06.01.2013 | Jesaja 60,1-6 | Epiphanias

Sie lag in den letzten Zügen; die Ärzte hatten sie schon aufgegeben. Keine Hoffnung gab es mehr für sie; was blieb, war nur noch Weinen, Geschrei, Totenklage. Doch dann geschieht das Unfassliche: Da tritt einer an ihr Totenbett und spricht das tote Mädchen an: „Talitha kumi“ – Mädchen, ich sage dir: Stehe auf! Und sogleich stand das Mädchen auf, zum Leben gerufen durch dies eine Wort: „Kumi!“ – Steh auf! Nein, das war eben nicht irgendeiner, der dieses „Kumi!“ sprach; es war kein Geringerer als der Herr über Leben und Tod, der da am Bett dieses Mädchens stand, ihr eine völlig neue Lebensperspektive schenkte, die doch schon völlig ausgeschlossen schien.

„Kumi!“ – Steh auf! Eben diese Worte werden auch in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags an eine junge Frau gerichtet, die scheinbar überhaupt keine Zukunftsperspektive hatte, überhaupt nicht wusste, ob und wie es mit ihr überhaupt weitergehen sollte. Die Stadt Jerusalem und ihre Einwohner werden hier angeredet von keinem Geringeren als von dem Herrn über Leben und Tod. Ja, dringend nötig hatten sie diesen Ruf „Kumi!“ – Steh auf, mache dich auf! Denn sie waren alle miteinander am Boden: Mit großen Hoffnungen waren sie aus Babylon in das zerstörte Jerusalem zurückgekehrt, hatten so gehofft, dass nun bald nach ihrer Rückkehr eine neue Heilszeit im Gelobten Land anbrechen würde. Doch stattdessen saßen sie nun Jahrzehnte nach ihrer Rückkehr immer noch in einer Ruinenlandschaft; der Wiederaufbau ging nur schleppend voran, und so mancher fragte sich mittlerweile, ob es so eine gute Idee gewesen war, aus den gesicherten Verhältnissen in Babylon in dieses wenig beglückende Abenteuer zu ziehen. Und so kämpfte man mit den alltäglichen Problemen des Überlebens, rechnete gar nicht mehr damit, dass sich an diesem Zustand noch groß etwas ändern könnte. Doch da hören sie ihn mit einem Mal: den Ruf ihres Gottes: Kumi! Steh auf! Strahle! Sieh umher! Du brauchst nicht immer nur um deine Probleme zu kreisen. Da kommt etwas Neues, Großes auf dich zu!

Kumi! – Haben wir diesen Ruf heute Morgen hier in unserer Gemeinde auch nötig? Brauchen wir das auch, dass uns einer aufweckt, aufrichtet, unseren Blick neu ausrichtet? So todkrank und perspektivlos mögen wir uns vielleicht selber gar nicht vorkommen hier in unserer Gemeinde, im Gegenteil. Und doch mag es sehr wohl sein, dass auch wir mit unseren Blicken mittlerweile so sehr auf uns selbst fixiert sind, dass wir um uns und vor uns nur noch Probleme wahrnehmen und gar nicht mehr so viel von der Verheißung wahrnehmen, unter der doch all unser Tun und Leben in der Gemeinde steht. Ja, auch wir brauchen diesen Ruf des Herrn über Leben und Tod, haben ihn dringend nötig: Kumi! Steh auf! Strahle! Sieh umher! Großes erwartet dich, Großes, das du im Augenblick noch gar nicht wahrzunehmen vermagst.

Kumi! – Es mag auch sein, dass du diesen Ruf ganz persönlich gut brauchen kannst zu Beginn dieses neuen Jahres. Es mag sein, dass es auch da so vieles in deinem Leben gibt, was dich zu Boden drückt, dich nur noch nach unten schauen lässt, dir scheinbar jede Hoffnung raubt. Ja, dringend nötig hast du es dann auch, dass der an deine Seite tritt, der der Herr ist über Leben und Tod, dass er auch dich persönlich anspricht: Kumi! Steh auf! Strahle! Sieh umher!

