04.03.2012 | Jesaja 5,1-7 | Reminiszere

Habt ihr schon mal richtig Liebeskummer gehabt? Da liebt ihr einen anderen Menschen so sehr, dass ihr an kaum etwas Anderes denken könnt, als mit ihm zusammen sein zu wollen – doch dieser andere Mensch will von eurer Liebe wenig wissen, erwidert sie nicht, enttäuscht euch mit seinem Verhalten immer wieder in euren Hoffnungen, die ihr euch macht. Liebeskummer kann kreativ machen, kann Menschen dazu veranlassen, auf ganz ungewöhnliche Weise ihre Liebe zum Ausdruck zu bringen. Ich denke etwa an die Liebesbekenntnisse, die man immer wieder einmal in großen Buchstaben an Autobahnbrücken oder ähnlichen Gebäuden stehen sieht. Liebeskummer löst aber vor allem immer wieder ganz intensive Emotionen aus – die dann auch schnell umschlagen können in Wut und Ablehnung, ja Hass.

Gott hat Liebeskummer – so können wir es den Worten der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags entnehmen. Und dieser Liebeskummer geht ihm offenkundig nicht weniger an die Nieren als einem von uns. Nun scheint von Liebe in unserer heutigen Predigtlesung erst einmal gar keine Rede zu sein; doch diejenigen, die damals die Worte des Propheten Jesaja hörten, für die war es sofort ganz klar, um was es in dem Lied ging, das der Prophet damals, vermutlich bei irgendeinem größeren Fest des Volkes Israel, anstimmte: Es ist ein Lied von seinem Freund und seinem Weinberg. Wenn damals Lieder angestimmt wurden, dann unterschieden sie sich in ihrem Inhalt auch nicht sehr von den Liedern, die wir heute in den Top Ten der Hitparaden finden: Es waren in aller Regel Liebeslieder. Und von daher war den Zuhörern auch klar, dass Jesaja hier nicht von den Erfahrungen seines Freundes in seinem Schrebergarten singen wollte; vielmehr war das Wort „Weinberg“ damals eine feststehende Umschreibung für eine Geliebte. Wenn heute jemand seine Freundin als seinen Weinberg bezeichnen würde, würde die ihren Freund wohl eher leicht verstört anblicken, ob der wohl noch alle Tassen im Schrank hat; damals war es jedoch ein Kosewort, mit dem man eine junge Frau durchaus erfreuen konnte.

Und dann schwärmt der Freund jenes Freundes davon, was für eine tolle Braut sich sein Freund da an Land gezogen hat: Der Weinberg liegt auf einer fetten Höhe, das bedeutet: Der Boden ist von hervorragender Qualität, und auf einer Höhe gelegen bekommt er auch ordentlich Sonne ab, die die Trauben süß machte. Und damit nicht genug: Der Freund macht aus dem Grundstück einen Weinberg von allerfeinster Qualität: Er gräbt den Boden um und entsteint ihn, was bei den Bodenverhältnissen in Israel eine enorme Arbeit war, und errichtet mit den Steinen, die er aus dem Boden geholt hat, eine Mauer um das Grundstück, damit keine wilden Tiere auf das Grundstück eindringen konnten. Als er damit fertig ist, pflanzt er dort eine besonders edle Rebensorte an. Und dann baut er auch noch einen Turm, von dem aus man den Weinberg bewachen konnte, damit nicht nachts heimlich Diebe eindrangen und die Weintrauben stahlen. Schließlich gräbt der Freund auch noch eine Kelter, um die geernteten Trauben dann auch schnell verarbeiten zu können. Mehr kann man eigentlich wirklich nicht machen, wenn man einen Weinberg anlegt, von dem man einen guten Ertrag erwarten kann.

Wie gesagt: Die Zuhörer verstanden gleich, worum es ging: Der Freund des Freundes beschreibt mit diesen Bildern, wie sich sein Freund für seine Freundin krumm legt, wie er sie verwöhnt, mit allen möglichen Geschenken überschüttet, alles für sie tut, was ihr gut tun könnte. Offenkundig ist die Freundin an einen Traummann geraten.

