07.03.2012 | Mittwoch nach Reminiszere

ZWEITE FASTENPREDIGT ZUM THEMA „DAS WORT VOM KREUZ“:
„DAS WORT VOM KREUZ – NACH MARKUS“

Das Markusevangelium ist das kürzeste der vier Evangelien im Neuen Testament. Oft genug ist es in der kirchlichen Wahrnehmung eher an den Rand gerutscht; in den altkirchlichen Evangelienlesungen für die Sonntage finden sich nur wenige Abschnitte aus dem Markusevangelium. Und oft genug hat man auch gemeint, das Markusevangelium sei im Vergleich zu den anderen Evangelien eher profillos, lasse eine theologische Absicht seines Verfassers weniger deutlich erkennen, als dies bei den anderen Evangelien der Fall sei. Doch wer so etwas meint und behauptet, hat in Wirklichkeit vom Markusevangelium noch nicht viel verstanden. Denn wenn wir genauer hinschauen, ist das ganze Markusevangelium geprägt von einer Theologie des Kreuzes, die bis heute von ihrer Aktualität nicht das Geringste verloren hat.

Ein entscheidendes Thema des Markusevangeliums, wenn nicht das entscheidende Thema überhaupt, wird uns gleich in der Überschrift von Markus benannt: „Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.“ Darum soll es also in diesem Evangelium gehen, dass die Leser erkennen und erfahren: Dieser Jesus ist Gottes Sohn. Wie und woran macht man das dem Leser klar, dass Jesus Gottes Sohn ist? Markus hätte sich da in seiner religiösen Umwelt leicht bedienen können: Da gab es eine ganze Menge von Heldenerzählungen, Lebensschilderungen von Halbgöttern, von dem, was die in ihrem Leben alles so angestellt hatten: Alle möglichen Wunder hatten die vollbracht, hatten mit dem, was sie so alles draufhatten, Begeisterungsstürme bei ihren Zuschauern hervorgerufen.

Markus schildert auch Wunder, die Jesus vollbracht hat. Wie sollte er sich auch verschweigen, wenn sie doch offenkundig geschehen waren? Doch wenn Markus die Wunder Jesu schildert, tut er es niemals in der Absicht, Jesus als eine Art von Superman hinzustellen, der die Leute mit seinen sensationellen Darbietungen begeistert und so zum Glauben an ihn als den Sohn Gottes führt. Im Gegenteil: Wenn Jesus Zeichen und Wunder vollbringt, so berichtet es St. Markus, dann fordert er die, an denen dies Wunder geschieht, immer wieder dazu auf, mit diesem Wunder keine Werbung für ihn, Jesus, zu machen. Jesus will nicht als der große Wundertäter in die Geschichtsbücher eingehen, und so gebietet er denen, denen er mit seinen Wundern geholfen hat, zu schweigen, kein Wort darüber zu sagen, solange nicht das Entscheidende geschehen ist. Und dieses Entscheidende ist die Kreuzigung Jesu.

Viermal finden wir im Markusevangelium die Worte „Sohn Gottes“, einmal abgesehen von der Überschrift: Ganz am Anfang, genau in der Mitte und schließlich am Ende: Am Anfang und in der Mitte ist es jeweils Gott selber, der diese Worte spricht: Gleich zu Beginn bekennt er sich zu Jesus als seinem Sohn bei dessen Taufe. In der Mitte des Evangeliums werden einige der Jünger Zeugen der Verklärung Jesu und hören dabei erneut, wie Gott selber Jesus als seinen lieben Sohn vorstellt. Doch diesen Jüngern bleibt es verwehrt, dort oben auf dem Berg zu bleiben; sie müssen hinter Jesus hergehen auf seinem Weg, der ihn und mit ihm auch sie in Leiden, Kreuz und Tod führt. In der Passionsgeschichte hören wir die Worte von Jesus als dem Sohn Gottes gleich doppelt: Zum einen im Mund des Hohenpriesters, der Jesus am Ende der Verhandlung vor dem Hohen Rat genau diese Frage stellt: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Als Jesus diese Frage bejaht, bedeutet dies sein Todesurteil: Gott hat keinen Sohn, und wer dies behauptet, der ist des Todes schuldig. Und dann kommt der Schlusspunkt: Als Jesus am Kreuz gestorben ist, ist es ausgerechnet ein Heide, ein römischer Hauptmann, der dies Bekenntnis spricht: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ Genau dahin will St. Markus die Leser und Hörer seines Evangeliums führen, dass sie das Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes nicht angesichts seiner Wundertaten, seiner Machterweise sprechen, sondern dass sie es sprechen im Aufblick auf den gekreuzigten Christus. Dass Jesus der Sohn Gottes ist, sollen die Leser und Hörer seines Buches allein dadurch erkennen, dass sie ihr Augenmerk auf den Leichnam richten, der da am Kreuz hängt: „Wahrlich dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ – So formuliert der Hauptmann im Rückblick. Seine Worte sind noch kein christliches Bekenntnis – das spricht davon, dass Jesus Gottes Sohn ist, nicht bloß in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart und Zukunft. Doch Markus macht zugleich hier sehr eindrücklich deutlich: Es gibt kein Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes, das am Kreuz vorbeiführt oder vorbeiblickt. Wir sollen im Gegenteil Jesus als den Sohn Gottes gerade in seiner tiefsten Erniedrigung, ja in seinem Tod, wahrnehmen, erkennen und uns gerade so zu ihm bekennen.

