21.10.2012 | 1. Korinther 7,29-31 | 20. Sonntag nach Trinitatis
Sie wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Die Ärzte hatten es ihr offen gesagt, dass die Krankheit schnell voranschreiten würde und es kein Heilmittel dagegen gab. Immer noch fiel es ihr schwer, mit dieser verkürzten Lebensperspektive umzugehen – doch zugleich konnte sie in dem, was sie nun durchmachen musste, auch etwas Gutes erkennen: Ich lebe nun viel bewusster, so sagte sie. Mir wird nun viel klarer als vorher, was im Leben wirklich wichtig ist und was nicht, worüber es sich aufzuregen lohnt und worüber nicht, ja, was schließlich allein zählt.
Schwestern und Brüder: Natürlich habe ich mir diese Geschichte gerade ausgedacht; ich würde natürlich keine seelsorgerlichen Fälle hier auf der Kanzel präsentieren. Aber was ich da gerade erzählt habe, ist doch eine sehr typische Geschichte, wie ihr sie vielleicht auch schon so ähnlich erlebt habt: Wenn die Lebenszeit kurz wird, dann wird einem erst so richtig klar, was im Leben wirklich Bedeutung hat, ja, da konzentriert man sich dann bei dem, was man tut, auf das Wesentliche.
„Die Zeit ist kurz“, so erklärt es auch der Apostel Paulus in der Predigtlesung des heutigen Sonntags. Dabei denkt er natürlich nicht zuerst und vor allem daran, dass wir schon bald an einer schweren Krankheit sterben könnten, sondern er denkt an etwas sehr viel Erfreulicheres; er denkt daran, dass wir als Christen jederzeit damit rechnen können und sollen, dass Christus, unser Herr, wiederkommt und damit der jetzigen Weltgeschichte ein Ende bereitet.
Ja, ich weiß: An dieser Stelle wird nun immer wieder ein wenig herablassend bemerkt, der Apostel Paulus habe sich ja wohl offensichtlich geirrt; so kurz, wie er dachte, war die Zeit doch gar nicht – im Gegenteil: Seit er diese Worte damals an die Christen in Korinth schrieb, sind nun schon fast 2000 Jahre vergangen. Wie gut, dass wir heute klüger sind als der Apostel Paulus und jetzt schon ziemlich genau voraussagen können, wie es wohl im Jahr 2100 auf dieser Welt aussehen wird!
Doch in Wirklichkeit hat sich der Apostel Paulus eben überhaupt nicht geirrt. Sondern er leitete damals die Christen in Korinth zu einer Lebenshaltung an, die genauso auch die unsrige ist oder zumindest sein sollte: Christus hat seine Wiederkunft ja nicht in der Zwischenzeit abgeblasen, und insofern sollen wir heute genauso wie die Christen damals jederzeit dazu bereit sein, ihm zu begegnen, sollen von dieser Aussicht her unser Leben gestalten. „Wartet nicht erst, bis ihr schwerkrank seid, bevor ihr anfangt, darüber nachzudenken, was euch in eurem Leben wirklich trägt, was wirklich zählt“, so ruft es uns der Apostel zu: Betrachtet alles, was ihr tut, im Licht des wiederkommenden Christus, richtet auf ihn euer Leben aus!
Was heißt das nun ganz praktisch für unser Leben?
Es heißt zunächst einmal: Wir sollen bei allem, was wir tun, daran denken, dass wir uns dafür einmal werden verantworten müssen. „Was würde ich tun, wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte?“ Es gibt Leute, die auf diese Frage antworten: Wenn ich das wüsste, dass ich nur noch einen Tag zu leben hätte, dann würde ich schnell noch ein paar Leute abknallen oder mich einfach hemmungslos besaufen, damit ich das Ende nicht so mitbekomme! Denn danach kommt ja sowieso nichts mehr – da kann ich mich dann vorher gehen lassen, wie ich will!
Doch genau das stimmt eben nicht. Mit unserem letzten Tag hier auf Erden ist eben gerade nicht Schluss, ganz gleich, wie er in unserem Fall auch aussehen mag. Sondern auf diesen letzten Tag hier auf Erden folgt auf jeden Fall die eine große Frage, die an uns gerichtet werden wird, was wir eigentlich aus unserem Leben gemacht haben, ja, was uns da eigentlich wichtig gewesen ist. Und wenn ich mir das bewusst mache, dann kann mir das schon helfen, anders zu leben, ganz bewusst zu leben, eben weil ich weiß, dass ich einmal gefragt werde und nicht weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt, mich darauf noch vorzubereiten. Ja, es ist schon eine sehr hilfreiche ganz praktische Frage, die wir uns bei dem, was wir tun, immer wieder einmal stellen sollten: Könnte ich mit dem, was ich jetzt gerade mache oder sage, vor dem wiederkommenden Christus bestehen? Könnte ich das vor ihm verantworten, oder glaube ich allen Ernstes, ich könnte auch nur irgendetwas vor ihm, dem wiederkommenden Herrn, verstecken? Die Zeit ist kurz. Schwestern und Brüder: Was der Apostel Paulus hier schreibt, ist und bleibt aktuell, auch nach 2000 Jahren.
