08.01.2012 | 1. Korinther 1,26-31 | Fest der Taufe Christi
„Was bin ich?“ – Schwestern und Brüder, diejenigen unter euch, die schon so alt sind wie ich oder sogar noch älter, können sich vermutlich noch an diese Fernsehquizsendung mit Robert Lembke erinnern, die von 1961 bis 1989 in der ARD ausgestrahlt wurde. In dieser Sendung ging es darum, dass ein Rateteam herausfinden musste, was für einen ungewöhnlichen Beruf ein zu diesem Zweck eingeladener Studiogast wohl ausübte. Eine heitere Unterhaltungssendung war dieses Ratequiz; doch sie beruhte auf ernsten Voraussetzungen, die man sich damals in den Jahrzehnten der Ausstrahlung der Sendung noch gar nicht so klar machte:
„Was bin ich?“ – So lautete die Frage. Und die Antwort war: dieser oder jener Beruf. Was ich bin, kommt also in dem Beruf zum Ausdruck, den ich ausübe. Doch was früher so offensichtlich erschien, ist heutzutage alles andere als offensichtlich, so erlebe ich es immer wieder gerade in unserer Gemeinde. Da muss ich bei Amtshandlungen, zum Beispiel bei Taufen, immer auch den Beruf der daran Beteiligten ins Kirchenbuch eintragen. Doch da stoße ich dann regelmäßig schon auf Schwierigkeiten: Soll ich den Beruf angeben, den ich gelernt habe und den ich früher ausgeübt habe, oder den Beruf, den ich jetzt ausübe, so fragen mich dann viele. Da gibt es viele Glieder in unserer Gemeinde, die früher in der Sowjetunion einen hochqualifizierten Beruf ausgeübt hatten, für den sie studiert hatten, für den sie eine langjährige Ausbildung absolviert hatten, einen Beruf, in dem sie hohe Verantwortung wahrzunehmen hatten und in dem sie nicht zuletzt auch gesellschaftlich anerkannt waren. Doch dann kamen sie hierher nach Deutschland – und da wollte man nun von dieser Vorgeschichte, von dieser Qualifikation nichts mehr wissen, konnte man sich in vielen Behörden nicht vorstellen, dass es außerhalb von Deutschland auch qualifizierte Ausbildungen geben könnte, und so wurden Berufsabschlüsse nicht anerkannt und Berufserfahrung ignoriert. Und so mussten dann Ärztinnen als Haushaltshilfen und Reinigungskräfte, Piloten als Lagerarbeiter und erfolgreiche Manager als Küchenhilfen tätig werden, während Lehrerinnen von einer Arbeitsbeschäftigungsmaßnahme zur nächsten geschoben wurden. Oder da gibt es Glieder in unserer Gemeinde, die in ihrer Heimat einen guten Beruf ausgeübt hatten, studiert hatten, vielleicht sogar wohlhabend waren und die dann ganz plötzlich aus ihrer Heimat fliehen mussten, weil sie um ihr Leben fürchten mussten, weil sie Christen waren oder sich mit der Staatsmacht angelegt hatten. Und hier in Deutschland befinden sie sich nun auf der sozialen Skala mit einem Mal ganz unten, müssen sich womöglich noch üble Sprüche über Asylbewerber anhören, haben in aller Regel nicht die Möglichkeit zu zeigen, wozu sie beruflich eigentlich in der Lage sind. „Was bin ich?“ – Wenn die Antwort darauf mein derzeit ausgeübter Beruf ist, dann fragt sich so mancher verständlicherweise, was er eigentlich wert ist, wenn er nur eine Hilfsarbeit ausübt oder gerade wieder einmal arbeitslos ist. Wenn Arbeit mich als Menschen ausmacht, dann bin ich als Arbeitsloser, ganz gleich ob als Einheimischer, Aussiedler oder als Asylbewerber, erst einmal ein Nichts, eine Null, ein Mensch mit einem Leben auf Abruf. Wenn Arbeit mich als Menschen ausmacht, dann kann es mit meinem Wert als Mensch ja wohl nicht weit her sein, wenn ich trotz einer 60-Stundenwoche kaum genug verdiene, um eine Familie ernähren zu können.
