3. - Artikel 2: Über die Erbsünde

Weiter wird bei uns gelehrt, dass nach Adams Fall alle natürlich geborenen Menschen in Sünde empfangen und geboren werden, das heißt, dass sie alle von Mutterleib an voll Neigung und Lust zum Bösen sind und von Natur aus keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott haben können. Auch wird gelehrt, dass dieses angeborene Übel, diese Erbsünde, wirklich Sünde ist und daher alle die unter den ewigen Gotteszorn verdammt, die nicht durch die Taufe und den Heiligen Geist von neuem geboren werden.
Damit werden die Pelagianer und andere verworfen, die die Erbsünde nicht für Sünde halten, um dadurch die menschliche Natur aus eigenen Kräften Gott wohlgefällig zu machen, und die so das Leiden und Verdienst Christi verachten.

Auf den Artikel von dem dreieinigen Gott, der den Menschen geschaffen hat, folgt nun der Artikel „Über die Erbsünde“. Die Überschrift der einzelnen Artikel ist nicht ursprünglich und erst später hinzugefügt worden. Ebenso gut könnte man den Artikel auch mit den Worten „Vom Menschen“ überschreiben.
In diesem zweiten Artikel des Augsburger Bekenntnisses taucht nun gleich das Reizwort „Sünde“ auf, das innerhalb und außerhalb der Kirche immer wieder in vielfacher Weise missverstanden wird. Das verbreitetste Missverständnis des Wortes besteht darin, Sünde als eine Art von „unmoralischer Handlung“ aufzufassen. Wenn Sünde so verstanden wird, ist die Empörung verständlich, die der kirchlichen Verkündigung, der Mensch sei ein Sünder, entgegenschlägt: „Ich bin doch ein anständiger Mensch und lasse mir nicht von der Kirche das Gegenteil unterstellen.“ Noch weiter zugespitzt wird „Sünde“ dann – sehr viel mehr in nichtkirchlichen als in kirchlichen Kreisen – auf eine Übertretung des 6. Gebots verkürzt: „Die Kirche behauptet, dass Sex Sünde sei.“ In dieser völlig verzerrten Gestalt ist die kirchliche Verkündigung von der Sünde dann immer wieder Gegenstand zumeist reichlich niveauarmer kabarettistischer Witzchen. Umgekehrt findet man aber ebenso häufig das Missverständnis der Sünde als einer kleinen moralischen Verfehlung, über die man ein wenig augenzwinkernd hinwegsehen kann: Man „sündigt“ beim Genuss des dritten Stückes Sahnetorte oder beim nicht ganz korrekten Abstellen des eigenen Autos am Straßenrand. Und da wir alle miteinander unsere kleinen moralischen Schwächen haben, passt entsprechend auch der Karnevalsschlager von Willy Millowitsch zu dieser Sündenlehre: „Wir sind alle kleine Sünderlein, ’s war immer so, ’s war immer so. Der Herrgott wird es uns bestimmt verzeihn, ’s war immer, immer so.“ Als Beispiel dafür, dass wir kleine Sünderlein sind, wird dann in den folgenden Strophen bezeichnenderweise angeführt, dass wir uns nach hübschen Mädchen umdrehen und mitunter einen über den Durst trinken.

In der Lehre der Kirche wird natürlich nicht in dieser oberflächlichen Weise über die Sünde gesprochen. Doch auch in der kirchlichen Tradition hat es immer wieder die Tendenz gegeben, den Begriff der Sünde auf begangene Taten, auf Verstöße gegen die Zehn Gebote, zu reduzieren und Sünde nur dann als Sünde anzusehen, wenn sie das Ergebnis bewusster Zustimmung dessen ist, der sündigt. Entsprechend wird beispielsweise im baptistisch-freikirchlichen Bereich bestritten, dass kleine Kinder schon mit Sünde belastet seien, und in der römisch-katholischen Kirche tut man sich schwer damit, dass wir als lutherische Kirche davon sprechen, dass der Mensch zeit seines Lebens, auch nach seiner Taufe Sünder ist und bleibt.