Steh auf! Wir wissen, wie schwer es uns oft in unserem Leben fällt, dieser Aufforderung nachzukommen. Wenn wir am Morgen noch todmüde im Bett liegen und wir diesen Ruf hören, mag es sehr wohl sein, dass uns dieser Ruf nicht gleich aus dem Bett in die Senkrechte zu befördern vermag. Doch der hier sein „Kumi!“ ruft, ist eben nicht irgendjemand, ist Gott selber, und sein Wort vermag uns tatsächlich in Bewegung zu setzen, vermag uns die Kraft zu schenken, die wir selber wohl gar nicht aufbringen würden. Und vor allem begründet Gott dieses „Kumi!“ auch und hilft uns damit, tatsächlich uns aufzumachen, in die Gänge zu kommen. Es ist eben ein Unterschied, ob wir am frühen Morgen aufstehen sollen, weil es zur Arbeit oder in die Schule geht, oder ob wir am frühen Morgen aufstehen sollen, weil uns bald etwas Großes erwartet.

Ich erinnere mich noch an einen frühen Morgen an einem Bergsee im Westen Nepals zu Füßen der 8000er des Himalaya. Stockdunkel war es noch, als wir geweckt wurden; doch ich stand in Windeseile auf, denn uns erwartete eine Bootsfahrt auf den See, wo uns ein unbeschreibliches Naturereignis erwartete: Wir erlebten mit, wie sich die Gipfel der Achttausender allmählich rosarot verfärbten und schließlich anfingen, im Schein der ersten Sonnenstrahlen zu leuchten, während es bei uns unten auf dem See immer noch ganz dunkel blieb. Mache dich auf, werde licht, denn dein Licht kommt!

Was Jesaja hier in seinen Worten ankündigt, ist noch viel großartiger als jenes Naturschauspiel, das ich damals in Nepal miterleben durfte. Nicht nur erste Sonnenstrahlen an Berggipfeln verspricht der Prophet hier, sondern nicht weniger als den Aufgang der Herrlichkeit des Herrn über dem Zionsberg, über der Stadt Jerusalem. Doch in manchem ähnelt das, was der Prophet hier beschreibt, tatsächlich dem, was sich dort am Bergsee im Himalaya abspielte: unten ist alles noch dunkel, und so werden die Blicke derer im Dunkeln gleichsam von selbst nach oben gelenkt, auf den Berg, an dem sich die leuchtenden Strahlen der Sonne widerspiegeln.

Diesen Lichtglanz, von dem Jesaja hier spricht, kann man nicht mit einer Digitalkamera festhalten; man braucht auch keine Sonnenbrille, um ihn ertragen zu können. Und doch gilt das, was der Prophet damals der Stadt Jerusalem ankündigte, auch heute noch: Ja, das Licht der Herrlichkeit des Herrn geht auch heute noch auf über Gottes Volk, über Gottes Stadt, in der sich Menschen um das große Licht Jesus Christus versammeln. Wir können diesen Lichtglanz jetzt im Augenblick oft genug nur an seinen Wirkungen erkennen: Wir können ihn erkennen im Gesicht von Menschen, die strahlend davon berichten, wie die Begegnung mit Christus, dem Licht der Welt, ihr ganzes Leben verändert hat, wie ihr Leben dadurch hell geworden ist. Wir können ihn aber auch erkennen im Gesicht von Menschen, die in ihrem Leben so schweres Leid durchgemacht haben, dass ihnen nicht unbedingt nach Zahnpastalächeln zumute ist, die aber dennoch etwas davon ausstrahlen, wie gut es ist, auch in allem Leiden in den Händen Christi geborgen zu sein. Etwas erkennbar von diesem Lichtglanz wird für mich so manches Mal, wenn ich Menschen den Leib und das Blut ihres Herrn reiche und sich in ihrem Gesicht schon etwas von dem Licht dessen widerspiegelt, der da nun gerade in ihnen Wohnung nimmt. Und erkennbar wird etwas von diesem Lichtglanz nicht zuletzt dadurch, dass Menschen sich von ihm anlocken lassen, dorthin kommen, wo sie Licht in der Dunkelheit ihres eigenen Lebens erkennen können.

