23.03.2014 | 1. Könige 19,1-13a | Okuli
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Schon wieder eine Flüchtlingsgeschichte, die Geschichte von einem, der loslaufen muss, weil er erfährt, dass er am nächsten Tag getötet werden soll. Es ist einfach unglaublich, wie aktuell die Geschichten der Heiligen Schrift immer wieder sind.

Elia, so heißt der Flüchtling, um den es in der heutigen Predigtlesung geht. Ein Prophet ist er, einer, der im Auftrag Gottes den Menschen unangenehme Wahrheiten zu verkündigen hat, Worte, die den Menschen nicht passen. Bei Elia war es die unangenehme Wahrheit, dass die Israeliten den falschen Gott anbeteten, dass sie einen Gott verehrten, von dem sie sich Erfolg, Wohlstand, Fruchtbarkeit, Reichtum erhofften. Elia erfuhr: Menschen von der Verehrung dieses Gottes wegzubekommen, ist beinahe unmöglich. Zu verlockend sind die Verheißungen, die von diesem Gott ausgehen, von diesem Baal, wie er genannt wurde. Doch dann hatte ihm Gott schließlich doch nach so viel Frustrationen ein richtiges Erfolgserlebnis beschert: Oben auf dem Berg Karmel hatte ganz Israel erlebt, dass der Baal in Wirklichkeit eine Lachnummer war, dass der überhaupt nicht halten konnte, was die Leute von ihm erhofft hatten. Und zugleich hatte Israel erlebt, dass er, der HERR, der Gott Israels, in der Tat ein lebendiger Gott ist, der seine Macht im Feuer zu erweisen vermag. Doch nach dieser eindrucksvollen Demonstration hatte der Elia nun noch einen draufgelegt, hatte die Priester des Baal gejagt und eigenhändig getötet, hatte offenkundig geglaubt, damit Gott noch einmal ein wenig nachhelfen zu können, hatte offenkundig geglaubt, damit ganz im Sinne des wahren Gottes gehandelt zu haben. Nur der hatte solch einen Auftrag gar nicht gegeben. Stattdessen wird Elia nun mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert: Isebel, die Frau des Königs Ahab, schwört Rache, kündigt an, Elia bis zum nächsten Tag umzubringen.

Und so bleibt dem Elia nur die Flucht. Durch ganz Israel läuft er, bis er ganz im Süden ankommt, in Beerscheba. Dort lässt er seinen Diener zurück und läuft weiter mitten in die Wüste hinein, einen ganzen Tag lang. Und dann setzt er sich schließlich unter einen Ginsterbusch und hat nur noch einen Wunsch: Er möchte nur noch sterben. Es reicht, es ist genug. Er kann einfach nicht mehr – er ist auch nicht Superman. Ja, ausgerechnet kurz nach seinem größten sichtbaren Erfolg klappt der Elia hier zusammen, schläft ein und hofft nur noch auf eines: nie mehr aufzuwachen. Doch diese Bitte erfüllt ihm Gott nicht. Im Gegenteil: Elia wird geweckt durch einen kräftigen Tritt in die Seite, den ein Engel ihm verpasst. Nicht sterben soll Elia, sondern aufstehen und essen – und dieses Essen hat ihm der Engel gleich auch mitgebracht: Toastbrot und Wasser. Deren Anblick weckt bei Elia dann doch wieder neu seine Lebensgeister: Statt zu sterben, isst und trinkt er dann doch lieber – aber statt aufzustehen, legt er sich wieder hin und schläft weiter. Doch lange dauert der Schlaf nicht, dann spürt Elia den nächsten sanften Tritt in die Rippen: „Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.“  Elia tut, was der Engel ihm befiehlt – und siehe da, es stellt sich heraus: Das war eine ganz besondere Kraftnahrung, die ihm der Engel da unmerklich bereitet hat: Sie reicht aus für einen vierzigtägigen Marsch bis zum Horeb, bis zum Berg Sinai, dem Ort, an dem Gott einst seinem Volk begegnet war. Elia packt sich in eine Höhle und schläft erst mal wieder. Doch wieder wird er geweckt: Diesmal ist es Gott selber, der ihn anspricht: „Was machst du hier, Elia?“ Und diese scheinbar so blöde Frage erweist sich in Wirklichkeit als eine Art von Ventil für Elia: Endlich kann er ablassen, was ihn in seinen Burnout getrieben hatte: So sehr hatte er gearbeitet und sich eingesetzt – aber es hat alles nichts gebracht; am Ende steht er doch ganz allein da; alles, worum er sich bemüht hatte, hatte letztlich doch keinen Erfolg. Und Gott – der widerspricht dem Elia nicht. Stattdessen fordert er ihn auf, aus seiner Höhle herauszukommen, damit er erfahren kann, wer er, Gott, wirklich ist: Gott lässt sich nicht unbedingt finden im Großen, Starken, Beeindruckenden, im Sturm, im Erdbeben, im Feuer. Erst als Stille einkehrt, als scheinbar nichts passiert, kommt es am Ende zur Begegnung zwischen Elia und Gott, erfährt Elia, wer Gott wirklich ist: nicht der, der uns immer sichtbare Erfolge schenkt, sondern der, der ganz unscheinbar an unserer Seite bleibt, auch wenn wir sein Wirken gar nicht gleich wahrnehmen und erkennen können.

