31.10.2012 | Galater 5,1-6 | Gedenktag der Reformation

Diese Predigt muss ich mit einem Geständnis beginnen: Ich habe früher als Jugendlicher auch voller Inbrunst das Lied „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ gesungen. Das Lied sprach uns als Jugendliche nicht nur wegen seiner leicht schmalzigen Melodie an, sondern auch, weil in ihm so wunderbar von der Freiheit geschwärmt wurde: „Frei sind wir, ja zu sagen oder nein“, heißt es darin, und in einer anderen Strophe: „Wir wollen Freiheit, um uns selbst zu finden, Freiheit aus der man etwas machen kann, Freiheit, die auch noch offen ist für Träume, wo Baum und Blume Wurzel schlagen kann.“

Wir schwärmten von der Freiheit – und wussten doch letztlich so wenig davon, was wirkliche Freiheit, was wirkliche Befreiung bedeutet, verstanden Freiheit letztlich nur so, dass wir tun und lassen konnten, was wir gerne wollten. Und wenn man solch eine Freiheit hat, dann ist das in der Tat ja auch nicht wenig, ist das in der Tat ein Geschenk. Zu den ersten persischen Wörtern, die ich gelernt habe, gehört das Wort „Azadih“. Das heißt „Freiheit“ auf Deutsch und drückt eine tiefe Sehnsucht so vieler junger Menschen aus, die eben darum aus dem Iran fliehen mussten, weil sie dort keine Freiheit hatten, keine Freiheit, ihr Leben außerhalb der Grenzen der strengen Gesetze des Islam leben zu können, keine Freiheit, einen anderen Glauben praktizieren zu können als den Islam. Im Vergleich dazu erscheinen unsere Freiheitswünsche, die wir hier in Deutschland hegen mögen, dann doch reichlich spießig. „Freiheit“ – so lautete in der jüngeren und in der weiter zurückliegenden Vergangenheit immer wieder das Motto von Aufständen und Revolutionen. Immer wieder sehnte man sich nach der Befreiung von Unterdrückern, immer wieder jubelte man, wenn man diese Freiheit dann schließlich errungen zu haben meinte – und immer wieder war man dann bald darauf enttäuscht, weil die erlangte Freiheit dann eben doch nicht die Gestalt annahm, die man sich im ersten Jubelrausch erhofft hatte. Als jüngstes Beispiel mögen die Erfahrungen des arabischen Frühlings vom letzten Jahr dienen, wo der Jubel mittlerweile auch wieder einer starken Ernüchterung gewichen ist.

So einfach ist das mit der Freiheit also nicht. Und darum kommt mir auch das schmalzige „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“, das sich mittlerweile sogar in manchen Anhängen des Evangelischen Gesangbuchs eingenistet hat, nicht mehr so leicht über die Lippen. Das liegt nicht nur daran, dass ich mir bis heute nicht so ganz vorstellen kann, warum Gottes Liebe wie Gras sein soll; es liegt eben daran, dass in diesem Lied zwar von der Freiheit geschwärmt wird, aber gar nicht recht deutlich gemacht wird, wovon wir denn eigentlich befreit werden sollen, ja, dass in diesem Lied überhaupt nicht erkennbar wird, was eigentlich Christus mit unserer Freiheit zu tun hat.

Doch genau darum geht es in der Predigtlesung des heutigen Abends: Ja, um Freiheit geht es in ihr, aber eben um eine Freiheit, die wir nicht von Natur aus in uns selber tragen und die uns vielleicht durch irgendwelche spießigen Vorschriften eingeschränkt wird, sondern zu der wir durch Christus befreit worden sind. Und so wollen wir uns heute Abend zunächst vor Augen führen, was das denn eigentlich heißt, dass Christus uns zur Freiheit befreit hat.

Dass wir befreit worden sind, bedeutet ja, dass wir uns früher einmal in einem unfreien Zustand befunden haben, den Christus nun grundlegend verändert hat. Und wer uns da in der Unfreiheit festgehalten hat, das hat Martin Luther, an den wir an diesem Abend natürlich in besonderer Weise denken, mit drei kurzen, knappen Begriffen immer wieder auf den Punkt gebracht: Christus hat uns befreit von der Sünde, vom Tod und vom Teufel.