Schwestern und Brüder: Eines ist natürlich klar: Die Gegenwart dieses Lichtglanzes ist nicht von seinen Wirkungen bei uns Menschen abhängig. In dem kleinen Kind in der Krippe von Bethlehem leuchtete Gottes Licht in die Welt hinein, auch wenn viele Menschen in der unmittelbaren Umgebung davon erst einmal nichts erkennen konnten. Und doch strahlte die Herrlichkeit des Herrn in diesem Kind in der Krippe so stark, dass es schließlich sogar weise Menschen aus dem heutigen Iran anlockte, sie dazu bewog, eine Reise von Tausenden von Kilometern auf sich zu nehmen, nur um zu diesem Kind in der Krippe zu kommen. „Und die Heiden werden zu deinem Lichte ziehen, und die Könige zu dem Glanz, der über dir aufgeht.“

Und nichts Anderes erleben wir eben auch in unserer Gemeinde: Wir erleben, wie wiederum Menschen aus dem Iran, wie einst im Neuen Testament, sich vom Lichtglanz der Herrlichkeit Gottes in unserer Mitte anziehen lassen und zu uns kommen. Ach, was sage ich: Sie kommen nicht zuerst und vor allem zu uns: Sie kommen zu dem, der in unserer Mitte gegenwärtig ist, der eine Strahlkraft hat, die wir, die wir schon länger hier in unserer Gemeinde mit dabei sind, vielleicht gar nicht mehr so wahrnehmen. Nichts kann sie davon abhalten, zu diesem Licht zu kommen, das da in unserer Mitte leuchtet, keine langen Wege, keine schmerzlichen Erfahrungen in der Vergangenheit. Der Strahlkraft dieses Lichtes können und wollen sie sich einfach nicht entziehen.

Doch Gott möchte, dass sich eben nicht nur die anderen zu diesem Licht begeben; er möchte, dass du, liebe Gemeinde, dass wir alle miteinander anfangen zu strahlen. Die Augen öffnen lassen sollen und dürfen wir uns durch die, die neu zu diesem Lichtglanz kommen. Die Augen öffnen lassen sollen und dürfen wir uns von ihnen dafür, was es bedeutet, Christus, das Licht der Welt, mit seiner ganzen Herrlichkeit in unserer Mitte zu haben. Ja, helfen können sie uns, die Worte des heiligen Simeon nach der Kommunion immer wieder neu ganz bewusst mitzusingen: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zu erleuchten die Heiden.“ Ja, der leuchtet, der strahlt hier vom Altar, übt eine Anziehungskraft aus, die uns immer wieder nur staunen lässt.

Strahlen sollst und darfst du über den, der seit dem Tag deiner Taufe auch dein Leben hell macht, der dir in deinem Leben voranleuchtet auch auf allen dunklen Wegen, auch durch alle finsteren Täler hindurch. Strahlen sollst und darfst du über deinen Herrn Jesus Christus, der dich in deinen Problemen nicht allein sitzen lässt, der auch dir den Blick nach oben, nach vorne lenken will hin auf das neue Jerusalem, in dem du seinen Lichtglanz einmal für immer auch mit deinen eigenen Augen schauen wirst, in dem du selber in diesem Lichtglanz ganz licht werden wirst.

Aber strahlen sollst und darfst du eben auch über all diejenigen, die von weit her den Weg zu Christus, dem Licht der Welt, finden, ja auch und gerade hier in unserer Mitte.

