4. Wie kann Gott so viel Schlimmes in der Welt zulassen

Die Frage danach, wie sich menschliches Leid und der Glaube an Gott miteinander vereinbaren lassen, bewegt die Menschheit schon seit alters her. Bereits im Alten Testament ist ein ganzes Buch, das Buch Hiob, eben dieser Frage gewidmet.
Wir können als Christen auf diese Frage keine einfache, schnell eingängige Antwort geben, die uns all das Entsetzliche, was uns beispielsweise gerade auch jetzt wieder in den Ereignissen in Japan vor Augen geführt worden ist, logisch erklärbar erscheinen lässt. Es gibt zunächst einmal Situationen, in denen wir gut daran tun, uns überhaupt einen Antwortversuch auf diese Frage zu versagen. Als Hiob damals von schwerem Leid getroffen wurde, besuchten ihn seine Freunde „und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.“ (Hiob 2,13) Manchmal ist es besser, Menschen, die diese Frage aus eigener akuter Betroffenheit stellen, einfach in den Arm zu nehmen und mit ihnen zu weinen, statt sich an noch so gut gemeinten Erklärungen zu versuchen, die am Ende doch nur zynisch erscheinen können.
Doch wir können als Christen natürlich auch zu diesem Thema etwas sagen, auch wenn wir nicht die eine perfekte Antwort geben können. Hinweise können wir geben, die uns helfen können, die Frage aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
Zunächst einmal müssen wir festhalten: Wir können nicht einfach alles menschliche Leid Gott als dem dafür Verantwortlichen in die Schuhe schieben. Mit dem Trick hatte ja schon Adam im Paradies angefangen: „Die Frau, die du mir gegeben hast,“ führt er als Entschuldigung für sein eigenes Fehlverhalten an. Wenn wir in diesen Tagen auf Japan blicken, müssen wir beispielsweise ganz nüchtern festhalten: Gott hat keine Atomkraftwerke gebaut. Es waren Menschen, die offenkundig ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu hoch eingeschätzt und Risiken dagegen unterschätzt haben. Menschen sind es, die Kriege anfangen, die ihre Bevölkerung unterdrücken, die einander Schaden und Leid zufügen und mehr auf ihren Vorteil als auf das Wohl ihrer Mitmenschen bedacht sind. Und in sehr vielen Fällen liegt es daran, dass diese Menschen nichts davon wissen wollen, dass sie sich mit ihrem Verhalten vor Gott verantworten müssen, und sich stattdessen selber an die Stelle Gottes setzen, ja dass sie ihr Verhalten nicht am Maßstab der Gebote Gottes messen lassen wollen. Menschliches Leid hat in ganz vielen Fällen etwas mit menschlicher Sünde, mit der Abwendung des Menschen von Gott zu tun.
Doch mit dieser Antwort allein kann man die Frage danach, wie Gott so viel Schlimmes in der Welt zulassen kann, nicht beantworten. Letztlich kann man natürlich zurückfragen: Wie konnte Gott überhaupt das Böse in der Welt zulassen? Gewiss, wir können darauf verweisen, dass Gott den Menschen frei geschaffen hat, weil nur in Freiheit Liebe möglich ist und Gott wollte, dass sich der Mensch ihm in Freiheit liebend zuwendet. Doch die philosophische Grundfrage „unde malum?“ – Woher kommt das Böse? – vermögen auch wir Christen letztlich nicht zu beantworten. Wir können nur zweierlei festhalten: Gott ist nicht böse und gut zugleich, sondern er ist eindeutig und ganz gut. Und es gibt zum anderen auch nur einen Gott und nicht zwei Götter – einen guten und einen bösen -, die im Wettstreit miteinander liegen. Auch der Teufel ist kein „Gegengott“, sondern bleibt Geschöpf und damit Gott eindeutig untergeordnet. Doch dass es das Böse wirklich gibt, das Böse, das mehr ist als eine bloße „Minderung des Guten“, die das völlig Gute noch einmal in einem strahlenderen Licht erscheinen lässt, ist eine Einsicht der Heiligen Schrift, die der Realität unseres Lebens und unserer Welt ganz und gar entspricht. Die Frage ist nur, ob dieses Böse letztlich die alles beherrschende Größe bleibt, oder ob diesem Bösen ein Gutes beziehungsweise ein Guter entgegensteht, der diesem Bösen letztlich doch seine Grenzen setzt. Genau das bekennt der christliche Glaube.
