20.05.2012 | Jeremia 31,31-34 | Exaudi
Nun ist er in dieser Woche also zurückgetreten, der Chef des Berliner Landesverbandes der Piraten, Hartmut Semken. Mancherlei Erstaunliches hatte man in den vergangenen Wochen aus seinem Munde vernehmen können, unter anderem den Satz, er wünsche sich „eine rein moralisch definierte Gesellschaft, in der es keine Gesetze mehr gibt, dann auch keine Polizei, keine Staatsanwaltschaft“, eine „Gesellschaft, in der niemand Macht über einen anderen Menschen ausübt“.
Ein wenig durchgeknallt klingt das zugegebenermaßen – doch halt: Wiederholt Herr Semken damit nicht einfach mit eigenen Worten genau das, was der Prophet Jeremia uns hier in der alttestamentlichen Lesung des Sonntags Exaudi ankündigt? Eine Gesellschaft, in der keiner den anderen lehrt, in der jeder das Gesetz in seinem Herzen trägt – ist das nicht dasselbe, was sich auch Herr Semken wünscht? Sind die Piraten also vielleicht doch gar nicht so sehr gegen die Kirche, wie viele von ihnen zunächst einmal ganz lauthals verkündigen?
Es lohnt sich jedenfalls, noch einmal genauer hinzuschauen, was uns der Prophet Jeremia hier verkündigt, und dann auch darüber nachzudenken, was das für uns denn nun heute ganz konkret bedeutet, ja auch in unserer heutigen Gesellschaft.
Dass es gar nicht so einfach ist, eine funktionierende Gesellschaftsordnung auf die Beine zu stellen, diese Erfahrung hatte kein Geringerer als Gott selber gemacht, so berichtet er es uns hier in unserer heutigen Predigtlesung. Dabei hatte er es doch so gut gemeint, hatte so gute Voraussetzungen geschaffen: Da hatte er sein Volk Israel an der Hand genommen und aus Ägypten geführt, hatte es am Schilfmeer gerettet, hatte ihm damit Leben und Zukunft geschenkt, hatte ihm gezeigt, dass es von ihm bedingungslos geliebt ist. Und dann hatte er mit dem Volk Israel am Sinai einen Bund geschlossen. Nun war ein solcher Bund damals etwas ganz Anderes, als was wir heute darunter verstehen. Heute gibt es zum Beispiel den BUND, den Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland. Der wurde von Leuten gegründet, die alle miteinander dieselben Interessen hatten und die sich dann gemeinsam eine Satzung gegeben hatten, die eben diesen Interessen und Zwecken dienlich war und ist. Das verstehen wir also heute unter einem Bund: eine Gemeinschaft von gleichberechtigten Partnern, die sich miteinander auf gemeinsame Regeln für ihren Verein verständigen. So war das damals am Berg Sinai nicht. Da hatte Gott nicht eine Delegation von Israeliten oben bei sich auf dem Berg empfangen und mit ihnen einen Vertrag für das weitere Zusammenleben miteinander ausgehandelt. Und entgegen mancher satirischer Darstellung ist es Mose da oben auf dem Berg auch nicht gelungen, die Zahl der Gebote von 15 auf 10 runterzuhandeln. Damit hätte man im Übrigen dann auch noch gar nicht kapiert, was Gott mit seinen Geboten eigentlich gemeint hatte.
Nein, ein Bund war damals eine ganz einseitige Erklärung, mit der ein Übergeordneter einen Untergeordneten in seine Gemeinschaft aufnahm und ihm versprach, dass dieser Untergeordnete im Weiteren unter seinem Schutz würde leben dürfen. Solch ein Bund war also für den Untergeordneten ein großes Glück. Und das galt auch für das Volk Israel: Da sagte Gott zu dem Volk erst einmal: Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein. Was für ein wunderbares Angebot! Und dann fährt Gott fort und sagt: Ich möchte, dass das auch auf die Dauer so bleibt, dass wir zusammenleben, und darum gebe ich euch jetzt ein paar Regeln an die Hand, die euch helfen sollen, dass ihr auch weiter in meiner Gemeinschaft leben könnt. Und dann lässt er dem Volk die Zehn Gebote verkündigen. Damit wollte er die Israeliten nicht schikanieren und ihnen das Leben vermiesen, sondern die waren schlicht und einfach eine Hilfe für das Volk, gemeinsam mit Gott und unter Gott zu leben, so, dass das Zusammenleben mit Gott und das Zusammenleben untereinander funktionierte. Und wenn man sich die Zehn Gebote anschaut, dann stellt man fest, dass die ja auch einigermaßen genial sind, dass wir die auch nicht besser hinbekommen hätten.