Das lutherische Bekenntnis analysiert, wenn es vom Menschen spricht, nicht die Fähigkeiten des Menschen, sich anständig zu verhalten und halbwegs gesittet mit anderen Menschen zusammenzuleben. Es bestreitet nicht, dass dem Menschen als Geschöpf Gottes bestimmte Gaben gegeben sind, die es ihm ermöglichen, als soziales Wesen zu existieren. Es unterstellt uns Menschen nicht, dass wir alle miteinander moralisch schlechte Lebewesen sind. Sondern es bestimmt den Menschen ganz radikal von seiner Gottesbeziehung her: Diese Beziehung zwischen Mensch und Gott ist so grundlegend zerbrochen, dass der Mensch nicht dazu in der Lage ist, sich Gott freiwillig unterzuordnen und ihm von Herzen zu vertrauen. Stattdessen setzt er sich selber immer wieder an die Stelle Gottes und glaubt, in seinem Leben auch ohne Gott auskommen zu können, sein eigener Gott sein zu können, wie es schon die Schlange im Paradies Adam und Eva versprochen hatte: „Ihr werdet sein wie Gott.“ Der Mensch sucht in allem, was er tut, letztlich immer wieder sich selbst, und so sündigt er selbst noch darin, dass er Gottes Gebote äußerlich befolgt, wenn er es letztlich doch nur aus dem Wunsch nach Belohnung oder aus Angst vor Strafe tut. Die Sünde ist also, kurz zusammengefasst, Trennung von Gott, die der Mensch von sich aus nicht überwinden kann, wie das Augsburger Bekenntnis betont – und schon dieses Nichtkönnen ist selber schon Sünde und nicht bloß eine Vorstufe dazu.

Diesen Zustand des Menschen beschreibt das lutherische Bekenntnis mit der Tradition der Kirche als „Erbsünde“. Der Begriff als solcher kommt nicht in der Heiligen Schrift vor und ist insofern missverständlich, als ob es sich hierbei um ein biologisches Phänomen handele, das womöglich mithilfe moderner Erbdiagnostik behandelbar sei, und als ob es letztlich nur eine Art von „Veranlagung“ sei, für die ein Mensch letztlich nichts könne und für die er entsprechend auch nicht haftbar gemacht werden könne. Nicht weniger abwegig ist das Missverständnis der Erbsünde, wonach der Mensch deshalb Sünder sei, weil der Geschlechtsakt als solcher Sünde sei und das daraus entstandene Kind entsprechend auch mit diesem Faktum seiner sündigen Entstehung behaftet sei. All dies hat mit dem biblischen Zeugnis nichts zu tun. Wenn es in Psalm 51,7 heißt: „Siehe, ich bin als Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen“, dann soll in diesen Worten vielmehr die Unentrinnbarkeit der Sünde zum Ausdruck gebracht werden: Ich bin Sünder von den allerersten Anfängen meiner Existenz an, denn ich wie jeder Mensch werde bereits getrennt von Gott geboren.

Diese „Erbsünde“ ist immer beides zugleich: Sie ist Geschick, die meinem eigenen Leben schon vorausgeht, und sie ist zugleich wirkliche Schuld vor Gott, die ich nicht mit dem Verweis auf andere Schuldige von mir wegschieben kann. Ich vollziehe in meinem eigenen Leben immer wieder aufs Neue persönlich nach, was in 1. Mose 3 von Adam und Eva beschrieben wird. Die Sünde ist dem Neuen Testament zufolge eine Macht, die mich bestimmt, beherrscht und gefangen hält und der ich nicht mit meinem guten Willen entkommen kann. Nicht ich setze in mir den Anfang meiner Sünde, sondern die Sünde, die ich tue, kommt immer schon von der Sünde her, in der und unter der ich vom Anfang meines Lebens an existiere. Dies ist mit dem Begriff der „Erbsünde“ gemeint.

Weil die Sünde vom Verhältnis zu Gott her verstanden und bestimmt wird, stellt sich mit dem Bekenntnis, dass der Mensch von Anfang an unter der Sünde und damit selber Sünder ist, zugleich auch immer die Heilsfrage: Wie kann der Mensch aus diesem Zustand befreit werden? Das Augsburger Bekenntnis greift hier schon einmal voraus auf folgende Artikel und gibt darauf eine doppelte Antwort: Es verweist zum einen auf das „Leiden und Verdienst Christi“, also auf seinen Opfertod am Kreuz. Letztlich kann überhaupt erst vom Kreuz her die Situation des Menschen vor Gott recht verstanden werden: Nicht weniger als der Tod des Sohnes Gottes am Kreuz war nötig, um den Menschen aus seiner ausweglosen Situation vor Gott zu retten. Billiger ging es nicht. In eben diesem Kreuzestod Christi liegt aber zugleich auch die Antwort auf die Frage danach, wie der Mensch aus seinem Zustand der Trennung von Gott befreit werden kann: nicht dadurch, dass er etwas tut und sich anstrengt, dass er seine Kräfte einsetzt, sondern einzig und allein dadurch, dass Gott selber eingreift und handelt und rettet.