Es gibt religionsgeschichtlich eine alternative, letztlich atheistische Antwort auf die Frage nach dem Leid in dieser Welt, die sich gerade heute auch in unserem Land großer Beliebtheit erfreut: Es ist die Antwort des Buddhismus, der vom Gesetz des Karma spricht: Alles, was ich jetzt an Leid erfahre, ist letztlich selbstverschuldet, ist Folge von Fehlverhalten in einem früheren Leben, das ich jetzt abbüßen muss. Was scheinbar „gerecht“ und beinahe logisch klingt, erweist sich angesichts solch furchtbarer Katastrophen wie jetzt in Japan geradezu als zynisch: Wer möchte angesichts der Bilder von dort allen Ernstes davon reden, die Betroffenen seien an ihrem Unglück schließlich „selbst schuld“? In der Heiligen Schrift wird genau mit diesem Antwortversuch, dass menschliches Leid die Folge eigenen Verschuldens sei, wiederholt gerungen; immer wieder wird er deutlich abgelehnt – im Buch Hiob genauso wie im Neuen Testament, wo Jesus auf die Frage nach der Ursache für das Leid eines blind geborenen Menschen: „Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern?“ ganz klar antwortet: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern.“ (St. Johannes 9,2+3) Es gibt kein Gesetz des Karma, dem sich auch ein Gott selber unterwerfen müsste, wenn es ihn denn gibt. Und Gott ist auch keine Personifizierung des Karma, dass er Menschen in ihrem Leben genau das Schicksal bereitet, das sie sich mit ihrem Verhalten verdient haben. So ist es immer wieder erschreckend und abstoßend, wenn nach solch großen Katastrophen wie jetzt in Japan selbsternannte „christliche“ Prediger aufstehen und diese Katastrophen als Gerichtshandeln Gottes für bestimmte Sünden eines Volkes deuten – und sei es auch nur, dass die Sünde des Volkes darin besteht, dass sie sich nicht der Glaubensgemeinschaft des Predigers angeschlossen hatten. Jesus selber lehnt solches Denken in einem Gespräch über die Ursachen des Einsturzes des Turms von Siloah jedenfalls in aller Deutlichkeit ab: „Meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen.“ (St. Lukas 13,4+5) Ebenso wenig taugt der Erklärungsversuch, alles menschliche Leid diene letztlich der Erziehung und Läuterung eines Menschen. Es mag sein, dass Menschen im Rückblick auf erfahrenes Leid tatsächlich diesem Leid etwas Gutes für ihr Leben abgewinnen können – ich erlebe dies immer wieder und bin davon immer wieder aufs Neue bewegt. Doch einem von Leid betroffenen Menschen kann ich dies nicht als logischen Erklärungsversuch aufnötigen – und oft genug wäre auch ein solcher Versuch nur zynisch zu nennen angesichts der Größe von Leid und Elend, von dem Menschen in ihrem Leben getroffen werden.
Eines ist gewiss richtig: Wir Menschen tun uns mit der Frage nach dem Leid heute deshalb oft besonders schwer, weil wir die Realität des Todes aus unserem Leben so weit wie möglich verdrängen und dann um so erschütterter sind, wenn wir mit einem Mal ganz konkret mit ihr konfrontiert werden. Wir glauben bewusst oder unbewusst, so etwas wie ein Anrecht auf eine bestimmte Lebenszeitspanne zu haben, und empfinden in unserer Verdrängung des Todes schließlich mitunter sogar den Tod eines alten Menschen als unbegreiflichen Schicksalsschlag. Dagegen betete schon der Psalmist im Alten Testament: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90,12)
