24.03.2013 | St. Johannes 17,1-8 | Palmarum

In diesen Tagen sind wir gerade auf Wohnungssuche für meine neue Dienstwohnung. Um sich von der Lage der Wohnungen schon einmal ein gewisses Bild zu machen, gibt es im Internet zwei Möglichkeiten: Man kann sich zum einen Google Street View anschauen. Da sieht man dann die Fassade der jeweiligen Mietshäuser von der Straße her. Dann gibt es aber auch noch Bing Maps – und Bing Maps hat einen großen Vorteil: Es zeigt die Häuser aus der Vogelperspektive, schräg von oben, zeigt damit auch, was sich hinter der Fassade der Häuser in Wirklichkeit verbirgt. Und das kann in der Tat äußerst hilfreich sein.

In der Predigtlesung des heutigen Tages lässt uns Jesus Christus auch gleichsam einen Blick aus der Bing Maps-Perspektive auf das werfen, was in der Kirche verkündigt wird und geschieht. Nein, er begnügt sich nicht mit einem Blick auf die Fassade, sondern erweitert unseren Horizont, wenn er, wie es hier zu Beginn unserer Predigtlesung heißt, seine Augen zum Himmel hebt und dann mit dieser Horizonterweiterung über das spricht, was unseren Glauben ausmacht. Von dreierlei spricht Christus hier in seinem Gebet, das er unmittelbar vor seiner Verhaftung im Garten Gethsemane an Gott, seinen Vater richtet. Er spricht
- vom Wunder des Kreuzes
- vom Wunder der Taufe
- vom Wunder der Kirche

I.
Schwestern und Brüder: Sagen wir es ganz offen: Wir haben uns zumindest hier in unserem Land mittlerweile oft genug schon allzu sehr an das Kreuz und an Kreuze gewöhnt. Ob es nun Taufkreuze sind, die Täuflingen bei ihrer Taufe umgelegt werden, oder ob es Kreuze sind, die auf einem Messgewand zu sehen sind, oder ob es Kreuzigungsdarstellungen in der Gestalt von Kruzifixen sind  – es macht uns mittlerweile oft gar nichts mehr aus, solche Kreuze als „schön“ zu bezeichnen. Was für ein abstoßendes Geschehen eine Kreuzigung damals zur Zeit Jesu in Wirklichkeit war, bedenken wir oft genug gar nicht, wenn wir ein Kreuz „schön“ finden.

Als der Evangelist St. Johannes damals sein Evangelium schrieb, da wussten es die Hörer und Leser dieses Evangeliums noch besser: Kreuzigungen waren extrem grausame, abstoßende Formen der Hinrichtung, ein Kreuz war ein Folterinstrument, das nichts, aber auch gar nichts Schönes an sich hatte. Und sie wussten es auch von jeder Feier des Heiligen Mahles, worin der tiefste Sinn des Leidens und Sterbens Jesu Christi am Kreuz bestand: Dass er dies alles nämlich für uns getan hat, um damit stellvertretend für uns auf sich zu nehmen, was wir verdient hätten.

Doch St. Johannes macht uns deutlich, dass wir auch mit solchen zweifelsohne richtigen Aussagen noch längst nicht die ganze Dimension dessen erfasst haben, was da am Kreuz in Wirklichkeit geschieht. Von seiner Verherrlichung redet Jesus hier in unserer Predigtlesung immer wieder, und damit meint er eben nun gerade nicht zuerst und vor allem seine Auferstehung und Himmelfahrt, sondern seinen Weg ans Kreuz. Herrlichkeit – die ist gleichsam das Markenzeichen Gottes. Die kann man nicht mit irgendwelchen pyrotechnischen Spezialeffekten nachmachen, sondern Herrlichkeit, so macht es uns Jesus hier deutlich, gibt es nur dort, wo Gott selber sich den Menschen zu erkennen gibt.

Das Kreuz Jesu ist, wenn man nur die Fassade betrachtet, entweder ein Schmuckstück oder eine bewegende, anrührende Geschichte. Doch wenn man das Kreuz Jesu von der Perspektive aus betrachtet, zu der Jesus seine Augen erhebt, dann können wir wahrnehmen, dass dort, in diesem leidenden, geschundenen, zu Tode gefolterten Jesus von Nazareth sich Gott endgültig festlegt, wer er ist: eben kein ferner Gott, der sich am Unglück oder gar an den Höllenqualen von Menschen weidet, sondern ein Gott, den es so sehr zu den Menschen zieht, dass er einer der ihren wird, dass er um ihretwillen schwach, sterblich, leidensfähig wird.