Und damit, Schwestern und Brüder, sind wir nun schon mitten drin in der Predigtlesung dieses heutigen Festtages der Taufe Christi: Da veranstaltet der Apostel Paulus auch so etwas wie ein „Was bin ich?“-Quiz in der Gemeinde in Korinth. Doch die Antworten auf diese Frage fallen in der korinthischen Gemeinde sehr ernüchternd aus: Kaum irgendwelche hochinteressanten, anspruchsvollen, gesellschaftlich anerkannten Berufe kann er in der Gemeinde vorweisen, stattdessen jede Menge Sklaven, Hilfsarbeiter im Hafen, dazu ein paar ehemalige Strichjungen, Taschendiebe und weitere Kleinkriminelle. Dazwischen ein paar Wohlhabende, die ihren Wohlstand dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie nicht mehr zu arbeiten brauchten, weil sie alle Arbeiten ihren Sklaven überließen. „Was bin ich?“- Wenn die korinthischen Christen auf diese Frage mit der Angabe ihres beruflichen Einkommens antworten sollten, dann war diese Gemeinde im Wesentlichen eine Ansammlung von Nullen.
Schwestern und Brüder, ganz so extrem ist die Zusammensetzung unserer St. Mariengemeinde nicht. Doch auch bei uns ist das gesamte gesellschaftliche Spektrum in der Gemeinde erkennbar repräsentiert, wobei einkommensmäßig die unteren Schichten die deutliche Mehrheit in unserer Gemeinde bilden. Von daher liegen wir also gar nicht so weit weg von der Situation in Korinth damals auch, ist die Frage, die der Apostel Paulus damals stellte, auch für uns hochaktuell: „Was bin ich, ja, was seid ihr eigentlich?“ Zwei Antworten gibt der Apostel auf diese Frage: Ihr seid
- nicht das, was ihr leistet und verdient
- sondern was Gott aus euch gemacht hat
I.
Schwestern und Brüder, um eines gleich klarzustellen: Es ist nicht falsch oder gar sündhaft, wenn Menschen arbeiten wollen und in der Arbeit auch einen wesentlichen Inhalt ihres Lebens sehen. Gott hat uns als Menschen geschaffen, die arbeiten können und arbeiten sollen – jeder auf seine Weise. Und es ist von daher nur zu verständlich, wenn es Menschen bedrückt, wenn ihnen die Möglichkeit, arbeiten zu können, vorenthalten wird, weil für sie auf dem Arbeitsmarkt kein Platz ist, weil ihre Begabungen nicht gefragt sind, weil sie krank oder anderweitig leistungsmäßig eingeschränkt sind. Und wir sollen es umgekehrt als ein Geschenk Gottes ansehen, wenn wir arbeiten können und dürfen, wenn wir vielleicht gar die Möglichkeit haben, einen Beruf auszuüben, der uns auch innerlich ausfüllt und befriedigt, weil wir darin unsere Gaben in besonderer Weise zum Einsatz bringen können. Und wir sind im Übrigen auch als christliche Gemeinde, nicht anders übrigens als in Korinth damals auch, auf Menschen angewiesen, die arbeiten oder gearbeitet haben und die nun dazu in der Lage sind, mit dem, was sie durch ihre Arbeit verdient haben, unsere Gemeinde finanziell zu unterstützen, dass wir all die Aufgaben wahrnehmen können, die uns gestellt sind. Ja, da sind uns natürlich diejenigen eine besondere Hilfe, die tatsächlich mehr verdient haben oder verdienen und darum unsere Gemeinde auch großzügiger unterstützen können. Wir können uns als Gemeinde nicht aus den Gesetzmäßigkeiten dieses Lebens einfach ausklinken.