Von einem Tag auf den anderen auf der Flucht zu sein wie damals der Elia – das kennen viele von euch. Sie kennen diese Drohung: Wenn du morgen noch hier bist, bist du tot. Da kann man dann nur noch loslaufen. Und dann seid ihr gelaufen und gelaufen und gelaufen – noch viel länger als der Elia, oftmals über Monate, mitunter Jahre, bis ihr schließlich hier in Deutschland angekommen seid. Und ausgerechnet hier, wo ihr doch erst einmal halbwegs in Sicherheit zu sein scheint, klappen dann auch nicht wenige von euch zusammen: Erst hier, wo ihr zur Ruhe kommt, wird euch deutlich, was eigentlich hinter euch liegt. Und jetzt, wo ihr nicht mehr lauft, da fallen nicht wenige in ein tiefes Loch. Kein Wunder, wenn man gezwungen wird, über Monate, ja über viele Jahre gar nichts zu tun, herumzuhängen im Heim, nicht arbeiten, nicht studieren zu dürfen, da kommen nicht wenige von euch an den Punkt, an den auch Elia damals schließlich gelangte: „Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele!“ Wie oft habe ich das in den vergangenen Monaten hier bei uns in der Gemeinde schon erlebt!

Aber solche Erfahrungen machen eben nicht bloß Flüchtlinge. Solche Erfahrungen machen auch andere Menschen, gerade solche, die sich wie Elia mit großem Engagement eingesetzt haben für Gott, für andere Menschen, um ihnen Gottes Liebe nahezubringen. Doch irgendwann geht es einfach nicht mehr: Alles wird zu viel; ja, es scheint doch alles nichts zu bringen, was man tut. Am Ende steht nur Frustration, Enttäuschung, das Gefühl, völlig ausgebrannt zu sein: Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele! Ach, wie vielen von uns sind solche Gedanken schon durch den Kopf gegangen, wie viele von uns können sich so gut in die Situation des Elia hier hineinversetzen! Ich kann es jedenfalls auch.

Was hilft, wenn man in solch einem Loch sitzt, wenn man nur noch eines denken kann: Es reicht, es ist genug? Engel brauchen wir dann, wie der Elia damals auch. Es wird hier in der Geschichte nicht behauptet, dass dieser Engel Flügel hatte. Wichtig ist nur eines: Von Gott ist er gesandt, und er hat den Auftrag, den Elia in die Rippen zu stoßen und ihm den Weg zurück ins Leben zu ermöglichen. Kennt ihr solche Engel auch? Menschen, die gerade dann da waren oder zu euch kamen, als ihr in solch einem Loch gesessen habt, Menschen, die für euch getan haben, wozu ihr selber gar nicht mehr in der Lage wart? Nein, das war eben nicht bloß Zufall; das war Gott selber, der sie euch genau zur rechten Zeit auf den Weg geschickt hat, dass sie euren Weg kreuzen.

