19.10.2014 | Epheser 5,15-21 | 18. Sonntag nach Trinitatis
Pfr. Dr. Gottfried Martens

„Ich habe keine Zeit!“ – Wie häufig ist uns dieser Satz selber schon über die Lippen gekommen, wie häufig haben wir ihn schon von anderen gehört! „Ich habe keine Zeit!“ – Das klingt so einleuchtend, so unwiderlegbar: Das ist eben unser Schicksal, dass wir keine Zeit haben.

Doch in Wirklichkeit ist dieser Satz natürlich ziemlicher Unsinn: Wir haben als Menschen alle miteinander dieselbe Zeit, 24 Stunden am Tag, 168 Stunden in der Woche. Es stimmt nicht, dass wir keine Zeit haben. Wir haben viel Zeit, die uns von Gott anvertraut ist. Es geht einzig und allein darum, wie wir diese Zeit nutzen. Statt zu sagen: „Ich habe keine Zeit!“ müssten wir genauer eigentlich immer sagen: „Ich nehme mir für dieses oder jenes keine Zeit.“

„Ich habe keine Zeit!“ – Scheint nicht auch der Apostel Paulus in dieses Horn zu stoßen, wenn er hier in unserer Predigtlesung die Christen auffordert: „Kauft die Zeit aus!“? Spricht er damit nicht genau das Zeitgefühl vieler Menschen heute an, die ständig unter dem Eindruck leben, sie würden etwas verpassen, nicht genügend mitbekommen in den paar Jahren, die ihnen hier auf Erden bleiben? Kauft die Zeit aus – heißt das in unsere Sprache übersetzt: „Europe in 10 days“, schnell mal in einer guten Woche alle wichtigen Sehenswürdigkeiten Europas anschauen, schnell mal am Wochenende von einer Party zur anderen hetzen, weil man ja sonst einen Höhepunkt verpassen könnte, ja, überhaupt: schnell, schnell, schnell, hier rein, dort raus, am besten auch erst zum zweiten Teil des Gottesdienstes kommen, schnell das Abendmahl und das Mittagessen mitnehmen und dann wieder ganz schnell los – zu viel Zeit möchte man ja auch am Sonntag nicht vergeuden?

Dem Apostel Paulus ging es damals um etwas ganz Anderes: „So seht nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise“, so schreibt er hier. „Seht sorgfältig darauf“ – das heißt: Macht euch einfach mal Gedanken darüber, wovon ihr euch eigentlich so sehr treiben und hetzen lasst, was scheinbar so wichtig ist, dass ihr in eurem Leben überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommt! Fragt euch, was eigentlich die Maßstäbe in eurem Leben dafür sind, wofür ihr Zeit habt und wofür ihr keine Zeit habt! Hetzt ihr euch etwa deshalb so ab, weil euch im Hinterkopf die Angst treibt, ihr hättet nur dies eine Leben und müsstet darum so viel wie möglich in dieses eine Leben hineinpacken? Gibt das eurem Leben Sinn, dass ihr möglichst viel erfahren, möglichst viel ausprobiert habt, möglichst viel erreicht habt? Ja, könnte es sein, dass euer ganzes Leben eigentlich gelebter Unglaube ist, der das Ziel unseres Lebens gar nicht mehr im Blick hat, der sich so an die Zeit klammert, weil er von der Ewigkeit nichts wissen will?

„Unweise“ nennt der Apostel Paulus einen Lebensstil, der das Ziel unseres Lebens ausklammert, der allen Ernstes glaubt, dadurch etwas gewinnen zu können, dass er an der Zeit für die Begegnung mit Christus spart. „Unweise“ nennt der Apostel Paulus einen Lebensstil, der nur noch darauf aus ist, etwas zu tun und zu erleben, und in dem kein Platz mehr dafür ist, sich von Gott beschenken zu lassen. „Unweise“ nennt der Apostel Paulus einen Lebensstil, der überhaupt nicht mehr bedenkt, dass hier und jetzt in diesem Leben die Entscheidung darüber fällt, ob wir unser Leben verfehlen oder nicht, ob wir uns am Ende mit unserem Leben vor Gott verantworten können oder nicht.

„Ich habe keine Zeit“ – ja, wofür habe ich keine Zeit, und wofür bleibt mir ganz selbstverständlich Zeit? Da erlebe ich es immer wieder, dass ich von bestimmten Leuten per Facebook fast täglich Einladungen erhalte, an irgendwelchen Computerspielen mich zu beteiligen. Aber dieselben Leute versichern mir treuherzig, dass sie natürlich so viel zu tun haben, dass sie sonntags einfach keine Zeit haben, zum Gottesdienst zu kommen. Jeder baut sich in seinem Leben unbewusst oder bewusst eine Rangfolge von Dingen auf, die für ihn wichtig sind: Geldverdienen, Freunde, Familie, Schule, Computerspielen, Hobbys – ja, dafür muss man doch einfach Zeit haben. Und Gott? Und Christus? Sind sie Lückenbüßer, die ich in meinem Leben einbaue, wenn ich noch Zeit übrig habe, oder baue ich sie in meinem Leben genauso fest ein wie andere Dinge auch, auf die ich keinesfalls verzichten will?