Besser konnte man doch gar nicht eine gute Gesellschaftsordnung, ein gutes Zusammenleben in der Gesellschaft begründen, als es Gott damals mit dem Volk Israel am Sinai versucht hatte. Doch die ganze Geschichte geht ganz schnell fürchterlich schief: Die Israeliten fangen, kaum dass sie die Gebote gehört haben und der Bund geschlossen ist, an, diese Gebote auch gleich wieder zu brechen und zu übertreten. Das geht schon los mit dem allerersten Gebot, und die weiteren folgen dann auch schnell. Was so verheißungsvoll begann, erweist sich schnell als gescheitertes Projekt: Die Israeliten waren und sind offenbar nicht dazu in der Lage, Gottes gute Weisungen für ihr Leben einzuhalten. Ein Bund, dessen Bestehen darauf beruht, dass beide Seiten sich ganz an die Regeln halten, die Gott aufgestellt hat, ist und bleibt zum Scheitern verurteilt.
Es wäre für Herrn Semken sehr hilfreich gewesen, wenn er sich mit diesen Erfahrungen, die Gott mit seinem Volk gemacht hatte, auch einmal etwas intensiver auseinandergesetzt hätte. Selbst bei besten Voraussetzungen sind wir Menschen offenkundig nicht dazu in der Lage, selbst eindeutig gute und hilfreiche Regeln des Zusammenlebens ganz einzuhalten. Denn was für die Israeliten damals galt, gilt für uns Menschen insgesamt, gilt erst recht auch für uns heute in unserer Gesellschaft. Wir tun immer wieder gerade nicht, was für uns selber gut und vernünftig wäre, sondern da steckt offenkundig in uns noch etwas Anderes drin, was gegen diese Gute und Vernünftige, was gegen die Einhaltung von Gottes guten Geboten in uns anarbeitet. Und das hat wiederum, so können wir es schon an den Erzählungen vom Berg Sinai erkennen, seine Wurzel in einem grundlegenden Misstrauen gegenüber Gott, in einem grundlegenden Misstrauen dagegen, dass er es gerade auch mit seinen Geboten wirklich gut mit uns meint. Und daraus folgt dann die Übertretung all der anderen Gebote.
Ich weiß, dass auf das, was ich gerade als Botschaft der Heiligen Schrift verkündigt habe, heutzutage die Atheistenverbände immer wieder sehr allergisch reagieren. Sie behaupten, dass man auch ohne den Glauben an Gott eine funktionierende moralisch handelnde Gesellschaft aufbauen könne. Im Gegenteil würde der Glaube an Gott die Menschen moralisch schlechter machen.
Nun ist es sicher richtig, dass man nicht behaupten kann, dass Menschen, die nicht an Gott glauben, deswegen alle miteinander potentielle Schweine und Massenmörder wären. Es gibt viele erklärte Atheisten, von deren moralischem Handeln man sich als Christ gut die eine oder andere Scheibe abschneiden kann, ganz klar. Und doch haben die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes gut daran getan, über das Grundgesetz die Worte zu schreiben: „In Verantwortung vor Gott“. Wenn Gott und seine Gebote nicht mehr der letzte Maßstab für das sind, was im Zusammenleben einer Gesellschaft gilt, dann tritt an seine Stelle am Ende das sogenannte gesunde Volksempfinden. Die Folgen dessen sind uns im Dritten Reich deutlich genug vor Augen gestellt worden. Wenn der Mensch sich selber absolut setzt, können auch noch so edle Idealisten nicht verhindern, dass sich die Triebe im Menschen, die Gottes gutem Willen entgegenarbeiten, am Ende doch durchsetzen. Die Menschheitsgeschichte bietet hierfür genügend erschreckendes Anschauungsmaterial.
Was können wir also aus Gottes Erfahrungen mit dem Volk Israel lernen? Eine Gesellschaftsordnung, die auf den guten Willen des Menschen, auf seine guten Veranlagungen, auf seinen inneren moralischen Kompass setzt, muss scheitern und wird immer wieder scheitern. Weil der Mensch so ist, wie er ist, werden darum in einer Gesellschaft doch immer wieder Gesetze und Verbote, ja auch Strafen und damit auch Polizei und Staatsanwälte nötig sein. Sie sollen letztlich immer wieder dem Schutz der Schwachen dienen, die eben da immer wieder zu kurz kommen, wo sich das Ego der Starken durchsetzt.
Kann sich daran nicht doch etwas ändern? Kann nicht doch noch irgendwann eine Gesellschaft entstehen, in der alles so läuft, wie Herr Semken sich dies erträumt? Nein und Ja, so macht es uns Jeremia hier deutlich. Umerziehen lässt sich der Mensch nicht; er wird immer derselbe alte Mensch bleiben, der er seit dem Sündenfall ist. Und doch muss nicht einfach alles bleiben, wie es war. Denn Gott selber kündigt hier einen neuen Bund an, den er zunächst einmal mit dem Haus Israel schließen will: einen Bund, ein Zusammenleben der Menschen mit Gott und miteinander, das tatsächlich auf einer ganz anderen, einer ganz neuen Grundlage funktioniert. Doch diese Grundlage schaffen nicht wir Menschen; diese neue Grundlage kann nur Gott allein schaffen – dadurch, dass er unser Herz verändert, uns ein neues Herz schenkt, das ganz von ihm und seinem Willen geprägt ist. Das Allerwichtigste an dieser neuen Grundlage ist jedoch, dass sie auf der Vergebung beruht: Der neue Bund geht eben nicht dadurch kaputt, dass Menschen Gottes Gebote übertreten. Sondern Gott bewahrt diesen Bund dadurch, dass er den Menschen, die schuldig geworden sind, immer wieder ihre Sünden vergibt, sie immer wieder von vorne anfangen lässt.
