23.11.2014 | 2. Petrus 3,8-13 | Ewigkeitssonntag
Pfr. Dr. Gottfried Martens


Zu den ersten Worten auf Farsi, die ich gelernt habe, gehört das Verb „sabr kardan“. „Sabr kardan“ heißt so viel wie: „Geduld haben“ oder „warten“. Und damit ist eine der Hauptbeschäftigungen vieler unserer persischen und afghanischen Gemeindeglieder beschrieben: Sie müssen „sabr kardan“. Das wird schon heute nach dem Mittagessen wieder losgehen, wenn dann 20 Leute bei mir vor der Tür zum Besprechungszimmer stehen und mir allesamt versichern, dass sie keine Zeit haben und ganz schnell losmüssen und darum unbedingt als erste drangenommen werden müssen. Und da ich dann tatsächlich nur einen als ersten drannehmen kann, heißt es am Ende für die anderen: „sabr kardan“, „warten“. Warten müsst ihr aber nicht nur sonntags nach dem Essen, warten müsst ihr oft genug beim Rechtsanwalt, warten müsst ihr oft noch sehr viel länger im Sozialamt oder in der Ausländerbehörde. Ja, all dieses Warten ist noch gar nichts im Vergleich dazu, dass viele von euch nun schon bald eineinhalb Jahre auf ihre Erstanhörung warten, dass viele von euch nun schon jahrelang auf eine Antwort des Bundesamtes warten, ja, dass es manche unter euch gibt, die nun schon mehr als zehn Jahre darauf warten, endlich einen festen Aufenthalt hier in Deutschland zu bekommen. Doch warten müssen eben nicht nur Perser und Afghanen. Was haben viele unserer Schwestern und Brüder aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion in ihrem Leben warten müssen – warten auf die Eltern, die in die Trudarmee verschleppt waren, warten auf den Ehepartner, der im Arbeitslager war, warten auf den Tag, an dem man endlich nicht mehr unter der Kommendatur stand und sich wieder frei bewegen konnte. Und so könnten wohl die meisten von uns solche Geschichten vom Warten in ihrem Leben erzählen. Ja, Warten kann etwas Schweres, etwas Furchtbares im Leben sein, etwas, was einen kaputt macht, wenn man gar nicht weiß, was einen am Ende nach dem ganzen Warten eigentlich erwartet.

In unserer heutigen Predigtlesung macht uns Petrus deutlich, dass es etwas gibt, was noch schlimmer ist als warten zu müssen: nämlich gar nicht mehr zu warten, nichts mehr zu erwarten, oder zumindest das Wichtigste und Entscheidende im Leben nicht mehr zu erwarten. Wenn wir auf etwas lange gewartet haben, dann sehnen wir uns ja nach der Zeit, in der wir nicht mehr warten müssen. Wenn wir erst einmal den Pass haben, wenn wir erst einmal den Abschluss haben, wenn wir, ja wenn wir ... Doch ein Leben, in dem wir nichts mehr erwarten, in dem wir nur noch vor uns dahinleben, hat letztlich seinen Sinn, seinen Zielpunkt verloren, so macht es uns unsere Predigtlesung deutlich.

Genau das hingegen kennzeichnet uns als Christen, dass wir wartende Menschen sind, dass wir tatsächlich noch etwas erwarten, etwas ungeheuer Großes erwarten, dass wir uns nicht damit zufrieden geben, wie unser Leben jetzt und hier ist, dass wir uns nicht zufrieden geben mit einem Pass, mit einer Arbeit, mit einer Wohnung, mit einer Familie, mit ein paar Hobbys, mit ein paar Freunden. Wir warten als Christen auf etwas ganz Anderes: „Wir warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.“

Was für eine Zukunftsperspektive! Wir warten nicht darauf, dass es uns irgendwann vielleicht mal etwas besser geht, wir warten nicht auf einen Prozess mit ungewissem Ausgang, wir warten erst recht nicht ab einem gewissen Lebensalter nur noch auf unseren Tod. Sondern wir warten darauf, dass nicht nur in unserem Leben, sondern in unserer Welt alles neu wird, ja, mehr noch: Wir warten auf eine ganz neue Welt, in der es all das nicht mehr geben wird, was uns das Warten jetzt noch so schwer macht. Und das Allerwichtigste in dieser neuen Welt wird sein: In ihr wird Gerechtigkeit wohnen. Jetzt im Augenblick erfahren wir in unserem Leben ja noch so vieles, was unserem Gerechtigkeitsempfinden widerspricht: Warum musste ein geliebter Mensch so früh sterben? Warum muss ich in meinem Leben so viel Leid erfahren? Warum soll ich hier aus Deutschland wieder abgeschoben werden? Warum musste ich in meiner Heimat so schreckliche Dinge erleben, die mich bis in den Schlaf verfolgen? Warum darf ich hier in Deutschland nicht studieren? Doch in Gottes neuer Welt wird es solche Fragen nicht mehr geben. Sie werden sich alle auflösen in dem Augenblick, in dem wir Christus, unseren Herrn, mit eigenen Augen sehen werden, ihn, unseren Herrn, der für uns noch in ganz anderem Sinne Gerechtigkeit geschaffen hat, als er unsere Sünde und Schuld für uns am Kreuz auf sich genommen und weggetragen hat.