Ja, ich freue mich mit einem jeden von euch mit, der einen Arbeitsplatz hat oder bekommt, und das natürlich nicht nur, weil wir als Gemeinde indirekt davon auch finanziell profitieren. Und doch sollen und dürfen wir geleistete Arbeit keinesfalls bloß von dem finanziellen Verdienst her bestimmen, der sich aus ihr ergibt. Was viele Mütter auch in unserer Gemeinde im Haushalt und in der Kindererziehung geleistet haben und leisten, was nicht wenige unter uns in der Pflege und Betreuung behinderter, kranker und hinfälliger Angehöriger leisten, wird in unserer Gesellschaft finanziell wahrlich nicht angemessen honoriert. Und auch in bezahlten Berufen wird menschliche Zuwendung oftmals viel zu wenig finanziell gewürdigt, wird mitunter, so hat es den Anschein, eher sogar als ein Hindernis bei der Erbringung von Leistungen angesehen.
Der Apostel Paulus geht in unserer Epistel aber noch einen entscheidenden Schritt weiter: Er bestreitet nicht, dass Arbeit etwas Gutes und Sinnvolles und Wichtiges ist. Aber sie eignet sich keinesfalls, so macht er hier deutlich, zur Bestimmung unseres Verhältnisses zu Gott. In Gottes Augen zählt es eben nicht, ob wir Top-Verdiener oder Hartz IV-Empfänger, Bundespräsident oder Asylbewerber, Chefarzt oder Hilfsarbeiter sind. Niemand hat bei Gott einen besonderen Stein im Brett, weil er besonders viel geleistet hat oder auch besonders viel Gutes für die Gesellschaft tun konnte. Und niemand steht darum vor Gott schlechter da, weil seine Lebensbilanz nach menschlichen Maßstäben doch eher bescheiden ausfällt. Umgekehrt gilt allerdings auch, dass viele Menschen, die in ihrem Leben und ihrem Beruf erfolgreich sind, dazu neigen, auf Gott und die Kirche in ihrem Leben verzichten zu können. Sie haben so viel zu tun, führen auch ohne Gott ein so interessantes Leben, dass sie auf das Thema „Religion und Glaube“ in vielen Fällen verzichten können – Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Und so ist es auch nicht bloß Zufall, dass die meisten Glieder unserer Gemeinde eben gerade nicht in Zehlendorf oder Steglitz wohnen, sondern in anderen Stadtteilen mit bezahlbareren Mieten. Und umgekehrt wäre es eben auch bedenklich, wenn eine christliche Gemeinde zu einer Art von frommem Rotary-Club degenerieren würde, in dem eigentlich nur Menschen mit einem gewissen gesellschaftlichen Niveau willkommen wären. Solche Gefahren gibt es ja in der Tat. Mir wird die Begründung unvergesslich bleiben, mit der ein früheres Gemeindeglied aus unserer Gemeinde austrat: „Die nehmen ja jetzt jeden.“ Ich habe diesen Vorwurf als Kompliment aufgefasst, auch wenn man genauer gesagt ja eigentlich formulieren müsste: Gott nimmt in der Tat jeden – und darum haben wir kein Recht, ihn daran zu hindern, seine Gemeinde mit einer mitunter etwas exotischen Sozialstruktur zu bauen.
II.
Und damit sind wir schon bei der anderen Antwort des Apostels auf die Frage, wer wir denn eigentlich sind, was uns denn eigentlich ausmacht, als einzelne Christen und als Gemeinde insgesamt: Es ist nicht das, was wir tun und leisten, nicht das, was wir verdienen, auch nicht das, was andere über uns denken und wie sie uns ansehen. Sondern wir sind einzig und allein das, was Gott aus uns gemacht hat, so betont es St. Paulus hier.
