6. Man kann doch heute nicht mehr an die Bibel glauben
Wenn man sich heutzutage mit Menschen, die mit dem christlichen Glauben nicht viel am Hut haben, über die Bibel unterhält, dann kann man dabei oftmals zwei ganz unterschiedliche Erfahrungen machen: Es gibt tatsächlich mitunter Kritiker des christlichen Glaubens, die sich in der Heiligen Schrift erstaunlich gut auskennen und mit ihren Kenntnissen sogar so manchen Christen zu beschämen vermögen. Sehr viel häufiger erlebt man es jedoch, dass Menschen sich berufen fühlen, Urteile über die Bibel zu fällen, die sie selber oft genug kaum oder gar nicht gelesen haben und letztlich höchstens ein paar Schlagworte oder Klischees über die Heilige Schrift anführen können. Wenn man sie darauf anspricht, geben sie nicht selten zu verstehen, sie sähen auch gar nicht ein, weshalb sie sich nun gründlicher mit der Bibel beschäftigen sollten; sie wüssten ja sowieso schon, dass sich das nicht lohnt, dass man als moderner Mensch mit ihr sowieso nichts mehr anfangen könne. Gegen solche geistige Selbstimmunisierung kommt man dann natürlich nur noch schwer an.
Anderen, die etwas offener sind, kann man vielleicht zumindest ein paar ganz elementare Informationen mitgeben: Beispielsweise diese, dass die Heilige Schrift kein Roman ist, der darauf angelegt ist, dass man ihn vorne nach hinten durchliest, sondern dass die Heilige Schrift eine Bibliothek ist, die aus 66 verschiedenen Büchern besteht, die auch je für sich, auch in unterschiedlicher Reihenfolge gelesen werden können. Ganz elementar kann man auch darauf verweisen, dass die Heilige Schrift in sich ein „Gefälle“ hat, dass alles, was in ihr geschrieben steht, in seinem Bezug auf Christus verstanden werden soll. Das bedeutet zugleich auch, dass nicht alles, was in der Heiligen Schrift steht, für uns als Christen auch verbindlich wäre. Das Recht der Vergeltung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (2. Mose 21,24) aus dem Alten Testament wird von Christus ausdrücklich mit einem „Ich aber sage euch“ abgelöst durch das Recht der Liebe (St. Matthäus 5,39). Die Opfer- und Reinheitsvorschriften des Alten Testaments haben ihre Erfüllung in dem einen Opfer Jesu am Kreuz gefunden und gelten darum für uns als Christen nicht mehr. Der Verweis darauf, dass ein Satz angeblich oder tatsächlich in der Bibel steht, braucht uns als Christen also erst einmal noch nicht sonderlich zu beeindrucken; zunächst müssen wir schauen, wann und zu wem denn dieser Satz eigentlich gesagt worden ist. Damit ist schon ein Weiteres deutlich: Wir glauben als Christen nicht, dass die Heilige Schrift gleichsam vom Himmel gefallen ist. Sondern in der Heiligen Schrift spiegelt sich wider, wie Gott mit uns Menschen umgeht – nämlich so, dass er in unsere Geschichte eingegangen ist und in der Geschichte die Verbindung zu uns Menschen aufgenommen hat. So lässt sich jedes einzelne biblische Buch nur dadurch recht verstehen, dass wir es in dem historischen Zusammenhang lesen, in dem es damals entstanden ist und in den hinein es zunächst einmal gesprochen hat. Dies unterscheidet den Umgang von uns Christen mit der Bibel schon sehr grundlegend zum Beispiel vom Umgang eines frommen Muslim mit dem Koran, für den schon der Gedanke an eine „historische Entstehung“ des Koran geradezu blasphemisch ist.
Die historische Einordnung der biblischen Bücher und die Anerkennung eines „Gefälles“ aller Aussagen der Heiligen Schrift hin auf Christus bedeuten nun allerdings nicht, dass wir damit das Alte Testament sozusagen als „vorchristlich“ oder gar „unterchristlich“ abwerten oder gar das Klischee verbreiten, wonach der Gott des Alten Testaments ein strafender, zorniger Gott und der Gott des Neuen Testaments ein Gott der Liebe sei: Der Gott, den das Alte Testament bezeugt, ist kein anderer als der Vater Jesu Christi.