Doch mit einem Mal fängt das Liebeslied an zu kippen: Der Freund grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte – aber er brachte schlechte. Na so was, werden sich die Zuhörer gedacht haben: Wie ist das denn möglich? Solch ein gut umsorgter Weinberg sollte schlechte Trauben bringen? Wie kommt diese verwöhnte Freundin dazu, so mit ihrem Freund umzugehen, dass sie nichts von seiner Liebe erwidert? Doch den Zuhörern bleibt nicht lange Zeit, über diese Frage nachzudenken. Denn mit einem Mal verändert sich die Szenerie völlig: Nun singt nicht mehr der Freund von seinem Freunde, sondern der besungene Freund selber meldet sich zu Wort, unterbricht das fröhliche Schunkeln derer, die sich gerade an dem netten Liebesliedchen erfreuten, und fordert sie auf, als Richter in einem Rechtsstreit zwischen ihm und seiner Freundin tätig zu werden: „Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm?“ Die Antwort ist klar: Nichts hätte man noch mehr tun können; wenn der Weinberg nach solch einem Einsatz keine guten Früchte bringt, dann ist er offenbar nicht mehr zu retten. Die Zuhörer, die nun mit einem Mal richten sollen, beginnen zu ahnen: Hier redet einer aus tiefstem Liebeskummer heraus, und man kann ihn verstehen: Wie enttäuscht muss er über die Reaktion seiner Freundin sein nach all dem, was er ihr Gutes getan hatte! Doch noch bevor die Zuhörer ihr Urteil fällen können, erleben sie mit, wie der Freund selber sein Urteil über seinen Weinberg spricht: Er wendet sich von ihm ab, reißt Zaun und Mauer um das Grundstück ein, überlässt ihn damit sich selber. Spätestens hier dürften die Zuhörer allmählich unruhig geworden sein: Was sollten diese Bilder denn bloß bedeuten, was wollte denn der Freund da mit seiner Geliebten anstellen? Eine dunkle Ahnung mag sie an dieser Stelle überkommen haben, eine Ahnung, die sich verdichtet, als der Freund verkündigt: „Ich will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.“ Ja, wer anders könnte so reden als allein Gott der HERR?

Und dann wird die dunkle Ahnung zur Gewissheit: Das Urteil, das sie, die Zuhörer, gerade über den Weinberg, über die verstockte Freundin in ihrem Herzen gesprochen hatten, gilt in Wirklichkeit ihnen selber: „Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing.“ Ja, ein Liebeslied haben sie da gerade in der Tat vernommen, ein Liebeslied eines zutiefst enttäuschten und verletzten Liebhabers. Kein Geringerer als Gott selber spricht hier – und der Anlass zu dieser enttäuschten Liebe sind sie selber, ist ihr eigenes Verhalten: „Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.“ Gott, der sein Volk so sehr geliebt, es so reich beschenkt, es so sehr umsorgt hatte, hatte von seinem Volk doch nichts weiter erwartet, als dass es nun auch so lebt, dass er sich darüber freuen kann, dass sich seine Liebe im Verhalten untereinander widerspiegelt. Doch genau das Gegenteil muss Gott im Blick auf sein Volk wahrnehmen. Was mit dem Rechtsbruch und der Schlechtigkeit gemeint ist, erläutert Jesaja eindrücklich in den folgenden Versen: Die reiche Oberschicht macht sich ein schönes Leben auf Kosten der Armen, nutzt ihren Reichtum aus, um ihr Vermögen immer weiter zu vergrößern, nutzt ihren Einfluss bei Gerichtsverhandlungen aus, um den unteren Schichten ihre Häuser, ihren Besitz abzupressen und sie von sich abhängig zu machen, dass sie von dem, was sie erarbeiten, mit ihren Familien selber nicht mehr leben können. Fremde werden im Land wie Menschen zweiter Klasse behandelt, deren Arbeitskraft man gerne ausnutzt, denen man aber ansonsten kein menschenwürdiges Leben zubilligt. Und dieses Verhalten trifft Gott selber unmittelbar, enttäuscht ihn, verletzt ihn, macht ihm unmissverständlich deutlich, dass es mit der Liebe seines Weinbergs, seines geliebten Volkes zu ihm, seinem Gott, wohl nicht weit her sein kann, wenn es sich so in seinem Alltag verhält.

Sein Gericht kündigt Gott seinem Volk hier ganz unverhohlen an, sein Gericht, das eben darin besteht, dass er sein Volk sich selbst überlässt, dass er es so weiterleben lässt, wie es dies doch offenkundig gerne will: ohne ihn, ohne die liebevollen Grenzziehungen seiner Gebote. Was dabei herauskommt, darin kommen sich am Ende Bildwort und Realität sehr nahe: ein verwüstetes Land.

Schwestern und Brüder: Ich bin nicht Jesaja, und ihr seid nicht Israel. Aber es ist derselbe Gott, der damals durch Jesaja zu Israel sprach und der heute auch in diesem Gottesdienst zu euch spricht. Und er, Gott der Herr, will euch heute in dieser Predigt zunächst einmal und vor allem die Augen dafür öffnen, wie sehr er auch euch liebt, ja, was er aus Liebe zu euch schon alles unternommen hat: Und da kann ich euch nun von noch mehr erzählen, als Jesaja es konnte, kann ich euch erzählen davon, dass Gott in seiner Liebe zu euch seinen einzigen Sohn in den Tod gegeben hat, nur um euer Herz zu gewinnen, nur damit ihr für immer in seiner Gemeinschaft leben könnt. Das ist noch unendlich mehr, als bloß Steine auszubuddeln und einen Turm zu bauen. Und diese Liebe, die er in der Hingabe seines Sohnes bewiesen hat, die hat er uns nun auch noch einmal ganz persönlich zugute kommen lassen: In der Heiligen Taufe hat er uns zu seinen Kindern gemacht, hat uns in die Gemeinschaft seines geliebten Volkes gerufen, hat uns bis zum heutigen Tag immer und immer wieder unsere Schuld vergeben und uns immer wieder von Neuem gestärkt mit den Gaben seines Heiligen Mahles. Jedem von uns hat er diese Liebe erwiesen – und er hat sie auch unserer Gemeinde insgesamt so reichlich zukommen lassen, hat uns so reich beschenkt mit wunderbaren Menschen, die er in unsere Mitte geführt hat, hat seinen Segen auf unsere Arbeit gelegt, dass wir darüber immer wieder nur staunen können. Und reich beschenkt hat er schließlich auch unser Volk, hat es die Wiederentdeckung der frohen Botschaft in der Reformation in seiner Mitte erfahren lassen, gibt uns bis heute die Möglichkeit, sein Wort frei und ungehindert hören und verkündigen zu können.

