29.02.2012 | Mittwoch nach Invokavit

ERSTE FASTENPREDIGT ZUM THEMA „DAS WORT VOM KREUZ“:
„DAS WORT VOM KREUZ – NACH MATTHÄUS“

Gestern hat Frau Dr. Demandt in ihrem Vortrag über Kreuz und Kreuzigung in Geschichte und Kunst wieder deutlich gemacht, wozu wir oft nur noch sehr begrenzt von uns aus einen Zugang haben: was eine Kreuzigung damals zur Zeit Jesu bedeutete. Wir haben uns mittlerweile so an den Anblick von Kreuzen und Kruzifixen gewöhnt, dass wir sie mitunter vielleicht gar für schön, für erhebend halten und leicht vergessen, wie brutal das Geschehen einer Kreuzigung in Wirklichkeit war und wie abstoßend der Anblick eines Gekreuzigten für diejenigen war, die auf ihn blickten: Ein Gekreuzigter war der allerletzte Abschaum der Gesellschaft; von dem konnte man sich nur angewidert abwenden.

Doch nur, wenn wir uns das wieder neu vor Augen führen, beginnen wir zu ahnen, was es für die ersten Christen damals bedeutete, einen Gekreuzigten als ihren Herrn und Retter, ja als ihren Gott zu verkündigen und anzubeten. Sie mussten das zunächst einmal für sich selber begreifen lernen, versuchen, zu verstehen, was das Wort vom Kreuz für sie bedeutete: Wie konnte es allen Ernstes Gottes Wille sein, dass sein Messias, sein Sohn am Kreuz zu Tode gefoltert wird? Es ist spannend zu beobachten, wie dies im Neuen Testament geschieht, wie die verschiedenen Verfasser der Schriften des Neuen Testaments, geleitet vom Heiligen Geist, unter jeweils unterschiedlichen Aspekten dieses Wort vom Kreuz verkündigen. Am Zentrum des christlichen Glaubens stehen wir dabei jeweils, mit dem wir uns doch jetzt in dieser Fastenzeit in besonderer Weise befassen wollen – und zugleich kann uns ein Blick auf die Kreuzesverkündigung im Neuen Testament auch in der Hinsicht eine Hilfe sein, dass sich die Plausibilität der Kreuzesbotschaft, die man zu früheren Zeiten in unserer Gesellschaft zumindest noch ein Stück weit voraussetzen konnte, den meisten Menschen in unserer Stadt mittlerweile überhaupt nicht mehr erschließt.

Ich kann nun nicht jeweils zu diesen Fastenpredigten die gesamte Passionsgeschichte der einzelnen Evangelisten vorlesen. Vielmehr sollen diese Fastenpredigten euch dazu anleiten, anschließend genau dies nachzuholen, aufgrund des Gehörten noch einmal die Passionsberichte und die Geschichten, die auf sie hinweisen, nachzulesen.

Mit Matthäus wollen wir heute beginnen. Was hat er uns zum Kreuz Jesu zu sagen? Deutlich streicht er zunächst einmal heraus: Die Kreuzigung Christi ist kein Versehen; da ist nicht irgendetwas schiefgelaufen – im Gegenteil: In dem, was Jesus auf seinem Weg zum Kreuz und am Kreuz erlitten hat, erfüllt sich, was Gott bereits in der Heiligen Schrift, in unserem Alten Testament, angekündigt hatte. Schon bei der Schilderung der Geschehnisse um die Geburt Jesu heißt es bei Matthäus immer wieder: Das geschah aber, damit erfüllt würde, was geschrieben ist durch den Propheten. Und genauso wird das so unbegreifliche Geschehen des Verrats des Judas als Erfüllung eines Wortes des Propheten Jeremia geschildert. Bei der Schilderung der Kreuzigung selber verzichtet Matthäus dann darauf, diese Formel zu gebrauchen: „Das geschah aber, damit erfüllt würde“. Nein, er verzichtet nicht darauf, weil es zu diesem Geschehen keinen Bezug in der Heiligen Schrift gäbe – im Gegenteil: Jeder, der sich im Alten Testament auskannte, jeder, der den 22. und den 69. Psalm auswendig kannte, merkte bei der Lektüre der Schilderung der Kreuzigung bei Matthäus sofort: Hier erfüllt sich Schritt für Schritt, was dort bereits im Psalm vom Geschick des leidenden Gerechten berichtet wird: Sein Leid reicht bis in die tiefsten Tiefen, bevor er dann auf wundersame Weise erhöht wird. Ich zitiere nur einige Verse aus dem 22. und 69. Psalm: „Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf: Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.“ „Der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben.“ „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.“ „Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst.“ Und dann ist da natürlich noch der Schrei Jesu selber, den Matthäus berichtet. Auch er zitiert eben diesen 22. Psalm auf Hebräisch: „Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Deutlich, unverkennbar steht uns das Leidensgeschick Jesu hier schon im Alten Testament vor Augen, so erkannten die ersten Christen gemeinsam mit Matthäus; Gott selbst kündigt hier schon an, was mit Jesus am Kreuz geschehen würde.

