28.12.2014 | St. Matthäus 2,13-18 | Tag der unschuldigen Kinder
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Wisst ihr, wie das ist, wenn man von einem Augenblick auf den anderen die Nachricht erhält, dass es da jemanden gibt, der einen umbringen will? Wisst ihr, wie das ist, wenn man von einem Augenblick auf den anderen sich entscheiden muss zu fliehen, die Heimat zu verlassen, alles aufzugeben, was einem bisher lieb und vertraut war – weil ein brutales Regime, weil irgendwelche brutalen Menschen einen nicht mehr leben lassen wollen?

Ja, das wissen viele von euch. Wie viele solcher Geschichten habe ich in diesem Jahr 2014 von euch gehört und in Protokollen gelesen, wie euch mit einem Mal die Nachricht erreichte, dass die Hausgemeinde aufgeflogen war, in der ihr euch bisher versammelt hattet, dass andere aus der Hausgemeinde schon verhaftet worden waren oder spurlos verschwunden waren! Wie oft habe ich es gehört, dass Jugendliche von Taliban gezwungen werden sollten, andere Menschen zu töten – und dann nicht anders konnten, als schon mit 13 oder 14 die Heimat zu verlassen!

Wisst ihr, wie das ist, wenn man sich auf der Flucht befindet, wenn man nicht weiß, wo man schlafen soll, wenn man nicht weiß, wo man etwas zu essen finden soll, wenn man nicht weiß, wo man bleiben soll? Und wisst ihr, wie gut das tut, wenn man dann am Ende seiner Flucht ein Land findet, in dem man bleiben kann, aus dem man nicht mehr weggeschickt, nicht mehr deportiert wird?

Ja, auch das wissen so viele von euch. Nein, Flucht ist nichts Romantisches, hat nichts mit Abenteuerlust zu tun. Da geht es ums nackte Überleben – und nicht immer gelingt das allen Familienangehörigen, so können es auch einige unserer heutigen Täuflinge aus eigener Erfahrung bezeugen. Flucht ist etwas Furchtbares, wenn man im Laufschritt durch die Bergregion an der Grenze zwischen dem Iran und der Türkei eilen muss, wenn man in einem kleinen Boot mitten auf dem Meer sitzt, wenn man wegen des Verbrechens, ein Flüchtling zu sein, verhaftet und im Gefängnis misshandelt wird, wenn man überall, wo man hinkommt, gleich signalisiert bekommt: Hau ab, hier bist du nicht willkommen, wir wollen dich woanders hinschicken!

Ja, eine beklemmend aktuelle Geschichte wird uns im Heiligen Evangelium dieses Tages berichtet: Die Geschichte von dem Flüchtling und Asylbewerber Jesus, der mit seinen Eltern vor dem mordlustigen König Herodes fliehen muss und schließlich in Ägypten Asyl erhält, ein Bleiberecht, nach dem sich so viele von euch hier in Deutschland sehnen.

Gewiss, im Vergleich zu dem, was viele von euch durchgemacht haben, erscheint die Flucht von Josef und Maria mit dem Jesuskind nach Ägypten noch vergleichsweise leicht: Da gab es keine Grenzkontrollen, keine Fingerabdrücke, auch kein Meer, das zu überwinden war. Da gab es vor allem ein Land, in dem die Familie aufgenommen wurde und gleich bleiben konnte, ohne dass uns dagegen irgendwelche staatlichen Maßnahmen oder Proteste bekannt geworden wären.

Sagen wir es ganz offen: Maria und Josef hätten heute wohl keine Chance, als Asylbewerber hier in Deutschland anerkannt zu werden. Man würde sie wieder ausweisen, weil sie sicher versucht hätten, auf dem Landwege einzureisen und weil man ihnen die Geschichte von der Geburt in Bethlehem und dem Engel, der Josef warnte, wohl kaum abgenommen hätte: Sie stammen doch gar nicht aus Bethlehem, Sie stammen doch aus Nazareth – und Nazareth gilt als vergleichsweise sicheres Gebiet, da sind in letzter Zeit keine Kindermorde bekannt geworden! Wir können doch nicht einfach jeden aufnehmen, der hierhin kommt!