Ja, auf diesen neuen Himmel und auf diese neue Erde lohnt es sich zu warten, so sehr, dass die Frage berechtigt erscheint: Warum lässt uns Gott darauf überhaupt noch warten, warum hat er den Tag noch nicht anbrechen lassen, an dem er diese neue Welt für uns schaffen wird? Ja, ist das Warten darauf vielleicht doch umsonst? Sind dieser neue Himmel und diese neue Erde vielleicht doch nur ein schöner Wunschtraum, der niemals Wirklichkeit werden wird? Genau diese Fragen stellten sich auch damals schon die Menschen zu der Zeit, als der 2. Petrusbrief damals geschrieben wurde. Und der gibt darauf zwei Antworten: Zum einen verweist er darauf, dass unsere Zeitrechnung nicht Gottes Zeitrechnung ist. Was uns so lange erscheint, sieht in Gottes Augen ganz anders aus, für den tausend Jahre wie ein Tag und ein Tag wie tausend Jahre sind. Zum anderen aber und vor allem nennt der 2. Petrusbrief hier einen noch tröstlicheren Grund dafür, dass Gott uns immer noch warten lässt: In Wirklichkeit warten gar nicht wir. Sondern Gott wartet, Gottes Beschäftigung ist „sabr kardan“: Gott hat Geduld mit uns und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße findet. Gott will nicht, dass auch nur ein Mensch in die Hölle kommt. Gott will, dass alle Menschen den Weg zu ihm, zu seinem Sohn Jesus Christus finden. Gott hat seinen letzten Tag noch nicht anbrechen lassen, damit ihr alle, die ihr hier heute Morgen in der Kirche sitzt, alle noch zu Christus finden konntet. Gott hat auf euch gewartet, und er wartet auch darauf, dass so mancher, der vielleicht schon einmal den Weg zu ihm gefunden hatte und dann doch wieder auf andere Wege geraten ist, doch noch wieder neu den Weg zu ihm zurückfindet. Gott hat gewartet, hat auf euch gewartet bis zum heutigen Tag – und kriegt sich vor Freude gar nicht mehr ein, wenn er euch hier sieht, wenn er sieht, wie sehr sich sein Warten auf euch gelohnt hat.

Doch halt – das bedeutet gerade nicht, dass Gott einfach nur ein gutmütiger alter Onkel wäre, dem wir nach Belieben auf dem Kopf herumtanzen können, weil er ja doch nichts tut. Irgendwann wird Gott seinen großen Tag kommen lassen, irgendwann wird auch Gott aufhören zu warten, wird mit dem Kommen seiner neuen Welt zugleich die Welt, wie sie jetzt ist, vergehen lassen. Ja, plötzlich wird das geschehen, wenn die meisten Menschen nicht damit rechnen, wenn die meisten mit ihm, Gott, überhaupt nicht mehr rechnen, geschweige denn damit, dass der Tag des Gerichts so plötzlich auch über sie, über ihr Leben hereinbrechen könnte. Das mit dem Warten auf Gottes neue Welt ist schon eine ernste Angelegenheit, die hier und jetzt schon unser Leben bestimmen soll.

Auf Gottes neue Welt zu warten, heißt ja gerade nicht: In der Ecke oder in der Warteschlange herumzustehen und nichts zu tun. Sondern gerade weil wir wissen, was für eine großartige Zukunftsperspektive wir haben, tun wir gut daran, unser Leben ganz auf Christus auszurichten – und das heißt eben gerade auch: auf unseren Nächsten auszurichten, ihm in Liebe zu begegnen. Gerade weil wir als Christen wissen, dass Gott eine neue Welt schafft, in der Gerechtigkeit wohnt, setzen wir uns hier und jetzt für Gerechtigkeit ein, solange diese alte Welt noch steht. Gerade weil wir wissen, dass Gott uns zu Menschen gemacht hat, die in seinen Augen gut und richtig dastehen, laden wir andere Menschen ein, sich auch von Christus beschenken zu lassen, leben wir so, dass auch andere erkennen können, dass wir Christen sind. Entscheidend ist für uns doch nicht, was andere Menschen über uns denken, sondern was Gott über uns denkt, wie er über uns urteilt.

Nein, Warten muss nicht unbedingt etwas Schreckliches und Deprimierendes sein. Wenn wir wissen, dass etwas richtig Schönes auf uns zukommt, dann kann auch das Warten darauf etwas richtig Schönes sein. In diesem Sinne wollen wir jetzt ab nächster Woche die Adventszeit als eine Zeit des Wartens begehen. Aber in diesem Sinne wollen wir eben auch unser ganzes Leben als eine Zeit des Wartens gestalten, als eine Zeit des Wartens, in der dann auch alles Traurige und Schwere seinen Platz hat. Auch das jahrelange Warten auf eine Antwort des Bundesamts, auch die große Leere, die wir nach dem Tod eines geliebten Menschen in unserem Leben empfinden mögen, ja auch all die schmerzlichen Erinnerungen, die wir in unserem Leben mit uns herumschleppen, ja, auch all dies ist nicht sinnlos. Denn wir warten doch mit gutem Grund darauf, dass Gott all dies einmal verwandeln wird in Freude, in Glück, in Dankbarkeit. Wir warten darauf, dass unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Leben einmal endgültig erfüllt werden wird. Ja, wir warten auf den neuen Himmel und die neue Erde, in dem wir eine Vokabel einmal nie mehr gebrauchen werden: „sabr kardan“, „warten“. Nie mehr warten zu müssen – darauf lohnt es sich doch zu warten, oder? Amen.