Das Geschick eines leidenden Gerechten schildern die beiden genannten Psalmen, sagte ich eben. Ja, genau so wird Jesus im ganzen Matthäusevangelium geschildert: Als der leidende Gerechte, der gekommen ist, mit seinem Leben und mit seinem Sterben „alle Gerechtigkeit zu erfüllen“, wie es Jesus bei Matthäus schon zu Johannes dem Täufer vor seiner Taufe sagt. Er, Jesus, ist der eine Unschuldige, der die Last der Schuld seines Volkes auf sich nimmt und trägt, dem eben, weil er der Gerechte ist, Ablehnung und Feindschaft entgegenschlägt und der seinen Weg doch weitergeht, um sein Blut zu vergießen für die Vielen, wie es schon im 53. Kapitel des Jesajabuches geschildert wird. Eben dies ist ein Zweites, was Matthäus in seinem Evangelium an entscheidenden Stellen deutlich herausarbeitet: Der Tod Jesu am Kreuz ist ein Sühnetod, ein Tod, den er stellvertretend für andere erleidet, ja, zunächst und vor allem für sein eigenes Volk, aber eben darüber hinaus für die Vielen, von denen er, der auferstandene Christus schließlich nach seiner Kreuzigung so deutlich redet: Gehet hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker. Das Kreuz Christi ist der Wendepunkt der Heilsgeschichte: Indem Jesus die Sünden der Vielen am Kreuz trägt, gilt Gottes Heil nun nicht mehr Israel allein, sondern aller Welt. Teuer erkauft ist dieses Heil – eben durch die Lebenshingabe des einen Gerechten, der Gottes Auftrag treu bleibt selbst noch in seinem letzten Schrei: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Leidender Gerechter ist Jesus, einer, der sich gegen das Geschick, das Gott ihm auferlegt hat, nicht wehrt – auch wenn er es immer wieder in der Klage vor Gott bringt. Aber er, Jesus, ist zugleich natürlich unendlich mehr als bloß ein leidender Gerechter neben anderen Menschen, die unschuldig verfolgt, verurteilt, hingerichtet werden. Durch die gesamte Schilderung der Kreuzigung Jesu zieht sich bei Matthäus zugleich das Bekenntnis zu Jesus als dem König der Juden, ja dem Sohn Gottes – auch wenn dieses Bekenntnis hier in der Schilderung gleichsam gebrochen im Munde seiner Feinde erscheint –, bevor es dann nach seinem Tod bezeichnenderweise zuerst von Heiden direkt ausgesprochen wird: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen. Was Juden, die nicht an Jesus als ihren Messias glauben, bis heute ein tiefer Anstoß sein und bleiben muss: dass der Messias leidet und stirbt, statt sichtbar und erfahrbar Gottes Reich auf dieser Erde aufzurichten, das bekennt der Jude Matthäus hier in seinen Worten mit großem Nachdruck: Als König der Juden stirbt Jesus am Kreuz – nicht nur, weil dies der Grund seiner Verurteilung und Hinrichtung war, sondern weil er zugleich eben dadurch sein Amt als Messias wahrnimmt. Menschliche Erwartungen an den Messias werden korrigiert – nicht allein durch das Kreuzesgeschehen selber, sondern durch das Wort der Heiligen Schrift, die eben dieses Geschehen noch einmal neu beleuchtet.

Höchste Höhe und tiefste Tiefe kommen so in der Schilderung der Kreuzigung bei Matthäus zusammen: Er stellt uns den König von Israel, den Sohn Gottes vor Augen – und schildert zugleich, wie tief das Leiden reicht, in das dieser König, dieser Gottessohn geführt wird: Bis hin zu dem unausdenkbaren Schrei, dass der Sohn Gottes von Gott selbst verlassen wird und damit dort am Kreuz die Hölle erlebt, die er uns, für die er sein Blut vergießt, eben damit erspart.
Logisch ist es trotzdem nicht, was Matthäus hier verkündigt: Die, die den Gekreuzigten verspotten, gebrauchen keine anderen Argumente als diejenigen, die Matthäus auch zu seiner Zeit, als er sein Evangelium schrieb, zu hören bekam, wenn er den gekreuzigten Messias verkündigte. Seine Passionsschilderung ist damit zugleich eine Anleitung an seine Gemeinde, sich der Auseinandersetzung mit einer Umgebung zu stellen, die für das Wort vom Kreuz nur Hohn und Spott übrig hatte. Und eben auch darin erweist sich das Matthäusevangelium bis heute für uns als ganz aktuell: Es macht uns Mut, uns zu eben diesem Gekreuzigten zu bekennen. Denn Gott hat ihn eben nicht im Tode gelassen, hat ihn auf wunderbare Weise erhöht – so können wir es schon im 22. Psalm und in Jesaja 53 nachlesen. Auch dafür will uns Matthäus mit seinem Evangelium die Augen öffnen. Amen.