17.12.2014 | Psalm 85,2-8 | Mittwoch nach dem dritten Sonntag im Advent
Pfr. Dr. Gottfried Martens

„Weihnachten ist, wenn Sarah Connor singt!“ – So hörte ich es neulich im Radio. Sarah Connor hat bereits am 11. Dezember gesungen, hat in der Berliner Gedächtniskirche ihre schönsten Weihnachtslieder, begleitet von Andrej Hermlin und seinem Swing Dance Orchestra, vorgetragen. Weihnachten hat also, zumindest für die Hörer von 94.3.rs.2, schon stattgefunden – wir brauchen also gar nicht mehr zu warten. Die ganze Bescherung liegt schon hinter uns. Kein Wunder, dass man selbst im Schwimmbad schon von den Klängen von „Stille Nacht“ umhüllt wird!

Ja, das ist alles mittlerweile schon so grotesk, dass man sich eigentlich schon gar nicht mehr darüber aufregen, sondern sich nur noch darüber amüsieren kann. Doch hinter diesem ganzen vorweihnachtlichen Gedöns steckt natürlich schon ein ganz tiefes Problem: Wir können heute nicht mehr warten, weil wir eigentlich gar nichts Richtiges mehr erwarten. Wenn Weihnachten tatsächlich nur ein bisschen Gefühl und Besinnlichkeit ist, dann kann man sich das auch schon zwei Wochen vorher bei Sara Connor abholen, erst recht, wenn die ihre selbstgemachten Schnulzen auch noch in einer Kirche zum Besten geben darf. Wenn Weihnachten tatsächlich nur ein bisschen Gefühl und Besinnlichkeit ist, dann kann man in der Tat auch nicht mehr zwischen Advent und Weihnachten unterscheiden, dann ist das alles nur noch eine Soße, die sich irgendwie gegen Jahresende mit zunehmender Intensität ausbreitet.

Doch wie traurig ist es in Wirklichkeit, wenn Menschen nicht mehr warten können, weil sie eigentlich gar nichts Richtiges mehr erwarten! Ja, gut tun wir als Christen daran, uns wieder neu darauf zu besinnen, dass wir Advent feiern, weil eben noch nicht Weihnachten ist, weil wir wirklich noch etwas haben, auf das wir warten, etwas, was im Übrigen auch am 26. Dezember nicht schon wieder vorbei und erledigt ist!

Was es wirklich heißt, Advent zu feiern, ja, was es wirklich heißt, als Christ zu leben, das können wir aus den Worten des 85. Psalms lernen, des Wochenpsalms dieser Woche nach dem Dritten Sonntag im Advent. Als Christ das ganze Jahr über adventlich zu leben, heißt:

-    Sich vor Gott auf Vergangenes zu berufen
-    Gottes Erbarmen zu erflehen
-    Von Gottes Zukunft alles zu erwarten

I.
Da saß das Volk Israel nun wieder in seiner Heimat. Ja, ein Wunder war das gewesen, dass der Perserkönig Kyros Babylon erobert hatte und tatsächlich den Israeliten nach so vielen Jahrzehnten erlaubt hatte, in ihre Heimat zurückzukehren. Was der Prophet den Israeliten im babylonischen Exil verkündigt hatte, was wir am vergangenen Sonntag in der alttestamentlichen Lesung gehört hatten, das hatte Gott eingelöst: Er hatte die Gefangenen Jakobs erlöst, hatte seinem Volk seine ganze Schuld vergeben, hatte mit ihm noch einmal ganz neu angefangen.

Aber nun saßen sie, wie ersehnt, in der Heimat, auf die sie sich so sehr gefreut hatten wie ein kleines Kind auf die Bescherung am Heiligen Abend. Doch es dauerte nicht lange, da stellten sie fest: Das ist noch nicht die endgültige Erfüllung, das ist nicht das erhoffte Paradies auf Erden. Kaum waren die Rückkehrer im Heiligen Land eingetroffen, fingen sie an, Gott zu vergessen, verhielten sie sich wieder ganz ähnlich wie vor ihrer Deportation nach Babylon. Und eben dies schmerzt die Beter des 85. Psalms, und so berufen sie sich vor Gott auf das, was er für sein Volk getan hat, erinnern sich an seine vergangenen Taten, ja, erinnern ihn, Gott, daran, um ihn dazu zu bewegen, sich nicht abzuwenden von seinem Volk, ihm wieder so zu helfen, wie er es in der Vergangenheit getan hatte.

Advent – das ist in besonderer Weise auch Erinnerung an die Vergangenheit: Erinnerung an das, was Gott für sein Volk, was er eben auch für uns in der Vergangenheit getan hat. Erfüllt hatte er damals in der Geburt des kleinen Kindes in der Krippe, was er längst zuvor durch seine Propheten angekündigt hatte, hatte damit gezeigt, dass er wirklich zu seinem Wort steht. Und noch in ganz anderer Weise hatte er dann Vergebung für sein Volk erwirkt durch die Hingabe dieses Kindes in der Krippe, durch die Hingabe seines Sohnes am Kreuz. Advent – das bedeutet, dass wir uns erinnern an Gottes Treue, ja mehr noch: Dass wir Gott an seine Treue erinnern, ihm vor Augen halten, was er für sein Volk, was er für uns getan hat. Ja, das haben wir dringend nötig, wenn uns klar wird, dass mit dem Gesang von Sarah Connor in Wirklichkeit eben noch nicht der Himmel auf die Erde gekommen ist.

