01.06.2014 | Römer 8,26-30 | Exaudi
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Als ich am Abend des Himmelfahrtstages mich daran machte, diese Predigt zu schreiben, da fiel es mir zunächst einmal sehr schwer, in meine Gedanken ein wenig Ordnung zu bringen. So vieles jagte mir da zugleich in meinem Kopf herum: Die Nachricht, dass ein Jugendlicher aus unserem Jugendkreis, mit dem ich wenige Tage zuvor noch im Schwimmbad getobt hatte, von der Polizei ins Abschiebegefängnis gebracht worden sei und nun nach Ungarn abgeschoben werden soll, neue Berichte von Gemeindegliedern über ihre Verwandten, die auch jetzt zu dieser Stunde noch im Iran in Foltergefängnissen festgehalten werden, weil die Behörden mehr von dem Aufenthaltsort der geflohenen Verwandten erfahren wollen, die Nachrichten von schweren Erkrankungen von Familienangehörigen von Gliedern unserer Gemeinde, die Sorgen um so viele Gemeindeglieder, die in den kommenden Wochen und Monaten aus Deutschland deportiert werden sollen, die schweren psychischen Erkrankungen von Gemeindegliedern, die mit dem, was sie in den letzten Jahren in ihrer Heimat oder auf der Flucht erlebt haben, nicht fertig werden, oder die unter ihrer jetzigen Situation zusammenbrechen – und angesichts all dessen dann auch die Frage, wie ich das alles auch nur ansatzweise bewältigen soll, was da nun in diesen letzten Tagen wieder neu vor meine Füße gelegt worden ist.

Und da soll ich euch heute also nun eine Predigt darüber halten, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Auch die Verhaftung, auch die Abschiebung, auch die Folter, auch die Depression, auch die Angst und Verzweiflung? Also: Backen aufblasen und loslegen, davon reden, dass ein Christ dies alles mit Freuden annimmt, weil er ja weiß, dass dies doch nur zu seinem Besten dient?

Nein, Schwestern und Brüder, das kann ich nicht. Und das brauche ich auch nicht zu können, so macht es mir, so macht es uns der Apostel Paulus hier in unserer Predigtlesung deutlich. Denn dieses uns so bekannte Wort, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, ist, gottlob, von einem Rahmen umgeben, von einem Rahmen, der uns hilft, uns diesen Worten zu nähern, die uns in so vielen Situationen doch kaum über die Lippen kommen mögen.

Ach, wie tröstlich ist schon der Beginn unserer heutigen Predigtlesung: Da ist nicht davon die Rede, dass wir als Christen stark und unbeugsam sein müssen, dass einen wahren Christen nichts umhauen kann. Sondern da spricht der Apostel Paulus von unserer Schwachheit. Wie wunderbar! Ich muss als Christ nicht immer stark sein, und ich brauche meine Schwachheit auch nicht zu verstecken, darf ganz offen und ehrlich von ihr reden. Ich darf sprechen von meinen Fragen und Zweifeln, von meiner Traurigkeit und Verzagtheit, davon, dass es mir immer wieder so schwer fällt, dem zu vertrauen, was Gott uns in seinem Wort zusagt. Schwachheit – ach, wie gut, dass mein Heil, dass meine Rettung nicht von meiner Stärke, auch und erst recht nicht von meiner Glaubensstärke abhängt!  

Und dann setzt der Apostel Paulus hier sogar noch einen oben drauf, schreibt hier einen Satz, den man einem anständigen Apostel doch nie und nimmer zutrauen würde: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen.“ Was – ein Apostel weiß nicht, was er beten soll? Apostel, Pastoren, Gemeindeleiter – das sollten doch eigentlich Profi-Beter sein, Leute, denen immer irgendwelche guten und frommen oder zumindest fromm klingenden Gebete über die Lippen kommen. Doch noch nicht einmal das kriegt der Paulus hier fertig: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen.“ Kennt ihr solche Situationen, in denen ihr auch nicht mehr wisst, was ihr beten sollt? Wenn einem eine furchtbare Nachricht geradezu die Luft zum Atmen abschneidet, wenn einen eine Schreckensmeldung ereilt, bei der man überhaupt nicht mehr weiß, was man überhaupt noch sagen soll, wenn man etwas miterlebt, was dem eigenen Glauben an einen liebenden Gott ganz und gar zu widersprechen scheint. Da weiß man, da weiß der Apostel, da wisst ihr, da weiß ich mitunter in der Tat nicht mehr, was wir da eigentlich noch beten sollen. Da bleibt der Mund verschlossen, kommen einem nur noch stumme Schreie, kommen einem höchstens vielleicht noch unartikulierte Seufzer über die Lippen. Ja, so schildert der Apostel Paulus seine Lebenswirklichkeit, ja, die Lebenswirklichkeit von uns Christen.

