22.06.2014 | 5. Mose 6,4-9 | Erster Sonntag nach Trinitatis
Pfr. Dr. Gottfried Martens

„Ich bin Gott nachgegangen, auch wenn er mich von sich geschoben hat, ich habe sein Gebot erfüllt, auch wenn er mich dafür geschlagen hat, ich habe ihn liebgehabt und war und bin verliebt in ihn, auch wenn er mich zur Erde erniedrigt, zu Tode gepeinigt, zur Schande und zum Gespött gemacht hat“, so spricht Jossel Rackower in einer Erzählung von Zvi Kolitz kurz vor seinem Tod im Anblick des untergehenden Warschauer Ghettos. Und Jossel Rackower fährt fort mit seinem Gebet zu Gott: „Du aber hast alles getan, damit ich nicht an Dich glaube. Solltest Du meinen, es wird Dir gelingen, mich von meinem Weg abzubringen, so sage ich Dir, mein Gott und Gott meiner Väter: Es wird dir nicht gelingen. Du kannst mich schlagen, mir das Beste und Teuerste nehmen, das ich auf der Welt habe. Du kannst mich zu Tode peinigen – ich werde immer an Dich glauben. Ich werde Dich immer liebhaben – Dir selbst zum Trotz! Und das sind meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: Es wird Dir nicht gelingen! Du hast alles getan, damit ich nicht an Dich glaube, damit ich an Dir verzweifle! Ich aber sterbe, genau wie ich gelebt habe, im felsenfesten Glauben an Dich: Höre, Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einig und einzig.“ Sch’ma Jisrael Adonai Elohenu Adonai Echad!

Schwestern und Brüder, wenn wir die alttestamentliche Lesung des heutigen Sonntags hören, dann tun wir gut daran, zunächst einmal wahrzunehmen, dass wir uns hier dem Zentrum, gleichsam dem Allerheiligsten des Glaubens des Volkes Israel nähern, dann tun wir gut daran, uns vor Augen zu halten, was für eine Wirkungsgeschichte diese Worte bis auf den heutigen Tag gehabt haben. Wir denken daran, wie der kleine Jesus von Nazareth von Kindheit an dieses jüdische Glaubensbekenntnis gelernt, gebetet, mitgesprochen hat. Wir denken daran, wie unzählige Juden mit diesen Worten auf den Lippen in die Gaskammern von Auschwitz, von Treblinka und Majdanek gegangen sind: Sch’ma Jisrael Adonai Elohenu Adonai Echad. Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und wir haben vor Augen und Ohren, wie dieses Gebet auch heute noch Tag für Tag von vielen Millionen Juden gebetet wird, wie Juden diese Worte unserer heutigen Predigtlesung ganz ernst und wörtlich nehmen, sich ihre Tefillim, ihre Gebetsriemen umlegen, mit der Kapsel mit dem Glaubensbekenntnis vorne auf der Stirn, zwischen den Augen, wie die Mesusa an den Türpfosten jüdischer Häuser auch heute noch Menschen an das zentrale Glaubensbekenntnis Israels erinnert: Sch’ma Jisrael Adonai Elohenu Adonai Echad!

Nein, wir wollen an dieser Stelle hier keine jüdische Heldenverehrung betreiben, auch wenn es uns gut tut, Respekt vor denen zu empfinden, die so ernst nehmen, was Gott selber ihnen in seinem Wort sagt. Vielmehr wollen wir uns fragen: Was muss das für ein Gott sein, der es Menschen ermöglicht, ihn so sehr zu lieben, ihm selbst in solch ausweglosen Situationen treu zu bleiben! Das kann kein ferner, unnahbarer Gott sein, kein Gott, von dem wir Menschen keine Ahnung haben, der uns knechtet und den wir fürchten müssten. Das kann nur ein Gott sein, der so viel Liebe in die Menschen, die zu ihm gehören, investiert hat, dass diese Liebe selbst dann noch trägt und prägt, wenn die Menschen von dieser Liebe schließlich gar nichts mehr zu erfahren scheinen. Das kann nur ein Gott sein, der sein Volk aus der Sklaverei gerettet, am Schilfmeer vor dem sicheren Tod bewahrt, mit ihm einen Bund geschlossen und seine Liebe zu diesem Volk niemals aufgekündigt hat. Ja, wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat!

Warum hören wir uns diese Worte aus dem 5. Buch Mose heute Morgen an, was haben wir damit zu tun? Dass wir damit zu tun haben, liegt daran, dass es da diesen einen Juden gegeben hat, der dieses Glaubensbekenntnis sein Leben lang gebetet hat und der doch unendlich mehr war als nur ein frommer Jude, er, der eine, in dem Gott sich so sehr mit seinem Volk identifiziert hat, dass er, Gott, selber Jude geworden ist. Und dieser eine, in dem die Liebe des Gottes Israel Fleisch geworden ist, der hat nun nach seiner Auferstehung alle Völker eingeladen, mit teilzuhaben an diesem Glück des Volkes Gottes, hat alle Völker eingeladen, den Namen des Gottes Israels noch einmal neu zu hören und auszusprechen als den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, hat alle Völker eingeladen, so zu hören, wie Israel gehört hat, alles zu lernen, was er, Jesus, ihnen gesagt und befohlen hat.