II.
Die Beter des 85. Psalms begnügten sich damals nicht damit, darüber zu klagen, dass ja in ihrem Land alles so schrecklich ist; sie begnügten sich erst recht nicht damit, gegen diese Zustände zu demonstrieren. Sondern Sie blickten viel tiefer: Sie erkannten: Was unsere Lage jetzt nach der Rückkehr aus Babylon wirklich schmerzlich macht, ist dies, dass Gott selber sich von uns abgewandt hat, dass wir unter seinem Zorn, unter seiner Ungnade stehen. Alle anderen Probleme, die wir jetzt hier bei uns haben, sind nur Peanuts im Vergleich zu diesem einen Grund zur Klage: „Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für?“

Können, sollen, dürfen wir heute auch so beten? Haben wir dazu auch Grund? Es ist jedenfalls erstaunlich, dass es gerade Psalmen sind, die von Gottes Zorn sprechen, die den Wochen der Adventszeit zugeordnet sind. Das klingt nicht so beschaulich wie ein Traum von weißen Weihnachten oder von den süßen Glocken, die bei leise rieselndem Schnee vor sich dahin klingen. Aber es ist die Wahrheit unseres Lebens. Ja, wir laden uns in unserem Land Gottes Zorn auf den Hals, wenn wir das Weihnachtsfest nur noch in allgemeiner Gefühlsduselei ertränken und über der ganzen Dekoration den vergessen, um dessen Geburt es doch geht: Christ ist erschienen, uns zu versühnen! Wir laden uns Gottes Zorn auf den Hals, wenn wir ihn in unserem Leben immer wieder ganz an die Seite packen und ihm höchstens noch am Heiligen Abend eine Statistenrolle zubilligen. Wir laden uns Gottes Zorn auf den Hals, wenn wir in unserem Leben immer wieder nur um uns selber kreisen, selbst in der Kirche nur noch nach der Befriedigung unserer eigenen religiösen Bedürfnisse fragen und nichts mehr wissen wollen von dem, was der Bruder, was die Schwester in der Gemeinde wirklich braucht, wenn wir uns von ihrer Not unser schönes Weihnachtsfest lieber doch nicht versauen lassen. Ja, wir laden uns gerade damit Gottes Zorn auf den Hals, wenn wir seinen Zorn überhaupt nicht ernst nehmen und meinen, wir könnten ihn benutzen, wie wir wollen.

Ach, wenn wir doch nur in dieser Adventszeit wieder neu aufwachen, dass wir erkennen, wie sehr auch wir Gottes Zorn verdient haben, wie wenig wir von ihm und von unserem Leben verstanden haben, wenn das nicht unsere erste und entscheidende Frage und Bitte bleibt: „Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann? HERR, erweise uns deine Gnade und gib uns dein Heil!“

III.
Und dann haben wir tatsächlich allen Grund, mehr zu erwarten als bloß ein schönes Gefühl oder ein leckeres Essen am Heiligen Abend, mehr als Geschenke und gemütliches Beisammensein. Nicht weniger als auf Gottes Heil warten wir in dieser Adventszeit, auf seine Rettung, auf seine Vergebung, ja, auf nicht weniger als auf sein Kommen.

Ja, es ist ja sogar richtig, dass es auch heute Abend schon bei uns hier in der Kirche Weihnachten wird, wenn Christus zu uns kommt, eingewickelt in den Windeln von Brot und Wein, um uns mit seiner Vergebung zu beschenken, um uns gewiss zu machen: Gottes Zorn hat nicht das letzte Wort über unserem Leben. Doch ebenso richtig ist es, dass wir heute nach dem Empfang des Heiligen Mahles beten werden: Gib, dass wir dadurch stark werden in der Hoffnung auf unseres Leibes Erlösung und freudig warten auf das Kommen unseres Herrn Jesus Christus in Kraft und Herrlichkeit. Wir warten auf unendlich mehr als auf den 24. Dezember, wir warten bei jeder Erfüllung der Versprechen unseres Herrn darauf, dass er uns immer noch mehr versprochen und verheißen hat. „Gib uns dein Heil!“ – Wir werden erst aufhören, diesen Psalm 85 zu beten, wenn Gott selber einmal sichtbar erscheinen wird, wenn der Tag anbrechen wird, an dem wir nie mehr dazu in der Lage sein werden, uns noch einmal von Gott zu entfernen. So lange wird unser Leben als Christen immer ein Leben im Advent sein – in der Vorfreude darauf, dass Gott zu seinen Versprechen steht. Nein, es ist noch nicht Weihnachten! Amen.