Ja, so macht es uns St. Johannes deutlich, wir können als Christen gar nicht mehr anders über Gott reden, als eben so, dass wir von dem Wunder des Kreuzes reden, dass wir davon reden, dass Gott gar nicht mehr anders erkannt werden will als eben in diesem gekreuzigten Menschen Jesus von Nazareth, der dort am Kreuz Höllenqualen erleidet und doch zugleich eins mit dem Vater ist und bleibt. Wenn du Gott finden willst, dann suche ihn nicht irgendwo tief in deinem Inneren, und suche ihn auch nicht auf einem Wölkchen, das irgendwo über dir schwebt. Du findest ihn nur und ganz und gar als leidenden Menschen, dessen Lebensweg einzig und allein aufs Kreuz zielt. Wenn ihr also ein Kreuz um den Hals tragt, dann denkt daran, was ihr damit zum Ausdruck bringt: dort am Kreuz, da finde ich meinen Gott, da erkenne ich in allem Leid meines Lebens und in all den ungelösten Fragen, die mich umtreiben, dass Gott kein ferner Gott ist, dem mein Geschick egal ist. Ja, dort am Kreuz finde ich meinen Gott, der die Liebe ist in Person. Ja, seine Liebe und seine Herrlichkeit, sie sind eins in der Gestalt dieses zu Tode gefolterten Menschen am Kreuz von Golgatha. Ja, seht, das ist es, das tiefste Wunder des Kreuzes: Dass Gott selbst für uns erkennbar wird, sich aus Liebe zu uns so festlegt, dass auch alle scheinbar gegenteiligen Erfahrungen, die wir in unserem Leben mit Gott machen mögen, sich doch immer wieder auf dieses Wunder zurückbeziehen: Gottes Herrlichkeit scheint auf in einem Menschen, der aufgrund eines Verbrechens stirbt. Mit solch einem Gott kann man persönlich sprechen, zu dem kann man dann auch ganz fröhlich und getrost mit den Worten des Vaterunsers sagen: Jawohl, dein ist die Kraft und die Herrlichkeit. Ja, glücklicherweise brauchen wir Menschen keine Strahlemänner und Strahlefrauen zu sein. Sondern diese Herrlichkeit Gottes, die scheint auch in unserem Leben auf, wenn wir in Christus den erkennen, der mit dem Vater eins ist.

II.
Und damit sind wir schon beim Zweiten, was uns Jesus hier vor Augen stellt, wenn er uns gleichsam vom Himmel her schon einmal auf das blicken lässt, was in unserer Gemeinde geschieht: Er öffnet uns noch einmal neu die Augen für das Wunder der Heiligen Taufe.

Da haben wir eben miterlebt, wie einem kleinen Kind Wasser über den Kopf gegossen wurde und dabei feierliche Worte gesprochen wurden. Für manch Außenstehenden mag das einfach nur ein altehrwürdiger Ritus sein, mit dem Gemeindeglieder in die christliche Gemeinde aufgenommen werden, dazu ein willkommener Anlass für eine Familienfeier. Doch Jesus lässt uns wieder von schräg oben auf dieses Taufgeschehen blicken, damit wir erkennen können, was hier heute Morgen tatsächlich abgegangen ist: Da ist der kleinen Stine doch tatsächlich das ewige Leben geschenkt worden, jawohl, dieses ewige Leben, das hat sie jetzt schon, auch wenn ihr irdischer Lebensweg nun gerade einmal begonnen hat.

Denn Jesus macht uns deutlich, was das ewige Leben ist: Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. Das ewige Leben besteht also nicht darin, dass wir nach unserem Tod auf einem Wölkchen sitzen oder uns pausenlos von gebratenen Tauben ernähren. Sondern das ewige Leben besteht in der Gemeinschaft mit Christus. Denn nichts Anderes meint das Wort „erkennen“ in der Heiligen Schrift: Es meint eine ganz enge Gemeinschaft, die sich nicht bloß auf irgendwelche Gehirnfunktionen beschränkt. Ja, auch Stine erkennt nun Gott und ihren Heiland Jesus Christus, auch wenn sie es mit ihren Worten noch nicht artikulieren kann. Denn sie hat eben in der Taufe Christus angezogen, ist mit ihm eins geworden. Und damit hat sie das ewige Leben, jawohl, schon hier und jetzt und nicht irgendwann in vielleicht knapp hundert Jahren, wenn ihre irdische Lebenszeit abgelaufen sein sollte.