Vor allem aber dürfen wir hier nun nicht einen Denkfehler begehen, der leider an dieser Stelle immer wieder begangen wird und notwendigerweise in bestimmte Sackgassen führt: Dass die Bücher der Heiligen Schrift in bestimmten historischen Situationen verfasst worden sind, bedeutet gerade nicht, dass ihr Inhalt notwendigerweise auch nur „historisch bedingt“ und relativ ist und wir als heutige Leser diesem Inhalt entsprechend als Richter gegenübertreten können, die selber entscheiden, was ihnen an diesem Inhalt passt und einleuchtet und was nicht. Sondern die Bücher der Heiligen Schrift erheben immer wieder eben diesen Anspruch, dass sie das Kommen und Reden des lebendigen Gottes bezeugen, ja mehr noch: dass sich der lebendige Gott selber bezeugt und zu erkennen gibt. Menschen können sich diesem Anspruch verweigern – und haben dies zu allen Zeiten getan; sie können aber nicht behaupten, sie hätten mithilfe irgendwelcher Methoden oder neuerer Erkenntnisse herausgefunden, dass dieser Anspruch falsch sei.
Problematisch sind von daher Methoden der Auslegung der Heiligen Schrift, die durchaus auch in der theologischen Ausbildung gelehrt werden, die die Möglichkeit eines einzigartigen Redens und Eingreifens Gottes in diese Welt von vornherein ausschließen und dabei oft genug unbewusst mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild des 19. Jahrhunderts arbeiten: Wenn beispielsweise gegenüber der Schilderung der Jungfrauengeburt Jesu in den Evangelien eingewandt wird, dass dies doch allen heutigen Erfahrungen und biologischen Erkenntnissen widerspreche, dass eine Jungfrau schwanger werden könne, und wenn man dann auch noch darauf verweist, dass die Vorstellung von einer Jungfrauengeburt doch auch in anderen Religionen in der Umgebung Israels vorhanden gewesen sei und man die Texte des Neuen Testaments eben auf diesem Hintergrund verstehen müsse, dann mag das zwar zunächst einleuchtend klingen. Doch dass Gottes einmaliges Kommen in diese Welt in Jesus Christus auch auf einem einmaligen Weg geschehen kann, lässt sich zwar mit einer solchen Argumentation methodisch von vornherein ausschließen, aber nicht sachlich als Möglichkeit widerlegen. Die Skepsis gegenüber bestimmten Aussagen der Heiligen Schrift hat ihren Grund also immer wieder in der oftmals nicht reflektierten Übernahme bestimmter Weltbilder, die Gott mit seinem Kommen aber wiederum gerade in Frage stellt.
Wo ein einmaliges Reden und Handeln Gottes in dieser Welt von vornherein ausgeschlossen wird, kann man aus der Heiligen Schrift in der Tat nur noch so etwas wie „allgemeine Wahrheiten“ herausdestillieren. Mit diesem Vorgehen kann man dann zwar die Bibel als bedeutsames religiöses Buch gegenüber Kritikern verteidigen, bricht ihr aber zugleich sozusagen die eigentliche Spitze ab, die eben gerade in der Bezeugung des einmaligen und einzigartigen Kommens Gottes in Jesus Christus besteht.
Nun haben die meisten derjenigen, die behaupten, man könne doch heute nicht mehr an die Bibel glauben, ihre Argumente nicht aus irgendwelchen theologischen Lehrbüchern. Vielmehr beziehen sie sich immer wieder auf journalistische Darstellungen der Bibel in Form von reißerischen angeblichen „Enthüllungsbüchern“ oder von Zeitschriftenartikeln zum Thema „Jesus“ und „Bibel“, die so sicher wie das Amen in der Kirche vor Weihnachten und Ostern in den einschlägigen Magazinen erscheinen. Immer wieder kann man in diesen Artikeln und Büchern dieselbe Vorgehensweise beobachten: Regelmäßig wird verkündigt, man habe irgendwo im Nahen Osten alte Dokumente gefunden, die angeblich ein völlig neues Licht auf die Aussagen der Bibel werfen würden und nun zeigen würden, wie es denn damals „wirklich“ gewesen sei. In aller Regel stammen diese angeblich sensationellen Funde aus viel späterer Zeit als die Texte des Neuen Testaments, oder es werden in sie Bezüge zu biblischen Texten hineininterpretiert, die keiner ernsthaften historischen Überprüfung standhalten. Entsprechend ist die Halbwertzeit solcher Enthüllungsbücher meist sehr begrenzt; in fast allen Fällen redet schon