Doch Paulus begnügt sich eben nicht mit der Beschreibung unserer Lebenswirklichkeit, mit der Beschreibung unserer Schwachheit, die bis tief in unser Gebetsleben hineinreicht. Sondern er verbindet diese Beschreibung mit einem wunderbaren Trost: „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“, so schreibt er hier. Mein Heil, mein Verhältnis zu Gott hängt nicht daran, dass ich es schaffe, mich zusammenzureißen. Mein Heil, mein Verhältnis zu Gott hängt allein daran, dass mir der Heilige Geist aufhilft, dass er mich aufrichtet. Ja, mehr noch: Er, der Heilige Geist, der „vertritt“ uns, so heißt es hier gleich zweimal, „vertritt“ uns vor Gott, formuliert unsere stummen Schreie, unser Gestammel, unser Seufzen um in Gebete, die Gottes Ohr erreichen und ihn bewegen.

Mit Vertretungen ist das ja so eine Sache: Im Berufsleben haben Vertretungen oft weniger Ahnung von dem, worum es geht, als diejenigen, die sie vertreten. Wenn es gut geht, halten sie sich entsprechend zurück, packen heiße Eisen nicht an; wenn es nicht so gut geht, machen sie Dinge ganz anders, als es die, die sie vertreten, gewollt und gewünscht hätten. Das ist beim Heiligen Geist glücklicherweise ganz anders: Der vermasselt uns nicht unsere schönen Gebete und frommen Absichten, sondern der bringt die Dinge, um die es uns geht, viel besser zum Ausdruck, als wir dies könnten, versteht uns besser, als wir uns selber verstehen, weiß selber viel besser, was für uns gut ist, als wir dies selber je erkennen könnten. Was für eine Entlastung für unser Gebet, für unser Leben als Christen insgesamt: Wir dürfen auf ihn, den Heiligen Geist, vertrauen, der auch aus unseren oft so erbärmlichen, kleingläubigen Gebeten etwas zu machen vermag, der uns so optimal vertritt, wie kein Lobbyist in Berlin oder Brüssel dies jemals für seinen Auftraggeber tun könnte.

Ja, ich darf stammeln und stöhnen und vielleicht auch mal schweigen angesichts all dessen, was mir mitunter an Gedanken, an Sorgen, an Schreckensnachrichten durch den Kopf fliegt. Es hängt nicht an meinen Formulierungen. Nein, der Geist hilft unserer Schwachheit auf.

Und dann ist da noch die andere Seite des Rahmens. Da spricht Paulus davon, dass Gott Menschen ausersieht, vorherbestimmt, beruft, gerecht macht, verherrlicht. Da mögen uns erst einmal alle möglichen Gedanken durch den Kopf schießen, ob wir denn zu diesen Menschen auch dazugehören. Doch diese Gedanken will Paulus uns gleich wieder nehmen. Er verweist ganz konkret darauf, dass Gott uns doch berufen hat, jawohl, in unserer Taufe, dass er uns da versprochen hat, uns einmal dem Bild seines Sohnes gleichzugestalten, uns teilhaben zu lassen am ewigen Leben in der Gemeinschaft mit ihm. Und wenn wir so auf unsere Taufe blicken, dann sollen und dürfen wir gewiss sein: Gott hat in der Tat einen Plan für unser Leben, auch wenn wir den im Augenblick zumeist noch nicht lesen und erkennen können. Aber das eine steht fest: Wohin uns Gott führen will – zum Leben in seinem Lichtglanz. Wozu Abschiebegefängnisse und Deportationen, wozu Krankheiten und Schicksalsschläge, wozu menschliche Enttäuschungen und Verletzungen dabei gut sein sollen, das erschließt sich uns erst einmal nicht, das kann ich euch auch nicht erklären. Aber wir dürfen schauen auf ihn, den Sohn Gottes, auf ihn, der uns mit seinem Tod am Kreuz gezeigt hat, wie sehr Gott uns liebt, ja, der uns mit seiner Liebe immer wieder neu umhüllen will, wenn er zu uns kommt hier im Heiligen Mahl. Helfen will er uns mit seinem Heiligen Geist, ihn, Gott, auch dann zu lieben, wenn wir ihn nicht in allem begreifen können, ihm doch zu vertrauen, dass er unser Vater ist und bleibt. Ja, dieser Vater ist dazu in der Lage, auch alle menschliche Bosheit, auch alles menschliche Dunkel, ja selbst alle Sünde, die Menschen begehen, uns noch zum Besten dienen zu lassen. Wie er das macht, wie er das schaffen will – ich weiß es nicht. Und selber glauben könnte ich das auch nicht. Aber er, der Heilige Geist, der will uns aufhelfen, dass wir Gott doch dieses Vertrauen entgegenbringen, ja, er will uns helfen, dass wir in unserem Leben schon Spuren dessen entdecken können, wie Gott uns wirklich alle Dinge, ja, selbst Böses noch zum Besten dienen lässt.

Darum geben wir in unserer Gemeinde nicht auf in unserem Einsatz für Menschen in Not, darum stecke auch ich nicht auf, auch wenn die Probleme so übermächtig zu werden drohen. Wir müssen nicht selber die Welt retten, wir müssen nicht selber Menschen zum ewigen Leben retten. Wir müssen noch nicht einmal unser eigenes Heil wirken. Gott hat es getan, und Gott tut es, auch ohne uns, und nicht selten auch gegen uns. Er weiß, was das Beste für uns ist, und das wird er durchsetzen. Er hat’s versprochen. Vertrauen wir ihm! – Komm, Heiliger Geist! Amen.