7. - Artikel 6: Vom neuen Gehorsam

Auch wird gelehrt, dass dieser Glaube gute Früchte und gute Werke hervorbringen soll und dass man viele gute Werke tun muss, die Gott geboten hat, weil er es will. Doch darf man nicht darauf vertrauen, dass man durch sie Gnade vor Gott verdienen kann. Denn Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit empfangen wir durch den Glauben an Christus – wie er selbst spricht: „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sagt: Wir sind unwürdige Knechte“ (Lukas 17,10). So lehren auch die Kirchenväter, wie zum Beispiel Ambrosius: „So ist es bei Gott beschlossen, dass der gerettet wird, der an Christus glaubt, und dass er nicht durch Werke, sondern allein durch den Glauben ohne eigenes Verdienst Vergebung der Sünden hat.“

Ein immer wiederkehrender Vorwurf gegen die Lehre des lutherischen Bekenntnisses, dass wir vor Gott gerecht werden „aus Gnade um Christi willen durch den Glauben“, besteht darin, dass diese Lehre die Menschen „faul“ macht, sie ethisch verkommen lässt und sie geradezu davon abhält, gute Werke zu tun – wenn die doch zum Erlangen der Seligkeit gar nicht nötig sind.

Mit eben diesem Einwand setzt sich Melanchthon im sechsten Artikel des Augsburger Bekenntnisses auseinander – und macht dabei zugleich deutlich, dass das Leben des Christen und seine Werke durchaus Gegenstand lutherischer Verkündigung ist: Eindrücklich betont er die Notwendigkeit guter Werke für das Leben des Christen, indem er gleich zweimal davon spricht, dass der Glaube gute Werke hervorbringen soll und dass man gute Werke tun muss. Der Zusammenhang macht jedoch umgehend deutlich, was mit diesem „soll“ und „muss“ gemeint ist: Der Christ tut gute Werke nicht, weil er von Gott unter Druck gesetzt oder gezwungen wird – oder gar aus Angst, vielleicht nicht genügend gute Werke im letzten Gericht Gottes vorweisen zu können. Sondern die guten Werke sind „gute Früchte“, wie Melanchthon mit Bezug auf den Sprachgebrauch des Neuen Testaments (z.B. Matthäus 7,16+17; 12,33; Lukas 13,6-9; Johannes 15,1-5; Römer 6,21+22; Galater 5,22) formuliert: Sie wachsen gleichsam von selbst, wenn denn der Baum oder der Weinstock, der sie hervorbringt, gut ist: Ein guter Baum kann gar nicht anders, als gute Früchte hervorzubringen. Er „muss“ sie gleichsam hervorbringen, weil dies seinem Wesen als guter Baum entspricht.

Wenn man also will, dass ein Mensch gute Werke vollbringt, dann erreicht man dies gerade nicht dadurch, dass man alle möglichen Forderungen an ihn richtet und ihm damit droht, was passiert, wenn er diese Forderungen nicht erfüllt. Sondern man leitet einen Menschen gerade dadurch zum Tun guter Werke an, dass man seinen Glauben an Christus weckt und stärkt durch die frohe Botschaft des Evangeliums. Denn der Glaube, der durch diese frohe Botschaft geweckt wird, verändert den Menschen und macht ihn dazu bereit und fähig, die Werke zu tun, „die Gott geboten hat, weil er es will.“ Glaube ist eben nicht ein bloßes „Fürwahrhalten“ von lehrmäßigen Richtigkeiten, sondern der Glaube ist Gabe und Wirkung des Heiligen Geistes, Vertrauen auf Gott und seine Versprechen in seinem Wort, Gemeinschaft mit Christus, die den Menschen nicht unverändert lässt.

Um es in einer anderen Sprachgestalt zu formulieren: Wenn Eltern ihre Kinder dazu anleiten wollen, so zu leben, wie es dem Willen der Eltern entspricht, dann tun sie gut daran, den Kindern nicht einfach Befehle zu erteilen, was sie zu tun haben. Sondern sie tun gut daran, ihre Kinder erst einmal ihre bedingungslose Liebe erfahren zu lassen: Unsere Liebe zu euch ist nicht abhängig von eurem Verhalten. Wenn Kinder erfahren, dass sie so bedingungslos von ihren Eltern geliebt sind, wird sie das prägen – und sie werden dann auch umgekehrt so leben wollen, wie es den Eltern gefällt, gerade weil sie es nicht aus Angst und Zwang tun müssen. Ein Kind, das reichlich Liebe in seinem Leben erfahren und empfangen hat, kann als „guter Baum“ auch selber wieder Liebe weitergeben. Eben darum geht es auch in unserem Verhältnis zu Gott: Weil wir wissen und erfahren, dass wir von Gott bedingungslos geliebt sind, dass unsere Annahme bei ihm nicht von dem abhängt, was wir zu leisten vermögen, dass sie nicht nur dann erfolgt, wenn wir nicht versagt haben, können wir nun auch so leben, wie es Gott gefällt. Gottes Liebe hat eine umwandelnde Kraft, die uns in der Tat zu neuen Menschen zu machen vermag. Diese Liebe ist aber nicht ein unbestimmtes Gefühl, sondern sie hat die konkrete Gestalt des Zuspruchs seiner Vergebung in den Gnadenmitteln, von denen im 5. Artikel des Augsburger Bekenntnisses die Rede war. Und Glaube ist eben nichts Anderes als der Empfang dieser Liebe, die uns durch das Wort Gottes zugewandt wird.

