16.11.2014 | 2. Korinther 5,1-10 | Vorletzter Sonntag des Kirchenjahrs
Pfr. Dr. Gottfried Martens

„Fünf Jahre bin ich nun schon auf der Flucht. Nun möchte ich endlich irgendwo ankommen und zu Hause sein!“ Immer wieder höre ich solche und ähnliche Äußerungen hier in unserer Gemeinde – und ich kann sie so gut verstehen. Fünf Jahre immer nur unterwegs sein, fünf Jahre leben in dem Wissen: Hier, wo du im Augenblick bist, kannst du auf die Dauer nicht bleiben, du musst immer noch weiter, immer weiter auf der Suche danach, irgendwann irgendwo wirklich anzukommen. Fünf Jahre auf der Flucht – fünf Jahre, in denen man immer wieder auf der Straße, im Wald schlafen musste, oder versteckt in irgendwelchen Häusern, immer in der Angst, erwischt und dafür ins Gefängnis gesteckt zu werden, dass man das furchtbare Verbrechen begangen hat, ein Flüchtling zu sein. Fünf Jahre auf der Flucht – und wenn man dann endlich ein festes Zuhause in Aussicht hat, geht alles wieder von vorne los, wird man dank des Dublin-Abkommens wie ein Spielball von einem Land ins Nächste befördert. Ja, wann kann ich endlich irgendwo ganz zu Hause sein?

Genau diese Frage stellt sich auch der Apostel Paulus in der Predigtlesung des heutigen Sonntags: Zu Hause sein will auch er endlich – und erkennt doch zugleich ganz klar: Solange wir hier auf Erden leben, sind und bleiben wir alle miteinander Ausländer, Flüchtlinge, die unterwegs sind, noch nicht am Ziel angekommen sind.

Ist uns das eigentlich bewusst, dass wir unser ganzes Leben lang Ausländer, Flüchtlinge sind und bleiben? Oder vergessen wir das in unserem Leben mitunter dann doch so schnell, weil wir uns hier so gut eingerichtet haben, weil wir hier auf Erden so sesshaft geworden sind in unserem Alltag, dass wir hier eigentlich gar nicht mehr weg wollen? Vergessen wir das in unserem Leben mitunter gerade auch dann so schnell, wenn wir erst einmal unseren blauen Pass in den Händen haben und denken, jetzt hätten wir es geschafft, jetzt seien wir am Ziel? Nein, Deutschland ist nicht das Paradies, nicht das Ziel unseres Lebens, nicht unsere ewige Heimat, ganz gleich, ob wir Deutsche, Perser, Afghanen oder Amerikaner sind. In jedem Land der Welt sind und bleiben wir Nomaden, Menschen, denen gar nichts Anderes übrig bleibt, als weiterzuziehen.

In Zelten leben wir hier auf Erden, so formuliert es der Apostel Paulus hier. Für viele Flüchtlinge im Nahen Osten gilt dies ja im ganz direkt wahrnehmbaren Sinne, und auch hier bei uns in Steglitz haben wir immer wieder schon so manchen aufgenommen, der noch nicht einmal ein Zelt zum Schlafen hatte, sondern auf einer Parkbank hätte übernachten müssen, weil die Behörden hier in Berlin mit dem Flüchtlingszustrom schlicht und einfach überfordert sind. Aber in Zelten leben wir eben auch dann noch, wenn wir den ersehnten Mietvertrag für die kleine Wohnung unterschrieben haben, ja auch, wenn wir in solch einer Wohnung vielleicht schon viele Jahre leben. In einem Zelt leben wir auch hier in dieser Kirche, in einem Zelt, das sich zwar reparieren lässt, das irgendwann einmal aber eben doch auch wird abgebrochen werden müssen, wie es der Apostel Paulus hier formuliert. Selbst unsere Kirche ist nicht mehr als ein Übergangswohnheim, Raststätte für zwischendurch auf dem Weg, mehr nicht.

Doch Paulus wendet dieses Bild vom Zelt auch noch einmal in einem anderen Sinne an, spricht von unserem Körper als einem Zelt, in dem wir untergebracht sind, oder als einem Kleid, das uns umgibt und ohne das wir letztlich nicht leben können. Und davon können nun so viele von uns etwas erzählen, dass dieses Zelt in der Tat etwas sehr Provisorisches ist, etwas, was im Laufe der Zeit immer mehr nur sehr notdürftig ausgebessert und geflickt werden kann, was offenkundig nur ein sehr begrenztes Haltbarkeitsdatum hat. Davon können natürlich viele der Älteren unter uns erzählen, wie beschwerlich das Leben in dieser Zeltwohnung auf die Dauer sein kann, was sich alles eben auch nicht mehr in Ordnung bringen und den Weg zum Ziel zunehmend mühsam werden lässt. Davon können aber auch Jüngere erzählen, wie ihre Lebenskräfte, gerade auch ihre seelischen Kräfte durch das, was sie in ihrem Leben schon durchgemacht haben, schon früh verbraucht zu sein scheinen, wie sie viel schneller älter, ja alt geworden sind, als dies ihrem Ausweis zu entnehmen ist. Ja, es geht dem Abbruch entgegen, machen wir uns nichts vor. Es ist schon etwas dran an dem Sprichwort: „Wenn man mit über 50 morgens aufwacht, und es tut einem nichts weh, dann ist man tot.“ Ich bin über 50, ich weiß, wovon ich rede.  