spätestens zwei Jahre später niemand mehr von den angeblichen „revolutionären Entdeckungen“. Schon allein historisch muss man bedenken: Sowohl der ursprüngliche Textbestand des Alten wie des Neuen Testaments ist so gut und so exakt zurückzuverfolgen, wie dies bei keinem anderen Textdokument der Antike der Fall ist. Die Vorstellung, dass „die Kirche“ später „die Bibel“ in ihrem Sinne gefälscht habe, ist für jeden, der auch nur ein wenig die Geschichte des Christentums der ersten Jahrhunderte kennt, geradezu absurd: Es gab da keine oberste Kirchenbehörde, die Fälschungen zentral hätte anordnen und durchführen können: Die Texte des Neuen Testaments wurden in den verschiedenen Gegenden des Mittelmeers völlig unabhängig voneinander weitergegeben, sodass man Veränderungen, die irgendwo vorgenommen wurden, sofort anhand des umfangreichen Handschriftenmaterials als solche identifizieren kann. Und wie sorgfältig der Text des Alten Testaments über viele Jahrhunderte überliefert wurde, haben die Handschriftenfunde von Qumran vor einigen Jahrzehnten ja höchst eindrücklich gezeigt. Ein weiteres Vorgehen der journalistischen Beiträge zum Thema „Jesus“ und „Bibel“ besteht darin, die auf ohnehin problematischen Voraussetzungen beruhenden angeblichen „Erkenntnisse“ moderner Bibelauslegung noch einmal zu vergröbern und als unumstößliche Wahrheit zu deklarieren: „Die neutestamentliche Wissenschaft ist sich einig, dass Jesus in Wirklichkeit gar nicht auferstanden ist.“ Den Theologen wird in diesem Zusammenhang unterstellt, den Leuten immer noch wider besseres Wissen zu verkünden, woran sie eigentlich selber schon nicht mehr glauben. Sehr beliebt als Vorgehensweise ist in diesem Zusammenhang auch der „Taschenspielertrick“, religionsgeschichtliche Ähnlichkeiten als Abhängigkeitsverhältnisse darzustellen: Aus der Tatsache, dass es zum Beispiel auch in der ägyptischen Religion oder in irgendwelchen Mysterienreligionen die Rede vom Tod und Auferstehen eines Gottes gibt, wird messerscharf gefolgert, dass das Neue Testament diese Vorstellung einfach nur abgekupfert habe. Solche Argumentationen machen bei religiös Halbgebildeten immer wieder schwer Eindruck, auch wenn die Konstruktion solcher Abhängigkeiten in den meisten Fällen in Wirklichkeit völlig an den Haaren herbeigezogen ist.
Dies sind nur einige wenige Hinweise darauf, dass wir uns als Christen argumentativ nicht zu verstecken brauchen, wenn wir mit der Behauptung konfrontiert werden, man könne doch heutzutage nicht mehr an die Bibel glauben. Wir tun aber umgekehrt auch nicht gut daran, Menschen dadurch zum Glauben bewegen zu wollen, dass wir unsererseits versuchen zu beweisen, dass die Bibel doch recht hat. Dass sich in der Heiligen Schrift der lebendige Gott bezeugt und er sich mit seinem Geist an dieses Wort der Heiligen Schrift gebunden hat, ja es durch das Wirken seines Geistes hat entstehen lassen, ist eine Erkenntnis, die wiederum nur Gott selber durch eben dieses Wort der Heiligen Schrift bei uns wirken kann und die sich damit zugleich letztlich einer „Beweisführung“ entzieht. Es geht bei dem, was die Heilige Schrift bezeugt, eben auch um unendlich mehr als nur darum, dass wir das, was sie berichtet, als wirklich geschehen anerkennen. Es geht immer wieder darum, ob und wie das, was in der Heiligen Schrift als geschehen bezeugt wird, für uns und unser Leben von Bedeutung ist. Genau von dieser Bedeutung des Geschehenen für unser Leben spricht die Heilige Schrift, wo immer wir in ihr lesen – und ruft gerade damit zum Glauben an den, der sich in der Heiligen Schrift bezeugt. Denn eines ist allerdings auch ganz klar: Wir glauben als Christen nicht an die Bibel, sondern wir glauben an den lebendigen, dreieinigen Gott, den wir allerdings nur durch sein Wort, das Wort der Heiligen Schrift, als den erkennen können, der er wirklich ist. Und dieser Gott unterliegt nicht unserer Kritik, sondern richtet uns und unser Denken durch sein Wort – und rettet uns dadurch zugleich, indem er den Glauben bei uns wirkt, den wir von uns aus in der Tat nicht haben können.