Nein, wir können und wollen Israel diese Worte aus dem 5. Buch Mose nicht entreißen und wegnehmen. Aber wir dürfen staunend erkennen, dass er, der Gott Israels, es uns nun noch leichter gemacht hat, ihn zu lieben, an ihm festzuhalten selbst in allem Leid. Staunend dürfen wir erkennen, dass er, der Gott Israels, in seiner Liebe so weit gegangen ist, seinen Sohn für uns am Kreuz sterben zu lassen – für Israel und für Menschen aus allen Völkern, für Menschen aus Afghanistan und dem Iran, für Menschen aus der Ukraine und aus Russland, für Menschen aus den USA und aus Deutschland. Gott selber macht es uns möglich, ihn zu lieben – ach, was sage ich: Er macht es uns nicht nur möglich; er überwindet unser Herz mit seiner Liebe, dass wir gar nicht mehr anders können, als ihn auch zu lieben, ihn, den wir nun durch Jesus Christus unseren Vater nennen dürfen.

Lernen können wir von den Juden, unseren Glauben immer wieder durch sichtbare Erinnerungszeichen, durch sinnenfällige Bräuche stärken und fest werden zu lassen. Wie ein frommer Jude Tag für Tag sein Sch’ma Jisrael betet, so tun wir gut daran, uns Tag für Tag zu dem Gott Israels zu bekennen, indem wir unser Taufgelübde sprechen: Ich entsage dem Teufel und all seinem Werk und Wesen und ergebe mich dir, du dreieiniger Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist, im Glauben und Gehorsam dir treu zu sein bis an mein Ende! Wie ein frommer Jude das Kästchen mit diesem Glaubensbekenntnis an seine Stirn führt, so tun wir gut daran, unsere Hand ebenfalls zur Stirn zu führen, uns zu segnen mit dem Zeichen des Heiligen Kreuzes, uns dadurch immer wieder daran zu erinnern, was der eine und einzige Gott, an den wir glauben, in seiner Liebe für uns getan hat. Und wie ein frommer Jude an seiner Haustür die Mesusa hängen hat, so tun wir als Christen gut daran, in unseren Wohnungen nicht irgendwelche abergläubischen Augen zur Abwehr von Unglück anzubringen, sondern Kreuze, die uns daran erinnern, wer der Gott Israels ist: die Liebe in Person!

Ja, mit Liebe will er, der eine und einzige Gott, unsere Herzen gewinnen, nicht mit Druck und Zwang, nicht mit einer Vorschrift. Mit Liebe will er unser Herz gewinnen, dass uns nichts lieber und wichtiger in unserem Leben wird als ER allein, nicht unser Geld, nicht unsere Heimat, noch nicht einmal unsere Familie. Mit dieser Liebe hat er das Herz unserer heutigen Täuflinge gewonnen, die mit ihrer Taufe heute so viel aufgegeben und zurückgelassen haben in ihrem Leben, weil sie erfahren haben: Gottes Liebe wiegt dies alles hunderte Male auf. Und eben diese Liebe unseres Gottes wollen auch wir unseren Kindern weitergeben, wie dies auch in Israel über so viele Generationen hinweg geschehen ist. Ja, von Kindheit an sollen auch die Kinder in unserer Gemeinde lernen und hören, wie wunderbar es ist, zu diesem Gott gehören zu dürfen, wie wunderbar es ist, von diesem Gott geliebt zu werden. Und hören wir als Erwachsene niemals auf, es unseren Kindern nachzutun, glauben wir ja nicht, wir wüssten irgendwann alles über diesen wahren, einzigen Gott! Liebe zu Gott, sie erweist sich auch bei uns immer wieder im Hören auf sein Wort. Wenn jemand verliebt ist, dann hört er genau auf die Worte dessen, dem seine Liebe gilt. Möge uns diese Liebe immer wieder in unsere Gottesdienste treiben, in unsere Bibelgesprächskreise, ja, möge diese Liebe unsere Herzen so bewegen, dass wir gar nicht anders können, als von dieser Liebe auch anderen zu erzählen, anderen diese Liebe auch mit unserem ganzen Leben zu bezeugen. Ach, Schwestern und Brüder, ahnen wir eigentlich, wie gut wir es haben, dass wir allen Grund dazu haben, Gott lieben zu dürfen? Amen.