Stine hat das ewige Leben – und du hast es auch, so gewiss du getauft bist. Das lässt dich Christus hier erkennen. Du brauchst nicht mehr auf das ewige Leben zu warten – es hat doch schon längst in deinem Leben begonnen. Das einzige, was noch fehlt, ist eben dies, dass wir ihn, den einzig wahren Gott, und seinen Sohn Jesus Christus auch mit eigenen Augen erkennen können. Aber wenn wir ihn einmal erkennen werden, dann werden wir nichts völlig Neues erkennen, dann werden wir wahrnehmen, dass es doch derselbe Gott ist, mit dem wir schon seit unserer Taufe verbunden waren, dass es derselbe Christus ist, dem wir hier im Heiligen Mahl in unserem Leben immer wieder begegnet sind, ja mehr noch: dass es derselbe Christus ist und bleibt, der uns auch durch den Tod hindurchgetragen hat ins Leben der Auferstehung. Ja, darauf darfst du dich dann in der Tat freuen: mit eigenen Augen ganz ungetrübt ihn schauen zu dürfen, der  aus Liebe zu dir sein Leben für dich in den Tod gegeben hat. Aber das ewige Leben, das hast du in der Tat jetzt schon – so gewiss du getauft bist!


III.
Und damit sind wir beim dritten Wunder, das uns St. Johannes hier gleichsam aus der Vogelperspektive wahrnehmen lässt: Es ist das Wunder der Kirche.

Über die Kirche wurde in den vergangenen Wochen im Zusammenhang mit der Wahl des neuen Papstes immer wieder gesprochen: über ihre Verfehlungen und Versäumnisse, über Wünsche, was der neue Papst nun möglichst umgehend ändern soll. Doch die Kirche ist eben kein Verein, kein Club, bei dem sich Gleichgesinnte zusammentun und sich dazu selber Spielregeln geben, die sie dann aber auch wieder jederzeit ändern können.

Sondern diejenigen, die zur Kirche gehören, gehören eben darum dazu, weil sie Christus von Gott gegeben worden sind, so formuliert Christus selber es hier. Gott baut seine Kirche; und dabei ist er nicht auf alle möglichen wohlmeinenden journalistischen und basisdemokratischen Ratschläge angewiesen. Er sammelt sich seine Kirche so, dass er Menschen in die Gemeinschaft mit Christus führt und sie so gleichsam Christus, seinem Sohn, zur weiteren Betreuung in die Hand gibt. Und die Kirche ist zugleich die Schar derer, die die Worte Christi angenommen und bewahrt haben. Eine Kirche, die nicht mehr die Worte Christi bewahrt und sich an ihnen allein orientiert, sondern glaubt, sie könne ihre Glaubensinhalte selber bestimmen und festlegen, ist nicht mehr die Kirche Jesu Christi; da bleibt es dann nur noch bei der Fassade. Eine Kirche, in der Christus nicht mehr als wahrer Gott erkannt und angebetet wird, nicht mehr als der, der mit dem Vater eins und von ihm gesandt ist, die mag zwar allen möglichen Zulauf haben – nur: mit dem Wunder der Kirche, von dem Christus hier spricht, hat sie nichts mehr zu tun.

Lassen wir uns darum durch die Worte unseres Herrn wieder neu zum Staunen anleiten – zum Staunen über das, was da am Kreuz von Golgatha tatsächlich geschehen ist, zum Staunen über das Geschenk unserer Taufe und zum Staunen über die Kirche, die als Kirche Jesu Christi das Wort Christi bewahrt hat bis zum heutigen Tag. Ja, gerade so spricht Christus eben auch heute noch in seinem Wort zu uns und weitet unseren Blick. Ja, Gott geb’s, dass diese Horizonterweiterung, die uns Christus selber hier zuteil werden lässt, uns hilft, wieder neu ganz fröhlich Ja zu sagen zur Kirche Gottes, Ja zu einer Kirche, die das Wort Christi unverfälscht bewahrt. Lassen wir uns auch nicht von der öffentlichen Meinung beeindrucken, die sich immer wieder nur an der Fassade der Kirche abarbeitet. Wir dürfen doch jetzt schon mehr über die Kirche wissen, weil Christus uns selber schon einmal gleichsam mit Bing Maps auf sie schauen lässt. Ja, die Kirche wird von Gott, nicht von Menschen gebaut, von Gott, der Menschen in ihr durch seinen Sohn Jesus Christus nicht weniger als das ewige Leben schenkt. Möge uns dies gerade auch jetzt in diesen kommenden Wochen in unserer Gemeinde immer wieder ganz klar vor Augen stehen! Amen.