Ich weiß nicht, was die Leute damals in den notdürftig hergerichteten Ruinen von Jerusalem gedacht haben, als sie die Worte hörten, dass Menschen aus allen Völkern einmal in die Stadt Gottes kommen werden. Vielleicht hat da auch so mancher gedacht: „Das fehlt uns jetzt gerade noch, dass da alle möglichen Fremden zu uns kommen; wir haben doch mit uns selber allemal schon genug zu tun.“ Doch Gott ist guter Zuversicht, dass die Bewohner Jerusalems diesen Strom der Völker in ihre Mitte nicht bloß als logistisches Problem, sondern als wunderbares Geschenk wahrnehmen und annehmen werden: „Dann wirst du deine Lust sehen und vor Freude strahlen, und dein Herz wird erbeben und weit werden, wenn der Reichtum der Völker zu dir kommt.“

Epiphanias feiern wir heute; wir feiern, dass Menschen aus allen Völkern sich vom Lichtglanz Gottes in Jesus Christus anziehen lassen und die eine Kirche aus so vielen verschiedenen Völkern bilden. Epiphanias – das ist ein Missionssonntag, und nicht zufällig sammeln wir eben heute auch unsere Kollekte für unsere Lutherische Kirchenmission. Früher mögen wir das ja alles sehr schön und rührend gefunden haben, wenn wir hörten, wie Menschen in Afrika den Weg zu Christus, dem Licht der Welt, fanden. Diese Arbeit der Missionare haben wir darum auch immer gerne unterstützt. Doch nun dürfen wir Jesaja 60 live in unserer Mitte erleben, dass uns in der Tat das Herz erbeben mag, wenn wir merken, wie sehr die Worte des Propheten auch auf uns zutreffen: „Hebe deine Augen auf und siehe umher: Diese alle sind versammelt und kommen zu dir!“ Ja, dass die Herrlichkeit des Herrn auch in unserer Mitte so hell für so viele Menschen strahlen würde – wer hätte damit rechnen können!

Kumi! – So ruft es uns Christus, das Licht der Welt, daher zu! Steh auf! Sieh das, was du in deiner Mitte erlebst, doch nicht zuerst und vor allem als ein Problem an, habe doch keine Angst, zieh dich nicht zurück! Nein, steh auf, schau her und strahle, wenn die Schätze der Völker zu dir kommen. Diejenigen, die zu uns kommen, bringen nicht unbedingt Gold und Weihrauch mit; aber Schätze bringen sie dennoch: sich selber mit ihren Lebensgeschichten und Lebensschicksalen, mit ihrer Liebe zu Jesus Christus, mit ihrer Freude, ihn erkannt und entdeckt zu haben. Nein, es sind wahrlich keine Kameltreiber, die da zu uns strömen, auch wenn Kameltreiber bei uns ebenso willkommen wären. Auch materiell haben viele von ihnen sehr viel geopfert für Christus, bis hin zu ihrer Gesundheit. Und nun sind sie da, dürfen wir erleben, wie sich Gottes Verheißungen auch bei uns erfüllen. Kumi! Kumi! Steh auf, spring auf vor Freude über das, was Gottes Lichtglanz zu bewirken vermag, steh auf, strahle vor Freude, lass dein Herz weit werden, dass die mit hineinpassen, die von ferne gekommen sind, um des Herrn Lob zu verkündigen! Kumi! Gottes Lichtglanz reicht für alle; du bekommst nicht deshalb weniger von ihm ab, weil so viele andere sich auch von ihm bescheinen lassen. Im Gegenteil: Hier darfst du ihn schon erleben, den Vorgeschmack der Ewigkeit, wenn du einmal für immer in einer unüberschaubar großen Schar in Gottes neuer Stadt Christus schauen wirst und ihn anbeten wirst gemeinsam mit Menschen aus Botswana und Afghanistan, aus dem Iran und aus der Mongolei, aus China und Amerika, aus Lettland und Deutschland, aus Russland und Australien. Lass dich darum nicht herunterdrücken von deinen Problemen, schau nach vorne. Großes erwartet dich: Die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir! Kumi! Amen.