Wie enttäuscht muss Gott da immer wieder sein, wenn er sieht, was wir aus diesen Geschenken, aus den Investitionen seiner Liebe in unserem Leben gemacht haben: Wie enttäuscht muss er sein, wenn wir seiner Einladung nicht folgen, wenn wir Anderes in unserem Leben als so viel wichtiger ansehen als ihn und sein Wort. Kein Wunder, wenn ihn da der große Liebeskummer packt! Wie enttäuscht muss Gott sein, wenn er sieht, wie oft wir in unserem Leben um uns selber kreisen und uns gegenüber ihm, Gott, und unserem Nächsten verschließen! Wie enttäuscht muss Gott sein, wenn er wahrnimmt, wie mickrig die Taten der Liebe sind, die er bei uns erkennen kann, wie gleichgültig wir oft genug gegenüber der Not des Nächsten sind! Wie enttäuscht muss Gott sein, wenn er wahrnimmt, dass wir den reichen Segen, den er auf unsere Gemeinde legt, oftmals so wenig zu schätzen wissen, uns am liebsten mit weniger Segen zufrieden geben würden, wenn wir dafür im vertrauten Kreise unter uns bleiben könnten, wenn er wahrnimmt, wie schwer wir uns damit tun, andere Glieder der Gemeinde als unsere Brüder und Schwestern anzunehmen, wenn er wahrnimmt, wie schwer wir uns damit tun, Vorurteile gegenüber Mitchristen zu überwinden! Und wie enttäuscht muss Gott erst sein, wenn er auf unser Volk und Land blickt, wenn er da so vieles von dem wiedererkennt, was ihm damals schon in Israel solchen Liebeskummer bereitete: die Gier derer, die schon so viel haben, immer noch mehr haben zu wollen, die so weit verbreitete Bereitschaft, mit legalen und halblegalen Tricks sich auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen, die immer größer werdende Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern in der Gesellschaft, die oft genug menschenunwürdige Behandlung von Fremden in unserem Land bis hin zu den Exzessen von Fremdenfeindlichkeit, über die wir so lange gerne hinweggesehen haben! Gott ist das nicht egal; es gibt nicht Freiräume in unserem Leben, ja in unserem Land, für die er sich nicht interessieren würde – so enttäuscht er gewiss auch darüber ist, dass so wenige Menschen in unserem Land die Möglichkeiten nutzen, den Glauben als Christen frei und offen praktizieren zu können.

Allen Grund hätte Gott dazu, auch an uns sein Gericht zu vollziehen, uns uns selber zu überlassen. Denn genau darin besteht ja sein Gericht, das er jetzt schon hier auf Erden vollzieht: Dass er die Menschen genau das tun lässt, was sie begehren. Das Niederreißen der Zäune von Gottes Geboten mag so mancher als neu gewonnene Freiheit betrachten; in Wirklichkeit machen wir uns damit selber zu Handlangern von Gottes Zorn über die Sünde unseres Volkes. Und wer weiß, ob Gott, wenn wir lange genug darüber jammern, welche Probleme wir in unserer Gemeinde wegen ihres Wachstums bekommen haben, nicht auch einmal darauf reagiert und seine segnende Hand auch wieder zurückzieht, wieder wüst werden lässt, was jetzt noch so blüht!

Doch noch wirbt er um uns, leidenschaftlich, kreativ, wie es ihm, dem Schöpfer entspricht, wirbt um uns und unsere Liebe, möchte doch einfach nichts Anderes, als dass wir uns seiner Liebe nicht verweigern, sondern aus der Kraft dieser Liebe unser Leben gestalten – als einzelne Christen, als Gemeinde, ja auch darüber hinaus in unserem Volk. Noch ist es nicht zu spät; noch habe ich nicht den Auftrag, euch zu verkündigen, dass ihr dem Strafgericht Gottes verfallt. Im Gegenteil: Noch darf ich euch Gottes Vergebung, sein Erbarmen verkündigen, noch darf ich euch einladen, immer wieder von Neuem die Erweise seiner Liebe zu empfangen. Gott geb’s, dass wir eben dies stets erkennen, dass uns allein diese Vergebung vor Gottes Strafgericht retten kann, und Gott geb’s, dass uns der Empfang seiner Liebe nicht unverändert lässt und Gott auch bei uns ernten kann, was er doch selbst bei uns angebaut hat! Amen.