06.08.2014 | St. Lukas 14,7-14 | Mittwoch nach dem 7. Sonntag nach Trinitatis
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Habt Ihr das auch schon mal erlebt: Da sitzt ihr im Wartesaal eines Arztes. Am Anfang ist es noch ziemlich leer, dann wird es immer voller. Und dann werden die Leute aufgerufen – doch ihr kommt einfach nicht dran. Lauter Leute, die nach euch gekommen sind, kommen nun vor euch dran, obwohl ihr doch eigentlich auch einen festen Termin hattet. Ihr ahnt es – das sind vermutlich Privatpatienten oder Leute mit einem speziellen Draht zum Doktor. Und so sitzt ihr da hilflos, erlebt, wie ihr immer weiter nach hinten durchgereicht werdet.

Privat- und Kassenpatienten beim Doktor, die gab es damals zur Zeit Jesu noch nicht in Israel. Dafür spielten Einladungen zu gemeinsamen Mahlzeiten damals eine noch viel größere Rolle als bei uns heute, war es durchaus wichtig, mit wem man zusammen eingeladen war und an welcher Stelle am Tisch man dann sitzen beziehungsweise liegen durfte – ob nun in der Nähe des Gastgebers oder eher am anderen Ende der Tafel. Natürlich wollte jeder gerne vorne sitzen; das war ja ein Ehrenplatz. Aber nicht nur ärgerlich, sondern geradezu peinlich war es, wenn man dann von dem Gastgeber auf einen der hinteren Plätze komplimentiert wurde. Das war noch sehr viel schlimmer, als beim Arzt immer wieder übergangen zu werden.

Um Ängste geht es in unserer heutigen Tageslesung, um die Angst, im Leben etwas zu verpassen, nicht genügend gewürdigt zu werden, nicht genügend mitzubekommen, einfach übergangen zu werden. Solche Ängste kennen wir alle miteinander, ganz gleich, ob wir im Wartezimmer sitzen oder vielleicht auch, wenn wir sonntags beim Mittagessen in den Gemeinderäumen sitzen oder wenn es gar darum geht, nach dem Essen einen Termin beim Pastor abzubekommen. Ja, es geht auch nicht bloß um Vorgänge hier in unserer Kirche; es geht um unser Leben insgesamt. Es ist dieselbe Angst und Sorge, die schon die Israeliten damals in der Wüste hatten, die auch uns immer wieder packt, uns entweder sehnsüchtig in die Vergangenheit schielen lässt oder uns dazu verleitet, uns mit unseren Ellenbogen den einen oder anderen Vorteil zu verschaffen, der uns doch nach unserer festen Überzeugung einfach zusteht.

Trösten und ermutigen will uns Christus, unser Herr, in den Worten unserer heutigen Predigtlesung, indem er uns darauf verweist, dass es im Reich Gottes ganz anders zugeht. Im Reich Gottes muss keiner Angst davor haben, zu kurz zu kommen, etwas wirklich Wichtiges zu verpassen, ja, einfach übergangen zu werden. Im Gegenteil: Gerade diejenigen, die ansonsten in ihrem Leben den Eindruck haben, dass sie immer wieder am Ende der Schlange stehen, dass sie irgendwo ganz unten angesiedelt sind, gerade diejenigen werden erfahren, dass sie bei Gott ganz groß rauskommen, bei ihm ganz wichtig sind. Nein, das ist nicht erst eine Erfahrung, die wir irgendwann mal nach unserem Tod oder nach der Wiederkunft des Herrn machen können. Genau diese Erfahrung dürfen wir schon jetzt und hier machen – in jedem Gottesdienst, bei jeder Feier des Heiligen Abendmahls. Gewiss, auch da gilt es für uns, Geduld zu haben, können nicht alle gleich am Anfang das Sakrament empfangen. Und doch ist keiner besser und keiner schlechter dran, der früher oder später zum Tisch des Herrn geht. Keiner muss Angst haben, dass Christus sich mit ihm nicht mehr verbindet, wenn er erst etwas später an den Altar herantritt; keiner muss Angst haben, dass ihm die Gabe des Sakraments vorenthalten bleibt: Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit. Erster und Letzter – das spielt hier an Gottes Tisch keine Rolle. Ich freue mich darüber, dass das die Glieder unserer Gemeinde so gut verinnerlicht haben. Gewiss, es gibt da immer einige, die gerade am Sonntag bei der Sakramentsfeier gleich nach vorne stürmen, kaum dass ich die Worte der Einladung ausgesprochen habe. Aber gerade in unseren Abendgottesdiensten kommt doch oft einer dem anderen so sehr mit Ehrerbietung zuvor, dass ich am Anfang der Austeilung oft etwas länger warten muss, weil keiner sich vordrängeln möchte. Was für ein schönes Problem!