Doch auch wenn Maria und Josef Glück hatten, dass sie noch keine Mauern überwinden mussten, um ihr Leben zu retten, ahnen wir doch, was es für sie bedeutet haben muss, mit einem kleinen Baby auf der Flucht zu sein, ja, schließlich dort in Ägypten irgendwo in einem Flüchtlingslager zu hausen. Ja, Jesus versteht Flüchtlinge aus eigener Erfahrung, weiß, wie ihnen zumute ist!

Wir feiern in diesen Tagen Weihnachten, feiern, dass Gott Mensch geworden ist, wirklich ganz einer von uns. Aber das ist eben kein abstrakter Satz, sondern beschreibt etwas ganz Konkretes: Jesus ist wirklich mitten hineingeboren worden in das Leid und das Elend dieser Welt, er weiß aus eigener Erfahrung, wie es uns geht, und so ist gerade das Evangelium dieses heutigen Tages in besonderer Weise euer Evangelium, das euch so praktisch und direkt zeigt, was wir eben gesungen haben: „Gotts Sohn ist worden euer Gesell!“

Und doch würden wir das Evangelium dieses Tages viel zu kurz verstehen, wenn wir es nur als Aufforderung verstehen würden, uns für die Rechte von Flüchtlingen einzusetzen, wenn wir Jesus nur als Beispiel für die heutige Flüchtlingsproblematik verstehen würden. St. Matthäus lässt uns hier schon tiefer blicken. Er lässt uns erkennen: Wo Gott in Jesus in diese Welt kommt, da ruft er Widerstände hervor, da versuchen die Menschen immer wieder, ihn ganz schnell loszuwerden. Und das gilt eben nicht nur für Jesus selber, das gilt auch für die, die zu ihm gehören, die in seiner Nähe sind. Damals hat es die Kinder in Bethlehem getroffen. Heute trifft es Christen in so vielen Ländern dieser Welt, dass sie um Christi willen dasselbe Schicksal erleiden wie damals die Kinder, von denen hier im Heiligen Evangelium berichtet wird. Neulich las ich, wie Mitglieder der IS-Terrororganisation einige christliche Kinder dazu aufforderten, sie sollten zum Islam konvertieren, sonst würden ihnen die Köpfe abgeschnitten. Die Kinder antworteten: Warum sollten wir Jesus verlassen? Wir lieben ihn! Und so erlitten sie wenige Minuten später dasselbe Schicksal wie damals die Kinder in Bethlehem. Ja, wo Christus in diese Welt kommt, da regen sie sich, die Mächte des Teufels, so haben wir es eben auch in der Epistel gehört.

Aber noch eines macht das Heilige Evangelium uns deutlich: Jesus wird von Gott selbst bewahrt – nicht, damit er anschließend ein schönes Leben führt, sondern weil seine Stunde noch nicht gekommen ist. Nicht als Baby soll er sterben, sondern als junger Mann, soll nicht einfach von Soldaten abgeschlachtet werden, sondern ans Kreuz genagelt werden, um die Sünden der Welt auf sich zu nehmen. Dass Gott den Josef gewarnt hat, das hat er für dich und für mich gemacht. Er hatte seinen Plan, uns Menschen zu retten – und diesen Plan ließ und lässt er sich von niemandem durchkreuzen.

Gott führt seinen Plan durch – auch den Plan, den er mit dir, mit deinem Leben hat. Wenn du überhaupt nicht verstehen kannst, warum Gott dich in deinem Leben so führt, wie er dich führt, dann vertraue darauf: Gott weiß, was er tut. Und das Allerwichtigste hat er für dich schon getan: Er hat ihn in diese Welt gesandt, deinen Retter, hat ihn für dich sterben lassen, damit all das Leid und das Elend, das du in deinem Leben erfahren magst, nicht das Letzte ist, damit auch du für immer, ewig leben kannst. Lass dich darum ja nicht erschrecken von den Widerständen, die Jesus hervorruft! Bleibe nur bei ihm, der dich und dein Leid so gut kennt! Er wird auch dich einmal dorthin bringen, wo du für immer, ewig bleiben darfst, wo dich niemand mehr vertreiben kann: in seiner Stadt, wo Gott einmal Rahels Tränen abwischen wird, die Tränen, die ihr, liebe Täuflinge, in eurem Leben schon geweint habt, ja, unser aller Tränen – dort, wo Leid und Geschrei und Schmerz und Tod einmal für immer Vergangenheit sein werden. Darum, genau darum ist Jesus damals ein Flüchtling geworden. Amen.