Damals, als der Jeremia diese Worte verkündigte, lag der neue Bund noch ganz in der Zukunft. Wir wissen mittlerweile, wann und wie Gott diesen neuen Bund gestiftet hat, werden die Worte auch nachher wieder im Gottesdienst hören: „Dieser Kelch ist der neue Bund, das neue Testament in meinem Blut“, so sagte es Jesus in der Nacht, da er verraten ward. Dadurch, dass er für uns am Kreuz gestorben ist, hat er die Grundlage für diesen neuen Bund geschaffen, hat diesen neuen Bund in Kraft gesetzt. Und in diesen neuen Bund bist nun auch du aufgenommen worden am Tag deiner Heiligen Taufe, in diesen Bund ist heute Morgen nun auch Victoria aufgenommen worden. Sie lebt nun auch in der Gemeinschaft mit Gott, ja, Gott hat auch ihr eben in der Heiligen Taufe ein neues Herz geschenkt, ein Herz, in dem Christus lebt, hat ihr damit die Möglichkeit gegeben, anders leben zu können.
Wenn wir nun alle getaufte Christen wären, könnten wir dann also die Vision von Hartmut Semken umsetzen, könnten wir dann tatsächlich Polizei und Staatsanwaltschaft abschaffen? Ach, Schwestern und Brüder, es wäre ja so schön. Doch noch steckt auch in uns Christen immer auch der alte Mensch drin, der Gott nicht vertrauen will, der nicht annehmen will, dass Gott es mit seinen Geboten wirklich gut mit uns meint. In einem Kampf zwischen diesem neuen Herzen und dem alten Menschen befinden wir uns alle miteinander, und wir wissen, wie unterschiedlich die Ergebnisse in diesem Kampf ausfallen. Darum bräuchten wir selbst in einer Gesellschaft, in der alle Christen wären, immer noch Gesetze und eine Polizei. Darum brauchen wir aber vor allem alle miteinander immer und immer wieder Gottes Vergebung, haben wir es immer und immer wieder nötig, das Blut des neuen Bundes im Heiligen Mahl zu empfangen, durch das unser Verhältnis zu Gott wieder in Ordnung kommt.
Nein, eine Gesellschaft, in der alle nur nach Gottes Willen leben, wird es hier auf Erden niemals geben; die wird es erst im Himmel geben. Da werden dann in der Tat kein Polizeirevier und keine Oberstaatsanwaltschaft mehr nötig sein. Und doch können wir ein wenig von dem, was Jeremia hier ankündigt, auch schon jetzt im Zusammenleben unserer Gemeinde erleben. Wir erfahren es miteinander, wie der gemeinsame Glaube, das gemeinsame Bekenntnis uns als Brüder und Schwestern zusammenschließt. Wir erfahren es, dass wir darum auch in unserer Gemeinde anders miteinander umgehen, dass wir einander auch anders vertrauen können, als dies sonst in unserer Gesellschaft in der Regel möglich ist. Und dass wir in unserer Gemeinde liebevoll miteinander umgehen, das merken dann in der Tat auch andere Leute, das spricht sich herum, ja, das wirkt sich dann auch aus in der Gesellschaft um uns herum, so erfahren wir es bei uns ja auch ganz handgreiflich, etwa in unserer Arbeit mit unseren Brüdern und Schwestern aus dem Iran. Ja, Gott hat schon ganz kräftig angefangen, an uns und unseren Herzen zu arbeiten – und dass ihr heute Morgen hier sitzt, ist überhaupt der beste Beleg dafür, dass er dieses neue Herz auch in euch schon geschaffen hat. Und trotzdem werden wir es auch in diesem Jahr wieder dringend nötig haben, Pfingsten zu feiern, ihn, den Heiligen Geist, wieder neu zu bitten, zu uns zu kommen und an uns zu arbeiten. Denn ohne den läuft gar nichts – in unserem Glauben und in unserem Zusammenleben als Kirche. Aber mit dem tut sich was, da entsteht sie schon, die Gesellschaft, in der es nicht mehr um Macht geht, weil nur einem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden – ihm, Christus, dem Herrn der Kirche. Und eben darum können wir Herrn Semken und seine Piraten, ja alle Berliner nur einladen: Kommen Sie zu uns – bei uns hat die Zukunft schon begonnen! Amen.