus nicht an, weil unter denen, die ihn zum Bischof geweiht hatten, angeblich auch ein „traditor“ gewesen sei. Gegenspieler Caecilians war ein gewisser Donatus, der vierzig Jahre lang die später nach ihm benannten „Donatisten“ anführte, die sich von der Kirche getrennt hatten und behaupteten, ein Priester, der sich schwerer persönlicher Verfehlungen schuldig gemacht habe, könne die Sakramente nicht gültig spenden.
Bereits im 4. Jahrhundert wurde diese Irrlehre der Donatisten verworfen. Das Augsburger Bekenntnis stellt sich hier ganz bewusst in die kirchliche Tradition und macht zugleich deutlich, warum es falsch und gefährlich wäre, die Gültigkeit der Sakramente von der Würdigkeit des Spenders abhängig zu machen:
Der Glaube des Christen braucht etwas ganz Festes, an das er sich halten, an dem er hängen kann. Dieses Feste, das den Glauben schafft und an dem der Glaube hängen kann, sind die Sakramente und das Wort Gottes. Wenn nun die Gültigkeit und Wirksamkeit der Sakramente von der Würdigkeit dessen abhinge, der sie verwaltet, könnte der Glaube ja nie gewiss sein, ob er ein gültiges Sakrament empfängt. Wer weiß, was für ein würdiges oder unwürdiges Leben derjenige, der die Sakramente verwaltet, in Wirklichkeit führen mag! Nein, gültig und wirksam sind die Sakramente einzig und allein, wenn und weil sie gemäß der Anordnung und Stiftung Christi gespendet werden. Das reicht – und das muss reichen, um der Glaubensgewissheit der Empfangenden willen!
Auch wenn es die altkirchlichen Donatisten heute nicht mehr gibt, ist donatistisches Gedankengut auch heute noch weit verbreitet:
Dies geht schon damit los, dass es nicht wenige christliche Gruppen gibt, die versuchen, eine wirklich „reine Kirche“ zu schaffen, zu der nur diejenigen gehören, die auch tatsächlich „mit Ernst Christen sind“. Und so zieht man sich naserümpfend aus der größeren Gemeinschaft der Kirche zurück in kleine, fromme Zirkel, in der die Schar der wahrhaft Glaubenden sichtbar und auch leicht überschaubar ist und in der man mit den „Heuchlern“ in den großen Gemeinden nichts mehr zu schaffen hat. Es ist faszinierend, wie immer wieder sehr fromm erscheinende Gruppierungen diesem Irrtum verfallen, wo Jesus in seinem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Matthäus 13,24-30) doch schon so eindringlich davor gewarnt hatte, vor dem Tag des Jüngsten Gerichts die Scheidung zwischen wahrhaft Glaubenden und Heuchlern erkennbar machen und eben damit eine reine Kirche schaffen zu wollen. Unmöglich ist der Vollzug dieser Scheidung, weil diese Scheidung doch letztlich durch jeden einzelnen Christen hindurchgeht, der, solange er lebt, immer Sünder und Gerechter zugleich ist. Auch eine scheinbar reine Gemeinde kann die Sünde eben nicht draußen vor der Tür lassen – im Gegenteil: In einer Gemeinde, die sich besonders rein vorkommt, besteht die besondere Gefahr, dass Christen sich in ihr sehr viel mehr wie der Pharisäer statt wie der Zöllner in Jesu Gleichnis in Lukas 18,9-14 verhalten. Die Unmöglichkeit dieser Scheidung zwischen wahrhaft Glaubenden und Heuchlern beschränkt sich dabei, so betont es das Augsburger Bekenntnis ausdrücklich, auf „dieses Leben“. Christus wird diese Scheidung am Ende sehr wohl zu vollziehen vermögen. Die Zugehörigkeit zu einer Institution namens Kirche allein vermag am Ende in Gottes letztem Gericht nicht zu retten. Rettung verheißt allein der Glaube, die Gemeinschaft mit Christus, die allerdings wiederum durch die Sakramente und die Verkündigung des Evangeliums vermittelt wird. Entsprechend ist und bleibt die Kirche die Versammlung der Heiligen und wahrhaft Glaubenden, weil sie dort erkennbar wird, wo Christen sich um Christus und seine Gaben sammeln.