Schwestern und Brüder: Nun wissen wir nicht, ob heute oder morgen schon der letzte Tag unseres Lebens sein wird. Wenn wir das wüssten, dann wäre es für uns in vielem einfacher, unser Leben in diesen letzten Stunden noch anständig zu gestalten. Wenn wir wüssten, dass wir nur noch einen Tag zu leben hätten – ja, dann würden wir uns vielleicht für die kurze Zeit noch mal zusammenreißen können, würden vielleicht für diese Zeit sogar noch mal ganz fromm werden und zur Kirche gehen, auch wenn die uns vorher vielleicht gar nicht so viel bedeutet hatte. Doch eine viel größere Herausforderung ist es, sein Leben auf den wiederkommenden Herrn auszurichten auch ohne die Gewissheit, dass er tatsächlich schon morgen oder übermorgen oder nächste Woche wiederkommt. Dann bleibt uns gar nichts anderes übrig, als unseren ganz normalen Alltag zu gestalten, dann ist es nicht unsinnig zu heiraten oder einzukaufen, über Trauriges zu weinen und sich über Schönes zu freuen. Und doch erscheint all das, was wir in unserem Alltag tun, in einem anderen Licht, wenn wir bedenken, dass wir dem kommenden Herrn Jesus Christus entgegengehen:
Ja, es ist gut und richtig, wenn Menschen heiraten, ganz klar. Gott selber sagt das so in seinem Wort. Es ist gut und richtig, eine Familie zu gründen, Kinder zu haben, mit ihnen Freud und Leid zu teilen. Doch, so betont es der Apostel Paulus hier zugleich, all dies darf niemals der letzte Sinn meines Lebens sein. Wenn mir mein Freund, meine Freundin oder mein Ehepartner so wichtig sind, dass sie mich dazu veranlassen, die Verbindung zu Christus aufzugeben und nur noch für den Partner zu leben, dann bin ich dabei, das eigentliche Ziel meines Lebens zu verpennen und zu verpassen. Wenn ich um des trauten Familienlebens willen keine Zeit mehr habe, um dem lebendigen Christus hier im Gottesdienst zu begegnen und seinen Leib und sein Blut zu empfangen, dann erweise ich mich damit als völlig kurzsichtig, übersehe, dass auch die Familie nicht der letzte Sinn und das letzte Ziel meines Lebens ist.
Der Apostel Paulus formuliert das hier so: Wir sollen als Christen „haben, als hätten wir nicht“. Das heißt: Wir sollen und dürfen uns an all dem, was wir hier in unserem Leben erfahren, erfreuen, brauchen uns nicht von der bösen Welt zurückzuziehen und uns nur noch mit uns selbst beschäftigen. Das wäre gerade nicht die richtige Haltung, wie wir dem wiederkommenden Christus entgegengehen. Aber zugleich sollen wir an all das Schöne, was wir hier erfahren, niemals unser Herz hängen, sollen uns daran nicht so sehr klammern, dass wir Christus und sein Kommen aus dem Blick verlieren. All dieses Schöne, was wir in unserem Leben erfahren, wird einmal vergehen, wird einmal Vergangenheit sein. Eben darum darf es nicht der letzte Sinn meines Lebens sein, soll uns im Gegenteil helfen, für die Begegnung mit Christus vorbereitet zu sein.
Genau das gehört zu einer christlichen Ehe ganz wesentlich dazu, dass die beiden Ehepartner einander helfen, bei Christus zu bleiben und der Begegnung mit Christus entgegenzugehen. Das gehört zu einer christlichen Ehe ganz wesentlich dazu, dass einer den anderen im Glauben an Christus stärkt und dass beide miteinander wissen, dass er, Christus, die Nummer eins auch in ihrer Beziehung, auch im Leben der Familie ist. Und dabei braucht Christus eben gerade keine Konkurrenz zum Ehepartner oder zu den Kindern zu sein; im Gegenteil vermag er die Freude im Zusammenleben der Familie sogar noch zu vertiefen. Auch das ist gemeint, wenn Paulus hier schreibt, wir sollten als Christen so leben, dass wir haben, als hätten wir nicht.