Wie hochaktuell ist diese Botschaft des Markusevangeliums auch für uns heute! Genau das ist ja auch heute die Erwartungshaltung, mit der viele Menschen dem christlichen Glauben begegnen: Bringt mir der Glaube was, fühle ich mich dadurch besser, dass ich glaube? Und auf diesen Zug springen dann auch bestimmte christliche Gruppierungen auf. Als ich gerade diese Predigt am Computer schrieb, erreichte mich per E-Mail eine Einladung zu den „Berliner Heilungstagen“: Billy Smith, ein bekannter Heilungsevangelist, kommt nach Berlin, um hier bei den Menschen körperliche und seelische Heilung hervorzurufen. Sicher werden die Leute dorthin in Massen strömen – doch auf den Evangelisten Markus können sie sich dabei ganz gewiss nicht berufen. Der warnt im Gegenteil mit seinem Evangelium davor, die Macht Christi anderswo wahrzunehmen als allein in der Ohnmacht des Kreuzes, ihn, Christus, zum Wellnessbringer zu degradieren, statt allein auf das zu schauen, was er am Kreuz für uns erlitten hat. Nicht angesichts von Wunderheilungen sollen Menschen den Weg zu Christus finden, sondern allein in der Betrachtung des Kruzifixus.

Und dieses Kreuz, an dem wir Christus als den Sohn Gottes erkennen sollen, ist in der Schilderung des Evangelisten Markus weniger ein Siegeszeichen als vielmehr Ausdruck der totalen Gottverlassenheit, die er, Jesus, der Sohn Gottes, dort am Kreuz erfährt. Alle wenden sich der Reihe nach von ihm ab und missverstehen ihn, bis schließlich Jesus am Ende erfährt, dass auch Gott selbst ihn dort am Kreuz allein lässt, ihn dort die Hölle erfahren lässt. Uns zum Trost schildert St. Markus uns dies: Wenn wir in unserem Leben die Erfahrung machen, ganz allein dazustehen, von allen verlassen, von allen missverstanden zu sein, ganz besonders und erst recht, wenn dies um unseres Glaubens an Christus willen geschieht, dann dürfen wir wissen: Der, der da am Kreuz gehangen hat, der versteht uns in unserer Not, der hat sie selber in noch viel tieferem Maße erlitten, und der lässt uns eben nicht allein, wie er selber alleingelassen worden ist.

Dennoch verheißt Markus in seinem Evangelium denen, die an Christus glauben, kein einfacheres, schöneres Leben. Im Gegenteil: Durch sein Evangelium zieht sich der Ruf in die Nachfolge Christi, die immer Kreuzesnachfolge ist: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Wer an Christus glaubt und dadurch mit ihm verbunden ist, muss auch damit rechnen, dass ihm ein ähnliches Geschick widerfährt wie ihm, dem Herrn, selber. Nicht zur Selbstverwirklichung, sondern zur Selbstverleugnung ruft uns Christus, auch wenn diese Botschaft in unsere heutige Zeit und Welt überhaupt nicht hineinzupassen scheint. Christus verkündigt nicht die Verheißungen der Spaßgesellschaft, sondern er öffnet uns die Augen für das Geheimnis des Kreuzes, dass wir gerade auf dem Kreuzweg die Erfüllung unseres eigenen Lebens finden können, ja, mehr noch, dass durch das Kreuz hindurch der Weg ins Leben der Auferstehung führt.

Nicht zur frommen Leistung ruft uns Markus mit seinem Evangelium auf. Er macht sehr deutlich, worin sich all die kleinen Kreuze, die wir in unserem Leben tragen müssen, von dem einen großen Kreuz unseres Herrn unterscheiden: Nur seine Lebenshingabe am Kreuz sühnt unsere Schuld, nur sie allein ist das eine Opfer, das auch all unser Versagen auf dem Weg der Nachfolge unseres Herrn ausgleicht, zudeckt und so in Gottes Augen wegnimmt. „Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird“ – So lesen wir es bei Markus genau wie bei Matthäus. Im Altarsakrament wird uns damit am deutlichsten vor Augen gestellt, was Jesu Kreuzestod für uns bedeutet: Stellvertretend für uns hängt er da, damit uns sein Geschick, die letzte Trennung von Gott, in alle Ewigkeit erspart bleibt. Wir begegnen im Heiligen Mahl nicht nur ganz allgemein Christus, sondern wir empfangen seinen am Kreuz durchbohrten Leib, sein am Kreuz vergossenes Blut, bekommen dadurch Anteil an seinem Opfer und bekommen eben dadurch die Kraft geschenkt, uns zu ihm, dem Gekreuzigten zu bekennen: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn.“ Amen.