Der Fokus des 8. Artikels des Augsburger Bekenntnisses liegt nun jedoch nicht darauf, dass es in einer christlichen Gemeinde immer auch nicht wenige „Namenschristen“ gibt, die in Wirklichkeit gar nicht mehr an Jesus Christus glauben. Das ist allemal traurig genug. Sondern der Fokus liegt, wie schon bei den donatistischen Streitigkeiten in der Alten Kirche, auf den Spendern der Sakramente, auf den Pfarrern: Darf ich von einem Pfarrer das Sakrament empfangen, der mir ein zweifelhaftes moralisches Leben zu führen scheint oder der sich nach meiner Einschätzung immer wieder wenig christlich benimmt?
Ja, ich darf es, sagt das Augsburger Bekenntnis, und darf dabei ganz von der Würdigkeit des Spenders wegblicken. Auf die kommt es nicht an. Entscheidend ist einzig und allein, dass die Sakramente nach der Ordnung und Einsetzung Christi verwaltet werden, dass das Wort Gottes so gepredigt wird, wie es der Heiligen Schrift entspricht. Ein Pfarrer kann weder durch seine Ausstrahlung der Wirksamkeit der Gnadenmittel etwas hinzufügen, noch kann er die Wirksamkeit der Gnadenmittel durch sein anstößiges Verhalten mindern.
Das ist gleichermaßen ein Trost für den Pfarrer, der um seine eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten weiß: Was er austeilt, ist in seiner Gültigkeit und Wirksamkeit nicht von seiner eigenen Vollkommenheit abhängig. Und es ist ein Trost für die Gemeindeglieder: Sie dürfen gewiss sein, dass die Gnadenmittel bewirken, was sie sagen, weil allein die Anordnung und der Befehl Christi ihre Gültigkeit und Wirksamkeit gewährleisten. Von daher kann ich auch die Glieder unserer Gemeinde nur ermutigen, die Sakramente in unserer Gemeinde zu empfangen, auch wenn sie sich von dem, der sie austeilt, vielleicht eher abgestoßen fühlen.
Die Aussagen des 8. Artikels des Augsburger Bekenntnisses sind kein Freibrief für Pfarrer, dass sie sich persönlich verhalten können, wie sie wollen, da dies ja der Objektivität der Gabe des Sakraments keinen Abbruch tut. Dass auch Pfarrer Menschen ein gewaltiges Ärgernis sein und bereiten können, bedenkt Christus auch im Evangelium und spricht besonders den Fall an, dass jemand den „Kleinen“ ein Ärgernis bereitet: „für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.“ (Matthäus 18,6) Der Pfarrer predigt natürlich auch mit seinem Lebenswandel – aber er predigt dabei natürlich zuerst und vor allem dadurch, dass er zeigt, wie er selber immer wieder umkehrt und aus der Vergebung lebt.
Die Aussagen des 8. Artikels des Augsburger Bekenntnisses warnen umgekehrt jedoch sehr wohl davor, dass Gemeindeglieder ihren Glauben statt an die Zusage Gottes in den Gnadenmitteln an einen Pfarrer hängen, den sie vielleicht besonders mögen, und ihm zutrauen, er könne über die Wirksamkeit der Gnadenmittel hinaus Menschen zum Glauben zu bringen. Pfarrer vermögen Menschen ein Ärgernis bereiten und ihnen damit den Weg zu Christus verstellen; den Glauben in einem Menschen hervorzurufen vermögen sie dagegen nicht. Von daher ist es durchaus auch als problematisch anzusehen, wenn in den Ankündigungen evangelischer Gottesdienste regelmäßig der Name des Predigers extra erwähnt wird und die Leser dadurch nur allzu leicht dazu verführt werden, ihre Entscheidung zur Teilnahme am Gottesdienst von der Persönlichkeit des jeweiligen Predigers oder seinen Predigtkünsten abhängig zu machen.