Was hilft, wenn man in solch einem Loch sitzt, wenn man nur noch eines denken kann: Es reicht, es ist genug? Ganz sicher nicht, dass wir versuchen, einfach fester zu glauben, ganz sicher nicht, dass wir versuchen, aus eigener Kraft aus diesem Loch wieder herauszukommen. Nein, diese Kraft, auch die Kraft zum Glauben kann nur von außen kommen. Essen und Trinken schenkten damals dem Elia die Kraft, weiterzumachen, weiterzumarschieren, einen Weg zu gehen, den er kurz zuvor noch für unmöglich gehalten hätte. Essen und Trinken schenken auch uns die Kraft, wenn wir mit unserem Glauben nicht mehr weiterkommen, wenn wir nicht mehr dazu fähig sind, Schritte nach vorne zu gehen. Eine unscheinbare Speise ist es, scheinbar nur ein Stück Brot und ein Schluck Wein – und in Wirklichkeit doch eine Wegzehrung auf dem Weg zum Ziel unseres Lebens, eine Wegzehrung, die ungeheure Kraft in sich birgt. Der Leib und das Blut des Herrn sind es, die uns tragen, die uns halten, auch und gerade wenn wir von unserem Glauben so gar nichts mehr spüren. Der Leib und das Blut des Herrn sind es, die uns Leben schenken, die uns Zukunft schenken, uns die Kraft schenken, wieder aus dem Loch herauszukommen. „Steh auf und iss!“ – So ruft es dir der Herr auch heute zu. Komm hierher nach vorne – ich will dein Leben, nicht deinen Tod, ich will dir deine Augen öffnen, dass du wieder nach vorne schauen kannst.

Und dann dürfen auch wir die Erfahrung machen, die der Elia damals am Berg Horeb, am Sinai gemacht hat: Dass Gott bei uns ist, dass er da ist, das können wir nicht daran ablesen, dass wir in unserem Leben immer Erfolg haben, dass wir von starken Gefühlen übermannt werden. Sondern Gott kommt zu uns ganz verborgen, scheinbar ganz schwach und in Wirklichkeit doch so stark. Er kommt gerade da, wo scheinbar gar nichts mehr los ist, wo scheinbar nur noch Stille herrscht, wo wir gar nichts mehr erwarten mögen.

Genau darauf besinnen wir uns ja jetzt in dieser Fastenzeit wieder von neuem: Gott finden wir nicht im starken Sturm, im Feuer, Gott finden wir in der Gestalt eines Gekreuzigten, scheinbar ganz schwach. Gott finden wir in der Gestalt dieses Schmerzensmannes, der auf seine Weise die Worte des Elia wiederholt: Es ist genug – es ist vollbracht. So nimm nun, Herr, meine Seele. In deine Hände befehle ich meinen Geist. Dieser eine stirbt für uns, damit unser Leben nicht im dunklen Loch des Todes endet. Dieser eine nimmt am Kreuz all unsere Schuld, all unser Versagen auf sich, damit wir an unserem Versagen nicht mehr zu zerbrechen brauchen, damit unsere Schuld uns nicht mehr von Gott trennt. Dieser eine versteht dich, wenn du nicht mehr kannst, wenn du am Ende bist, wenn du nicht mehr weiter weißt, wenn du glaubst, du seist völlig allein. Er lässt dich nicht fallen. Schau darum nicht auf das, was du kannst oder nicht kannst, schau allein auf ihn, deinen Heiland, den Gekreuzigten. Er will dich mit seinem Leib und Blut immer weiter durchs Leben tragen und geleiten – bis du einmal dorthin kommst, wo du Gott einmal endgültig begegnen wirst, nicht länger verborgen, nicht länger mit verhülltem Antlitz, sondern von Angesicht zu Angesicht. Deine Flucht soll nicht in der Wüste enden, sondern in den ausgebreiteten Armen deines Herrn. Amen.