Ja, hier am Altar erfahrt ihr es alle miteinander: Bei Gott kommt keiner zu kurz; bei Gott ist keiner weniger wichtig als der andere. Bei Gott bekomme ich tatsächlich alles, was für mich und mein Leben wirklich wichtig ist! Das nimmt uns Ängste, das lässt uns aufatmen, das schenkt Gelassenheit, nimmt uns den Zwang, uns vor andere Menschen drängeln zu müssen. Ja, das gibt uns einen Wert, den uns keiner nehmen kann. In der Tat: Bei Gott sitzt du immer in der ersten Reihe.

Aber nun erleben wir hier am Altar zugleich noch etwas Anderes: Wir werden durch die gemeinsame Teilhabe am Leib und Blut Christi zugleich auch mit Menschen verbunden, mit denen wir normalerweise in unserem Alltag sonst gar keine Verbindung hätten, mit Menschen, die eine völlig andere Lebensgeschichte haben als wir, die vielleicht auch einen ganz anderen sozialen Status haben als wir. Ja, ein Wunder ist es, dass wir einander hier durch das Heilige Mahl doch als Schwestern und Brüder wahrnehmen, als Menschen, mit denen wir viel enger verbunden sind als mit anderen Menschen, die uns doch scheinbar erst einmal viel näherstehen.

Und das wird sich auswirken, so macht es uns Christus hier in unserer Predigtlesung deutlich. Wenn du erkennst, was hier am Altar tatsächlich geschieht, wie Christus dich hier mit Menschen zusammenschließt, die so ganz anders als du zu sein scheinen, dann liegt es geradezu nahe, dass du eben diese Menschen dann auch danach näher kennenlernen möchtest, mit ihnen zusammen sein möchtest. Und dann kann es glatt passieren, dass du Menschen zu dir in deine Wohnung, in dein Zimmer einlädst, von denen du früher nie gedacht hättest, dass du sie einmal als deine Gäste haben könntest. Dann kann es glatt passieren, dass du merkst: Das ist kein Opfer, das du da bringst, sondern da wirst du selber beschenkt und bereichert durch Menschen, die dir vor kurzem noch so fremd waren und mit denen dich nun eben doch die Teilhabe an Christus verbindet.

Ja, das kann glatt passieren – und darüber hinaus entspricht es dann auch noch dem, was Christus seinen Jüngern hier in unserer Predigtlesung ans Herz legt: Bei Einladungen sollten wir nicht darauf achten, was der Etikette von Einladung und Gegeneinladung entspricht, was uns vielleicht den einen oder anderen Vorteil einbringt. Sondern wir sollten Menschen einladen, von denen wir, taktisch gesprochen, erst einmal überhaupt keinen Vorteil erwarten können, Menschen, die uns scheinbar gar nichts bringen. Wer erfährt, dass ihm im Heiligen Mahl alles geschenkt wird, was er braucht, der ist nicht mehr darauf angewiesen, darauf zu schauen, was einem eine Einladung an andere bringt. Der ist dazu in der Lage, einfach die Freude weiterzureichen, die er selber hier am Altar geschenkt bekommen hat. Und der wird dann sogar erkennen, dass ihn diese Einladungen, diese Begegnungen nicht ärmer, sondern reicher machen. Seid also einfach mal scheinbar so verrückt und sprecht nach den Gottesdiensten Menschen an, die ihr vielleicht noch gar nicht so kennt, und ladet sie ein, ganz ohne Hintergedanken, einfach nur aus Freude darüber, dass ihr mit ihnen gemeinsam das Mahl des Herrn empfangen habt. Ihr werdet staunen, was für einen Segen Christus auf solche Begegnungen zu legen vermag.

Ja, genau das probieren wir ja auch jeden Sonntag bei uns nach dem Gottesdienst aus. Da sitzen wir auch zusammen beim Essen, wie schön, wie biblisch! Und da gibt es dann tatsächlich auch immer wieder den einen oder anderen, der sich hier erst zum Essen blicken lässt. Nein, regen wir uns darüber nicht auf, verlangen wir keine Gegenleistungen dafür, dass Menschen hier an unserem Mittagsmahl teilhaben! Jesus verlangt keine Gegenleistung dafür, dass wir seinen Leib und sein Blut im Heiligen Mahl empfangen – wie sollten wir da Gegenleistungen für unsere Gastfreundschaft verlangen können! Keine Sorge: Wir kommen deshalb nicht zu kurz. Der damals 5000 Leute satt gemacht hat, der wird auch uns nicht im Stich lassen, hat uns doch schon so viele Wunder in unserer Mitte erfahren lassen. Niemand wird sich an unseren Tischen niederlassen, für den er, Christus, nicht am Kreuz gestorben wäre. Reicht das nicht als Grund, ihn einzuladen – sonntags hier bei uns und vielleicht dann auch noch in unsere Wohn- und Esszimmer? Amen.