Ist es nach dem, was das Augsburger Bekenntnis hier sagt, also grundsätzlich egal, in welche Kirche und zu welchem Pfarrer ich in den Gottesdienst gehe? Problematisch ist es schon, wenn ich zu einer Kirche gehöre, bei der ich meine Entscheidung zur Teilnahme am Gottesdienst deshalb von einem Pfarrer abhängig machen muss, weil ich befürchten muss, dass bei anderen Pfarrern derselben Kirche oder gar Gemeinde die Orientierung an der Anordnung und dem Befehl Christi nicht gewährleistet ist. Dies entspricht gewiss nicht der „Einmütigkeit“ der Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung, von der der 7. Artikel des Augsburger Bekenntnisses zuvor als Kennzeichen der wahren Kirche zu berichten wusste.
Wo aber die Anordnung und der Befehl Christi in der Verkündigung des Evangeliums und in der Verwaltung der Sakramente verletzt werden, da sollen wir in der Tat fernbleiben, weil damit in der Tat Gültigkeit und Wirksamkeit der Sakramente in Frage gestellt werden und weil es dann entsprechend auch ein „anderes Evangelium“ (vgl. Galater 1,8+9) wäre, was uns verkündigt wird. Anordnung und Befehl Christi werden beispielsweise verletzt, wenn man bei einer Taufe die Worte der Taufformel durch selbstgebastelte Kreationen ersetzt oder an die Stelle des fließenden Wassers ein feuchter Finger des Pfarrers tritt. Anordnung und Befehl Christi werden auch dort verletzt, wo bei der Feier des Heiligen Mahles die Abendmahlselemente des ersten Abendmahls Christi durch andere ersetzt werden oder wo aus dem Mahl des Leibes und Blutes Christi ein nettes Erinnerungs- oder Gemeinschaftsmahl gemacht wird.
Anordnung (lateinisch: ordinatio) und Befehl Christi werden aber auch dort verletzt, wo man glaubt, ohne die ordinatio Christi, ohne die Ordination, die Feier des Heiligen Mahls leiten zu können.
In all diesen Fällen geht es nicht bloß um die persönliche Schuld dessen, der das Sakrament austeilt und von der wir als Empfangende wegschauen sollen und dürfen. Sondern es geht um das, was das Sakrament zum Sakrament macht: um Christi Befehl, dem wir zu folgen haben. Dabei entscheidet dann auch in der Tat nicht die Mehrheit über die Wahrheit. Da kann es dann sehr wohl sein, dass man angefeindet wird, nur weil man sich nicht am kirchlichen „Mainstream“ beteiligt, sondern um der Anordnung und des Befehls Christi willen eine Kirche verlassen muss, deren Verkündigung und Praxis der Sakramentsverwaltung man nicht länger mitzutragen vermag. Dabei geht es dann nicht um die „reine Kirche“, wohl aber um das reine Evangelium. Und eben daran darf es niemals einen Abstrich geben. Und wie gut, wenn diejenigen, die uns das Evangelium rein und unverfälscht verkündigen und die Sakramente nach der Stiftung Christi verwalten, dann auch mit ihrem Leben bezeugen, was sie verkündigen und austeilen! Genau so stellt sich auch der 8. Artikel des Augsburger Bekenntnisses Kirche vor, auch wenn er darum weiß, dass ihr Erscheinungsbild nicht immer so eindeutig ist. Doch Hauptsache, dies eine bleibt klar: Es geht nicht um den Pastor; es geht um Wort und Sakrament!