Alles aber hängt daran, dass unsere Annahme bei Gott eben nicht von unserem Tun und Handeln abhängig ist, sondern ihm vorausgeht. Sobald die guten Werke nicht mehr „Frucht“, sondern „Bedingung“ sind, verändern sie ihren Charakter völlig: Denn dann geht es sofort um die Frage nach der ausreichenden Menge der guten Werke, ob man denn genug getan hat oder nicht. Der Blick wird nicht mehr auf Christus allein gelenkt, sondern auf die eigene Befindlichkeit und das eigene Tun. Eben darum betont Melanchthon hier so eindringlich, dass man nicht darauf vertrauen darf, dass man durch sie Gnade vor Gott verdienen kann. Gute Werke sind in Bezug auf Gott „zweckfrei“; sie geschehen einfach aus dem Glauben, aus Liebe zu Gott, der sie nun einmal will.

Die Aussagen des sechsten Artikels des Augsburger Bekenntnisses richten sich nicht allein gegen theologische Positionen der damaligen Zeit, die behaupteten, der Mensch könne oder müsse sich gar mit guten Werken das Heil bei Gott „verdienen“. Sie richten sich auch gegen einen heute weit verbreiteten leicht christlich überzuckerten Moralismus: „Ich bin doch ein anständiger Mensch, ich habe niemals etwas mit der Polizei zu tun gehabt, bin immer freundlich und hilfsbereit gewesen. Deshalb muss mich der liebe Gott doch am Ende in den Himmel lassen.“ Hier finden wir in nur leicht veränderter Form das Vertrauen auf die eigenen guten Werke wieder, gegen das sich das Augsburger Bekenntnis so leidenschaftlich wendet, weil es letztlich Christus und sein Werk ausklammert und aus dem Blick geraten lässt: Christus hat dann nur noch die Funktion eines Morallehrers, der uns mit seinem Vorbild gesellschaftlich akzeptables Verhalten beibringt.

Besonderer Beachtung bedarf hier im sechsten Artikel des Augsburger Bekenntnisses noch die Formulierung von den guten Werken, „die Gott geboten hat“. Mit diesen Worten wendet sich Melanchthon dagegen, bestimmte Frömmigkeitspraktiken als „gute Werke“ anzusehen, die im Wort der Heiligen Schrift selber keine Begründung haben, wie etwa das Beten des Rosenkranzes, das Leben als Mönch oder Wallfahrten zu besonderen Orten. Dagegen verweist Melanchthon gemeinsam mit Luther den Christen für das Tun guter Werke in seinen ganz normalen Alltag in Beruf und Familie: Hier soll der Christ seinen Glauben bewähren; hier tut er die Werke, die Gott in seinen Geboten von ihm verlangt. Und mit dem Leben als Christ in Familie und Beruf, eben in seinem ganz normalen Alltag hat ein Christ schon sein Leben lang genug zu tun.

Schon bei der Erstellung der Endfassung des Augsburger Bekenntnisses hat Melanchthon offenkundig gemerkt, dass er das Thema „Glauben und gute Werke“ in diesem sechsten Artikel nur sehr kurz angesprochen hatte. Da es sich hier aber um ein zentrales Thema im Konflikt mit den Gegnern der Reformation handelte, hat er eben dieses Thema noch einmal sehr ausführlich im 20. Artikel des Augsburger Bekenntnisses behandelt. Daraus seien in dieser Glaubensinformation nun noch auszugsweise ein paar wichtige Aussagen zitiert:
Den Unseren wird zu Unrecht nachgesagt, dass sie gute Werke verbieten. Ihre Schriften über die Zehn Gebote und über andere Themen beweisen, dass sie von rechter christlicher Lebensführung und guten Werken hilfreich geredet und dazu ermahnt haben.