Und Gott hat uns gemacht zu Menschen, die „in Christus Jesus“ sind, so formuliert es der Apostel hier. Da erinnert Paulus die Korinther an ihre Taufe, in der sie Christus angezogen haben wie ein Gewand: Seit ihrer Taufe sind sie umhüllt von Christus Jesus, blickt Gott auf ihn, wenn er auf die Korinther blickt. Und so blickt Gott auch auf ihn, Christus, wenn er auf uns blickt. Da fallen alle Berufsunterschiede, alle Verdienstunterschiede, alle Intelligenzunterschiede weg – das spielt vor Gott alles keine Rolle mehr, wenn es für uns nur noch um das eine geht: dass wir „in Christus Jesus“ sind.
Ein unglaublicher Trost ist das für uns gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen ist die Taufe, ist diese Gemeinschaft mit Christus, die uns dort geschenkt worden ist, für uns alle miteinander ganz und gar ein Geschenk. Ob wir steinreich sind oder bettelarm, ob wir uns geschickt durchs Leben schlängeln oder vor den Herausforderungen des Alltags schnell kapitulieren, ob wir gute Sprachkenntnisse haben oder nicht – all das ist nicht von Bedeutung, wenn es darum geht, dass wir in Christus Jesus sind. Dafür muss nämlich niemand einen Sprachtest oder Aufnahmetest bestehen, ein Mindesteinkommen vorweisen und auch einen Rechtsanwalt einschalten. Dass wir in Christus Jesus sind, ist einzig und allein Gottes Entscheidung, hängt allein davon ab, dass er uns berufen und erwählt hat in unserer Taufe, dass er dort zu uns Ja gesagt hat. Es mag wohl sein, dass diejenigen, die in ihrem Leben gewohnt sind, alles immer selber im Griff zu haben und zu regeln, sich schwerer damit tun, sich so einfach von Gott beschenken zu lassen. Doch auch für sie ist es eine gute, ja die allerbeste Nachricht überhaupt, dass auch ihr Wert, ihre Stellung vor Gott allein von Gott und nicht von ihnen und ihrem Vermögen abhängt.
Und ein unglaublicher Trost ist es noch in anderer Hinsicht, dass vor Gott einzig und allein zählt, dass wir in Christus Jesus sind: Es heißt eben auch, dass all unsere Schuld und all unser Versagen letztlich vor Gott keine Rolle mehr spielen wird. Gott nagelt uns nicht darauf fest, sondern blickt auf ihn, Christus, der auch für unsere Schuld am Kreuz gehangen hat, damit er auch unser Weg zum Leben, unsere Weisheit, unsere Gerechtigkeit, unsere Heiligung, unsere Erlösung ist.
Was bin ich? Was bist du? „In Christus Jesus“ bist du, bin ich, mit Christus verbunden. Das lässt uns dann auch in der Gemeinde anders miteinander umgehen, hilft uns, einander noch einmal mit anderen Augen zu sehen. Ob der Mensch, der neben mir in der Kirchenbank sitzt, viel Geld hat oder nicht, erfolgreich im Beruf ist oder nicht, einen hohen Intelligenzquotienten hat oder nicht – das kann mir egal sein. Aber dass er mit mir den Leib und das Blut seines, meines, unseres Herrn empfängt, das sollte für mich entscheidend wichtig sein; darin erkenne ich, dass dieser Mensch meine Schwester, mein Bruder in Christus ist. Und ich darf umgekehrt zugleich auch wissen: Dieser Mensch nimmt mich als seinen Bruder, als seine Schwester an, genau aus demselben Grund. Was bin ich, was bist du? Ein getaufter Christ, Erbe des ewigen Lebens, bei Gott hochangesehen und steinreich allemal. Und gemeinsam befinden wir uns damit hier in unserer Gemeinde in allerbester Gesellschaft, Gott sei Dank. Amen.