Eben diese Rettung vollzieht sich nun aber ganz konkret im Leben eines Menschen in der Heiligen Taufe: Durch die Wiedergeburt in der Taufe wird er vor dem Gericht Gottes bewahrt; die Erbsünde verdammt ihn nicht mehr vor Gott. Was in der Heiligen Taufe genau mit der Erbsünde geschieht, wird hier im 2. Artikel des Augsburger Bekenntnisses nicht gesagt. An anderen Stellen geht das Lutherische Bekenntnis auf diese Frage ausführlicher ein: Wenn das Unheil des Menschen darin besteht, dass er von Gott getrennt ist, so besteht das Heil des Menschen darin, dass die Verbindung mit Gott wiederhergestellt wird, dass das Verhältnis zu Gott wieder in Ordnung kommt: Gott spricht ein neues Urteil über den Menschen, das nicht darin begründet liegt, dass der Mensch sich zuvor geändert hätte, sondern dass Gott ihn nun anders ansieht: als einen, der durch die Taufe „in Christus“ ist und der eben darum in Gottes Augen nun richtig dasteht. Die Erbsünde als „Wurzelsünde“ bleibt im Menschen bis zu seinem Tod; solange der Mensch auf Erden lebt, befindet er sich nach seiner Taufe in einem Kampf zwischen dem alten und dem neuen Menschen, die beide zugleich in ihm Realität sind. Der Kampf beginnt erst dadurch, dass der neue Mensch in der Taufe geschaffen wird, und er verläuft unterschiedlich erfolgreich. Doch weil der Getaufte in Christus ist, mit ihm verbunden ist, rechnet Gott ihm nicht an, was ihm ohne Christus an ihm missfallen würde. Wie wichtig die Taufe ist, „die jetzt auch euch rettet“ (1. Petrus 3,21), wird hier im 2. Artikel schon angedeutet; wer ernst nimmt, was dieser 2. Artikel aufgrund des biblischen Befundes über Sünde und Taufe sagt, wird seine Kinder nach ihrer Geburt so bald wie möglich zur Taufe bringen wollen.

Der 2. Artikel des Augsburger Bekenntnisses widerspricht vehement allen Weltanschauungen, die davon ausgehen, dass der Mensch in seinem Wesen letztlich gut ist oder sich zumindest zum Guten umerziehen lässt, und erweist sich darin zugleich auch als ausgesprochen realitätsnah. Man kann mit Recht behaupten, dass die Utopie des Kommunismus letztlich immer wieder daran gescheitert ist und auch künftig scheitern wird, dass sie den 2. Artikel des Augsburger Bekenntnisses nicht ernst nimmt. Der Kommunismus scheitert immer wieder an seinem falschen Menschenbild. Umgekehrt beruht der Erfolg des Kapitalismus letztlich eben darauf, dass er sich die Erbsünde des Menschen zunutze macht – die Tatsache, dass der Mensch dann zur Leistung bereit ist, wenn er daraus einen Vorteil für sich selber ziehen kann: Er funktioniert, weil die Menschen „alle von Mutterleib an voll Neigung und Lust zum Bösen sind“. Er ist damit aber zugleich auch Kennzeichen einer vergehenden Welt, die unter dem Zorn Gottes steht.

Das lutherische Bekenntnis macht deutlich, dass wir Menschen diese Welt niemals in ein Paradies werden verwandeln können, eben weil die Erbsünde bis zum Jüngsten Tag Realität in dieser Welt und einem jeden Menschen bleiben wird. Es leitet damit zur Nüchternheit an: Staatliche Ordnungen haben immer wieder davon auszugehen, dass der Mensch versucht, sie zu umgehen, um seinen eigenen Vorteil zu sichern. Wo es ihnen gelingt, dem Bösen zu wehren und es in Grenzen zu halten – und eben damit die Schwachen zu schützen –, ist bereits viel gewonnen. Doch damit, dass sich der Mensch im Rahmen der staatlichen Ordnungen halbwegs anständig verhält, ist für sein Heil noch nichts gewonnen: Wir kommen weder in den Himmel, weil wir ja nun mal alle kleine Sünderlein sind und der liebe Gott darum Fünfe gerade sein lassen muss, noch weil wir uns vielleicht doch besser verhalten als andere. In den Himmel kommen wir nur, weil Gott uns rettet – um Christi willen durch das Wasser der Taufe. Und weil wir dort von neuem geboren werden, können wir dann auch anders leben, können wir Gott vertrauen und sind nicht gezwungen, immer nur um uns selbst zu kreisen. Und das kann und wird sich dann auch hier auf Erden auswirken – bis in die Gesellschaft hinein.