Gegen die Auffassung, dass man Menschen letztlich nur mit Druck und mit der Angst vor Strafe im Jüngsten Gericht dazu bewegen kann, gute Werke zu tun, betont Melanchthon, dass gerade die umwandelnde Kraft des Evangeliums Menschen tun lässt, wozu sie auch und gerade durch Druck und Zwang nicht zu bewegen wären. Die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders nach dem lutherischen Bekenntnis blockiert nicht das Tun guter Werke, sondern ermöglicht es geradezu erst.

Ferner wird gelehrt, dass gute Werke getan werden sollen und müssen, aber nicht so, dass man darauf vertraut, durch sie Gnade zu verdienen, sondern dass man sie um Gottes willen und zu Gottes Lob tut. Der Glaube ergreift immer nur die Gnade und die Vergebung der Sünden; und weil durch den Glauben der Heilige Geist gegeben wird, darum wird auch das Herz befähigt, gute Werke zu tun. Denn solange das Herz ohne den Heiligen Geist ist, ist es noch zu schwach und befindet sich in der Gewalt des Teufels.

Hier spricht Melanchthon nun noch einmal direkt aus, was er im sechsten Artikel nur angedeutet hat: Die umwandelnde Kraft der Liebe Gottes ist der Heilige Geist selber, der Menschen, die von Natur aus unfähig zu wirklich guten Werken ist, dazu bewegt, an Christus zu glauben und aus diesem Glauben heraus anders, alternativ zu leben – eben so, dass es dem Teufel gerade nicht gefällt.

Darum ist dieser Lehre vom Glauben nicht vorzuwerfen, dass sie gute Werke verbietet, sondern man sollte sie vielmehr dafür rühmen, dass sie lehrt, gute Werke zu tun, und Hilfe anbietet, wie man zu solchen guten Werken kommen kann. Denn ohne Glauben und ohne Christus sind menschliche Natur und menschliches Können viel zu schwach, gute Werke zu tun, Gott anzurufen, im Leiden Geduld zu haben, den Nächsten zu lieben, übertragene Aufgaben zu erfüllen, gehorsam zu sein, Unzucht zu meiden usw. Solche wahrhaft guten und rechten Werke können ohne die Hilfe Christi nicht geschehen, wie er selber Johannes 15,5 sagt: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“

Hier „erdet“ Melanchthon noch einmal die Debatte um die guten Werke, indem er ganz konkret ausspricht, worin nach Gottes Willen und Gebot gute Werke bestehen: zunächst einmal darin, Gott anzurufen und ihm allein über alle Dinge zu vertrauen, dann weiter in der Geduld im Leiden, in der Liebe zum Nächsten, in der gewissenhaften Erledigung übertragener Aufgaben – und schließlich auch darin, auch den Geschlechtstrieb dem Willen und den Weisungen Gottes zu unterstellen und ihn nicht zu einer „neutralen Zone“ zu erklären. In dieser ganz alltäglichen Herausforderung, nach Gottes Willen gute Werke zu tun, erfährt der Christ aber eben immer wieder, dass er an Gottes Willen scheitert und damit auf seine Vergebung ganz und gar angewiesen ist. Wem dies einmal aufgegangen ist, der wird sein Vertrauen niemals mehr auf seine eigenen guten Werke setzen, sondern stattdessen alles von der Hilfe Christi erwarten, die Vergebung schenkt und zugleich immer wieder neu zum Leben als Christ anleitet.

Sowohl in Artikel 6 als auch in Artikel 20 nimmt Melanchthon ausdrücklich Bezug auf die Kirchenväter und ihre Lehre. Es ist dem Augsburger Bekenntnis ganz wichtig, dass es gerade auch in der Frage der guten Werke keine neue Lehre vertritt, sondern die Lehre der Kirche aller Zeiten, wie sie auch bereits von den Kirchenvätern der alten Kirche vertreten worden ist. Dass die lutherische Kirche keine Neugründung des 16. Jahrhunderts sein will, sondern den Anspruch erhebt, die erneuerte katholische Kirche zu sein, macht Melanchthon gerade auch in diesen Artikeln unübersehbar deutlich: Dass gute Werke eine Erneuerung des Gottesverhältnisses durch Gott selber voraussetzen und gerade darum niemals Bedingung für Vergebung und Annahme im Endgericht sein können, ist keine neue Idee, sondern Lehre der rechtgläubigen Kirche aller Zeiten. Und nur durch diese Verkündigung können Menschen zum Tun von Werken angeleitet werden, die eben auch in Gottes Augen gut sind.