Doch all diese Hinweise können und sollen nicht relativieren, dass wir auch als Christen oft genug nicht begreifen können, warum Gott auf dieser Erde solch entsetzliche Katastrophen geschehen lässt – Katastrophen, die wir mit unserem Glauben an einen liebenden Gott einfach nicht vereinbaren können. Gottes Handeln in der Geschichte und auch in unserem Leben bleibt oft genug rätselhaft; er bleibt darin, wie Martin Luther es formuliert hat, ein „verborgener Gott“, an dem wir irre werden müssten, wenn wir nicht mehr von ihm wüssten, als das, was wir aus dem Lauf der Geschichte von ihm erfahren können. Diesen verborgenen Gott kann man nicht lieben, an ihn kann man letztlich auch nicht glauben. Man kann höchstens vor ihm erschrecken und sich ihm als dem überaus großen Gott mit Schaudern unterwerfen, der mit uns Menschen nun einmal spielt und umgeht, wie er will. Dies ist letztlich die Antwort des Islam auf die Frage nach Gott und dem Leid – und in christlicher Version die Antwort des klassischen Calvinismus. Doch mit dieser Antwort brauchen wir uns eben doch nicht zu begnügen. Wir dürfen, wie Martin Luther es ausführt, immer wieder vom verborgenen zum offenbaren Gott fliehen – zu dem Gott, der sich am Kreuz endgültig zu erkennen gegeben und darauf im wahrsten Sinne des Wortes hat festnageln lassen. An diesen Gott glauben wir, der selber das Leid dieser Welt bis in die letzte Tiefe erfahren und ertragen hat, der den Geschehnissen dieser Welt nicht teilnahmslos zusieht, sondern selber ein leidender Gott ist und bleibt. Dies ist gewiss keine logische Antwort, die das Problem des menschlichen Leides lösen würde. Und doch hilft sie uns dazu, die Frage „Wie kann Gott so Schlimmes in der Welt zulassen?“ ein wenig umzuformulieren: „Wie kannst Du, Gott, so Schlimmes in der Welt zulassen?“ Als Christen dürfen wir diese Frage in Gebetsform stellen – im Vertrauen darauf, dass der Gott, an den wir sie richten, diese Frage aus eigenem Erleben versteht. Und gerade indem wir diese Frage so stellen und ihm unser Leid und das Leid anderer Menschen klagen, halten wir an Gott fest, bestreiten wir, dass alles, was in dieser Welt geschieht, einfach nur blöder Zufall und sinnlos ist.
Indem wir unsere Fragen so an Gott richten, erkennen wir allerdings zugleich auch dies eine an: Nicht wir haben das Recht dazu, Gott vor unseren menschlichen Richterstuhl zu laden, damit er sich vor uns verantwortet, warum er sich anders verhalten hat, als sich unserer Meinung nach ein anständiger Gott verhalten müsste. Sondern wir werden uns einmal vor ihm, Gott, mit unserem Leben zu verantworten haben. Und dann beginnen wir vielleicht auch zu ahnen, dass auch menschliches Leid, mit dem wir konfrontiert werden, für uns ein Weckruf sein kann, zu Gott umzukehren und nicht länger zu glauben, wir könnten unser Leben auch ohne ihn sichern. Natürlich ist dies keine „einlinige“ Erklärung, dass Gott Menschen in Japan sterben lässt, damit wir wieder neu die Brüchigkeit unseres eigenen Lebens wahrnehmen. Und doch kann Gott auch für uns Furchtbares und Unbegreifliches gebrauchen, um damit bei uns Gutes zu bewirken.
Eines bleibt allerdings auch festzuhalten: Wäre mit dem Tode für uns alles aus, dann könnten wir in der Tat nur verzweifeln. Die Weltgeschichte ist nicht das Weltgerichte, wie einst Friedrich von Schiller meinte, sondern Gottes Richterspruch reißt Horizonte auf, die weit über unsere Weltgeschichte und die Geschichte unseres Lebens hinausgehen. Die Welt, die wir jetzt erleben, ist nicht das Letzte, sondern nur das Vorletzte, das einmal abgelöst werden wird durch einen neuen Himmel und eine neue Erde, die Gott schaffen wird und in denen menschliches Leid einmal endgültig keinen Platz mehr haben wird. Das ist keine billige Vertröstung, sondern diese Hoffnung hat ihren festen Grund in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten, mit der er den tiefsten Grund allen menschlichen Leids, den Tod, endgültig besiegt hat. Diese Hoffnungsperspektive bewahrt uns als Christen davor, angesichts des Übermaßes menschlichen Leides zu verzweifeln, und lässt uns die Frage danach, wie Gott so viel Schlimmes in der Welt zulassen kann, ertragen. Denn wir warten auf den Tag, an dem sich für uns alles einmal aufklären wird, wie es Christus seinen Jüngern versprochen hat: „Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. An dem Tag werdet ihr mich nichts fragen.“ (St. Johannes 16,22+23)