„Kauft die Zeit aus!“ – Paulus meint dabei: Nutzt die Zeit, die euch Gott geschenkt hat, so aus, dass es euch hilft, das Ziel eures Lebens zu erreichen! Ja, passt auf dabei, es ist böse Zeit, es ist eine Zeit, heute genauso wie vor 2000 Jahren, in der es so vieles gibt, was sich vor Christus zu schieben droht, ihn an den Rand unseres Lebens zu drängen droht! Nehmt euch die Zeit, um euch immer wieder zu fragen: Verbringe ich meine Lebenszeit eigentlich sinnvoll? „Versteht, was der Wille des Herrn ist“, schreibt der Apostel. Fragt euch immer wieder, was Christus eigentlich von euch erwartet, wie ihr ihm in eurem Leben dienen könnt!

Ja, ich weiß, es gibt auch die andere Versuchung: Nicht die ganze Zeit zu hetzen, sondern einfach nur herumzuhängen, ja, scheinbar auch gezwungenermaßen, wenn einen die unglaubliche Dauer der Asylverfahren so lange nicht vorankommen lässt. Und da ist die Gefahr dann in der Tat auch groß, sich die Birne zuzudröhnen, damit man das alles in seinem Leben nicht mehr so klar mitbekommt, was einen doch nur belastet und herunterzieht. „Sauft euch nicht voll Wein“, schreibt der Apostel. Nein, Paulus hat nichts gegen Alkohol, er kann an anderer Stelle sogar das Trinken von Wein empfehlen. Aber er warnt die Christen, warnt auch uns davor, dass wir uns besaufen, ja dass wir unser Leben durch Alkohol und andere Drogen so weit betäuben, dass wir gar nicht mehr dazu in der Lage sind, zu tun, was nötig ist. „Kifft euch nicht zu“, „sauft euch nicht voll“, flieht nicht aus dieser Welt mit all ihren Problemen, sondern stellt euch ihnen! Denkt doch daran, dass ihr allezeit dazu bereit sein sollt, Christus, dem wiederkommenden Herrn, zu begegnen! Bleibt eben von daher nüchtern!

Doch nun begnügt sich der Apostel hier natürlich nicht damit, uns einen Vortrag über christliches Zeitmanagement zu halten und uns dazu einige gute Verhaltenstipps zu geben. Ganz deutlich benennt er den Hintergrund, auf dem er dies alles beschreibt: Wir brauchen uns das Gelingen unseres Lebens nicht mehr zu erarbeiten, auch und gerade nicht dadurch, dass wir bestimmte religiöse Gesetze einhalten. Wir müssen nicht fünfmal am Tag beten, damit wir in den Himmel kommen, wir müssen nicht eine bestimmte Zeit am Tag für Gott verbringen, damit er uns dafür belohnt. Sondern wir sind gerade darum freie Menschen, weil wir wissen, dass wir unendlich viel Zeit haben, weil wir wissen, dass vor uns noch eine ganze Ewigkeit liegt. Ja, freie Menschen sind wir, weil wir wissen, dass wir durch Christus schon erlöst und gerettet sind, dass uns die Türen zum Himmel offen stehen. Das ist der Grund dafür, dass Paulus uns hier so wenig konkrete Vorschriften macht. Er sagt einfach nur: Denkt nach, seid weise, lasst euch von Gottes Geist leiten – dann werdet ihr als Christen euer Leben so führen, wie es gut und richtig ist. So groß ist die Freiheit, die wir als erlöste Kinder Gottes haben.

Eines macht uns Paulus dann aber schließlich auch noch deutlich: Ein besonderer Ausdruck dieser Freiheit, die wir als Kinder Gottes haben, ist das gemeinsame Singen, ist das gemeinsame Lob Gottes, ist der gemeinsame Gottesdienst. Gott gemeinsam zu loben, ihm zu singen, ist völlig zwecklos. Und das ist gerade das Wunderbare daran. Es ist schon ein Vorgeschmack der Ewigkeit, in der wir endgültig nie mehr das Gefühl haben werden, keine Zeit zu haben, in der wir endgültig nie mehr gehetzt sein werden oder umgekehrt meinen werden, unsere Zeit sinnlos zu verbringen. In der Ewigkeit werden wir endgültig erfahren, dass das unsere letzte Bestimmung als Menschen ist: Gott zu loben, mit Gott zu feiern, mit Gott fröhlich zu sein. Wenn wir Gottesdienst feiern, dann erleben wir also schon einen Vorgeschmack des Zieles unseres Lebens. Wer meint, dafür keine Zeit zu haben, hat in der Tat noch überhaupt nicht verstanden, wozu er eigentlich geschaffen ist, ja, wie wunderbar es ist, durch Christus erlöst zu sein. Ja, wir haben Zeit, Gott zu loben, wir haben Zeit, uns von Gott beschenken zu lassen, denn Gott schenkt uns diese Zeit – Woche für Woche neu, Gott sei Dank! Amen.