Doch von daher kann eben auch ein eheloses Leben aus dieser Perspektive einen tiefen Sinn bekommen: Wenn ich nicht heirate, weil ich mich auf dem Ego-Trip befinde und keine Lust habe, auf einen anderen Menschen Rücksicht zu nehmen, dann ist das natürlich problematisch. Aber wenn es mir denn nicht geschenkt wird, mit einem Ehepartner zusammenzuleben, dann darf ich auch dies als einen Weg ansehen, den Christus mich führt, als einen Weg, auf dem ich in besonderer Weise frei bin, Christus und dem Nächsten zu dienen. Ja, auch meine Ehelosigkeit soll ich nicht für mich selber ausnutzen, sondern auch sie haben, als hätte ich nicht, diese Lebensform so leben, dass auch andere etwas davon mitbekommen, dass es tatsächlich etwas gibt, was noch wichtiger ist als Partnerschaft und Familie: eben das ewige Leben in der Gemeinschaft mit Christus.
„Haben, als hätten wir nicht“: Paulus beschränkt sich nicht darauf, dies am Thema „Ehe“ zu verdeutlichen. Sondern er spricht bewusst auch andere Lebensbereiche an: Wenn ich weiß, dass ich dem kommenden Christus in meinem Leben entgegengehe, verliert auch all das Traurige, was ich in meinem Leben erfahre, seinen letzten Schrecken: Ich gehe doch dem Tag entgegen, an dem Gott selber einmal all meine Tränen von meinen Augen abwischen wird, heilen wird, was hier auf Erden oft genug nicht mehr geheilt werden kann. Und wenn ich weiß, dass ich dem kommenden Christus in meinem Leben entgegengehe, dann kann umgekehrt auch nicht der Sinn meines Lebens nicht einfach bloß darin bestehen, möglichst viel Spaß zu haben. Ja, natürlich dürfen wir als Christen Spaß haben und uns freuen. Aber als Christen wissen wir um eine Freude, die noch viel tiefer reicht, eine Freude, die wir gerade da erleben werden, wenn Christus der Herr kommen wird und wir in seinem Licht erkennen werden, wie hohl unsere Spaßgesellschaft in Wirklichkeit oft genug gewesen ist.
Und dann spricht der Apostel Paulus hier auch noch vom Kaufen. Auch das gehört zu unserem alltäglichen Leben dazu. Aber als Christen wissen wir, dass Shoppen sich nun wahrlich nicht als Lebensinhalt eignet, ja mehr noch, dass wir unser Herz niemals an das hängen sollen, was wir gekauft haben und besitzen. All das, was wir gekauft haben, wird einmal vergehen; und selbst wenn er uns überleben sollte, werden wir den ganzen Krempel nicht mit ins Grab nehmen können, geschweige denn, dass wir damit etwas anfangen könnten, wenn einmal Christus wiederkommen wird. Kaufen wir also, was wir für unser Leben brauchen; aber sammeln wir uns keine Schätze hier auf Erden, stellen wir alles, was wir erwerben wollen, ins Licht des wiederkommenden Christus: Haben wir das für unser Leben hier auf Erden wirklich nötig, oder könnten wir mit diesem Geld nicht Anderes, Sinnvolleres tun? Das Wichtigste auf Erden brauchst du dir doch sowieso nicht zu kaufen, das wird dir von Christus immer wieder geschenkt, wenn er dich einlädt, mit ihm zu feiern – ganz umsonst.
Schwestern und Brüder: Es gibt Leute, die glauben allen Ernstes, wenn man als Christ lebt, vermiest man sich damit sein Leben. Wer so etwas behauptet, der hat nichts vom christlichen Glauben kapiert und auch nichts von dem, was der Apostel Paulus hier schreibt. Christen können sich gerade darum an dieser Welt freuen, weil sie nicht ihr Herz an sie hängen, weil sie wissen, dass vor ihnen noch etwas viel Schöneres liegt. Und Christen können sich eben darum in dieser Welt für andere einsetzen, weil sie keine Angst davor haben müssen, sie würden dabei etwas verpassen. Wir haben doch, als hätten wir nicht. Und eben in diesem Sinne wollen wir nachher auch miteinander das gute Ende des Kirchenasyls der Familie Monfared feiern. Gerettet war die Familie schon vor dem Beginn des Kirchenasyls, gerettet durch das Bad der Heiligen Taufe. Aber darüber, dass sie nun auch weiter bei uns leben darf und dass so viele aus unserer Gemeinde am Gelingen dieser Aktion beteiligt waren, dürfen wir uns eben doch von Herzen freuen und das nun nachher auch kräftig befeiern. Ja, danken wollen wir dem, der in den vergangenen Monaten seine schützende Hand über unsere Gemeinde gehalten hat und bei dem wir alle miteinander einmal für immer werden leben dürfen, nicht als Asylbewerber, sondern mit ganz festem, endgültigem Aufenthalt. Die Zeit ist kurz. Gott geb’s. Amen.