Leben im Zelt – wie kann man das auf Dauer aushalten, ohne die eigene Situation zu verdrängen, wie kann man sich auch davor schützen, nun doch dieses Zelt als letzten und endgültigen Wohnsitz zu verstehen? Das geht, so macht es der Apostel Paulus, solange man weiß, wo man hingehört, wo das Zuhause ist, solange man weiß, dass man da auch mal ankommen wird. Jawohl, Flüchtlinge sind wir alle miteinander, das ist richtig. Aber wir sind auf dem Weg zum Ziel eben, gottlob, keine Dublin-Fälle, die nicht wissen, wo sie am Ende landen werden, die nicht wissen, ob sie überhaupt irgendwann mal irgendwo heimisch werden. Wir wissen, wo es hingeht, wir wissen, dass uns ein festes Zuhause erwartet, aus dem wir nie mehr abgeschoben werden können, das auch niemals veraltet sein und abgebrochen werden wird, das keine Macken und Mängel haben wird, an dem nie etwas repariert werden muss. Was für eine wunderbare Aussicht: keine Alpträume mehr, in denen einen immer wieder die schreckliche Erinnerung an früher einholt, keine schmerzenden Knochen mehr, keine Traurigkeit in der Seele, keine Zahnschmerzen, keine Müdigkeit. Keine Angst vor gelben Briefen, keine Angst davor, einmal ganz allein ohne Hilfe zu bleiben, kein Mehrbettzimmer mit radikalen Muslimen, keine Angst vor Demenz und Pflegebedürftigkeit. Einfach nur zu Hause sein in einem Körper, den Gott ganz neu geschaffen hat. Einfach nur zu Hause sein in einer Stadt, in der es keine Wohnungsnot gibt, in einer Stadt, die erleuchtet ist von dem strahlenden, warmen Licht der Gegenwart unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus, in einer Stadt, in der wir einmal für immer aufatmen werden.

Ja, wenn man weiß, dass man dort ankommt, dass man dort sein Zuhause hat, dann kann man es aushalten, noch unterwegs, noch Flüchtling zu sein. Und diese Gewissheit, die dürfen wir haben, so betont der Apostel, denn Gott hat uns sozusagen schon den Schlüssel für diese Unterkunft in die Hand gedrückt, hat uns den Heiligen Geist als Unterpfand, als Anzahlung in der Taufe geschenkt. Es ist nicht mehr unklar, ob wir dort in unsere Wohnung bei Gott einziehen werden. Gott hat alles schon fertig vorbereitet. Was für eine tröstliche Aussicht!

Ja, kein Wunder, dass der Apostel Paulus selber am liebsten sofort umziehen würde, sofort das Leben als Flüchtling gegen dieses Leben in der Gegenwart Christi eintauschen würde. Vielen von euch sind solche Gedanken auch wohlbekannt. Ja, solche Gedanken können sogar so stark werden, dass man in der Versuchung steht, dem Umzug ein wenig nachzuhelfen, selber den Umzugstermin vorzuverlegen. Doch dazu will uns der Apostel Paulus gerade nicht verleiten. Gott allein ist es, der den Umzugstermin festsetzen soll, und Gott weiß auch, dass wir jetzt und hier in unserem Leben in der Fremde noch Aufgaben zu erledigen haben, dass wir hier und jetzt noch gebraucht werden, auch wenn wir das nicht immer gleich erkennen können. Ja, gerade weil wir uns um unsere Heimat, um unsere Zukunft keine Gedanken machen müssen, können wir uns darauf konzentrieren, hier und jetzt so zu leben, dass Gott daran Freude hat, dass wir unserem Nächsten in Liebe dienen. Ja, in diesem Dienst dürfen wir uns ruhig auch aufreiben. Wir wissen ja, was nach dem Abriss des Zeltes kommt.

Nein, natürlich ist es nicht egal, wie wir jetzt hier auf Erden unser Leben verbringen. Wir werden einmal nach unserem Leben gefragt werden, nach allem, was wir getan und was wir nicht getan haben, ja, nach der Liebe, die Gott von uns erwartet. Was da alles herauskommen wird, wenn wir einmal offenbar werden, wenn wir einmal in das helle Licht Jesu Christi getaucht werden, das wird für uns nicht unbedingt nur angenehm sein, das würde allemal ausreichen, um uns am Ende dann doch ganz woanders landen zu lassen als in dem festen Haus bei Gott. Doch gottlob, es ist ja Christus, der da auf dem Richterstuhl sitzt, derselbe Christus, der deine und meine Sünde am Kreuz auf sich genommen und weggetragen hat, derselbe Christus, dessen Leib und Blut du auch heute wieder im Heiligen Mahl empfängst. Darum kannst du diesem Richterstuhl getrost entgegenblicken, brauchst du keine Angst zu haben, bei Christus schließlich doch als Dublin-Fall zu enden, der nicht dort ankommt, wo er möchte. Ja, wir sind noch unterwegs. Aber bei der Aussicht, die wir haben, lohnt es sich allemal, nicht aufzugeben. Wir werden einmal zu Hause sein – für immer, bei dem Herrn. Amen.