Von der Sünde hat uns Christus befreit. Das heißt: Wir sind eben nicht von Natur aus frei, Ja zu sagen oder Nein. Jedenfalls nicht, wenn es um unser Verhältnis zu Gott geht. Dass sich unsere Freiheit, Ja oder Nein zu sagen, auch sonst in unserem Leben immer wieder in Grenzen hält, wissen wir auch. Da leben wir in allen möglichen Zwängen, denen wir eben nicht so einfach entkommen können. Aber gewisse Freiräume können wir uns in unserem Leben in aller Regel doch schaffen, Freiräume, in denen wir tatsächlich Ja oder Nein sagen können, wie wir wollen. Doch im Verhältnis zu Gott haben wir diese Freiheit nicht, so macht es uns die Heilige Schrift sehr deutlich. Wir sind schon in Unfreiheit geboren, versklavt vom Kreisen um uns selbst, von dem Wunsch, auch ohne Gott im Leben auszukommen. Und aus dieser Unfreiheit kommen wir von uns selber nicht heraus, können uns nicht mit einer Revolution selber davon befreien. Daraus kommen wir nur deshalb heraus, weil er, Christus, seine eigene Freiheit preisgegeben hat, selber Mensch geworden ist, sich für uns hat zum Sklaven machen lassen, sich für uns hat hinrichten lassen, damit wir freie Menschen werden können. In der Taufe hat er uns diese Freiheit geschenkt, hat uns zu Menschen gemacht, die nun tatsächlich anders leben können, die die Kraft haben, sich dem Sog des ständigen Kreisens um sich selbst entziehen zu können. Das heißt nicht, dass die Sünde in unserem Leben keine Rolle mehr spielen würde. Doch zu beherrschen braucht sie uns nun nicht mehr.

Vom Tode hat uns Christus befreit. Wie sehr wir Sklaven des Todes sind, spüren wir immer wieder, wenn wir von der Angst gepackt werden, wir könnten in unserem Leben etwas verpassen, könnten nicht genügend mitbekommen in unserer durch den Tod begrenzten Lebenszeit. Diese Angst treibt uns in unserem Leben immer wieder vor sich her, macht uns zu unfreien Menschen. Auch von dieser Sklaverei können wir uns nicht selber befreien, können uns nicht unsterblich machen, und auch unsere Versuche, unser Leben immer mehr zu beschleunigen, um immer mehr dort hineinzupacken, sind nur sehr begrenzt von Erfolg gekrönt. Befreien aus dieser Unfreiheit kann uns nur Christus selber, der durch seine Auferstehung die Macht des Todes gebrochen hat und uns an seinem Ostersieg Anteil gegeben hat in der Taufe. Da haben wir ein neues, unzerstörbares Leben erhalten – und darum dürfen wir als Christen leben in der getrosten Gewissheit, dass wir in unserem Leben gerade nichts verpassen, weil uns das Beste allemal noch bevorsteht. Gewiss bleibt uns das Sterben nicht erspart; aber es hat für die seinen Schrecken verloren, die wissen, dass Christus ihnen schon Anteil geschenkt hat an der Freiheit des ewigen Lebens.

Und da ist schließlich auch der Teufel, der für viele Menschen in unserem Land nur noch eine Grusel-Witzfigur ist, die gerade heute am Halloween-Abend auf vielen Partys für gute Laune sorgt. Doch so witzig ist der eben in Wirklichkeit gar nicht, kennt nur ein Ziel, uns für immer vom Leben bei Gott zu trennen. Auch seiner Herrschaft hat uns Christus in unserer heiligen Taufe entrissen, hat uns zu Menschen gemacht, für die der Teufel zwar keine Witzfigur ist, die aber dennoch von Herzen über ihn lachen dürfen, weil er denen, die zu Christus gehören, nichts mehr anhaben kann.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit – ja, zur Freiheit von der Macht der Sünde, des Todes und des Teufels. Diese Freiheit besteht, ganz gleich, wie groß die Spielräume auch sein mögen, die uns in unserem alltäglichen Leben geschenkt werden. Frei sind wir, auch wenn wir in unserem Leben von so vielem eingeengt werden; frei ist ein Christ selbst, wenn er vom Staat um seines Glaubens willen ins Gefängnis gesteckt wird.

Und unfrei sind und bleiben wir, wenn wir meinen, unser Leben ohne Christus führen zu können. Unfrei sind und bleiben wir, weil wir uns dann immer wieder von so vielem anderen beherrschen lassen – von dem, was andere denken, von Suchtmitteln der verschiedensten Art, von anderen Menschen, von unserem eigenen Ich, ja, letztlich eben immer wieder von der Sünde, vom Tod und vom Teufel.

Aber, so macht es uns der heilige Paulus in unserer heutigen Predigtlesung deutlich: Nun stehen wir als befreite Menschen vor einer ganz großen Herausforderung: nämlich diese Freiheit auch zu leben, diese Freiheit zu bewahren und uns nicht wieder neu in Unfreiheit und Abhängigkeit zu begeben. Genau darum ging es ihm in seinem Brief an die Christen in Galatien: Denen hatte er Christus als Befreier von Sünde, Tod und Teufel verkündigt, hatte ihnen gepredigt, dass Christus alles für sie getan hatte, um ihr Verhältnis zu Gott in Ordnung zu bringen, dass sie dazu nicht auch noch etwas beitragen mussten, sondern einfach in dieser Freiheit leben durften, die Christus ihnen eröffnet hatte. Doch dann kamen da andere Prediger in die Gemeinden, die den dortigen Christen verkündigten, der Paulus habe es sich viel zu einfach gemacht: Man könne nicht einfach dadurch in das rechte Verhältnis zu Gott kommen, dass man an Christus glaubt und sich taufen lässt. Nein, erst einmal müsste man sich dazu verpflichten, sich als männliches Wesen beschneiden zu lassen und damit die Bestimmungen des Alten Testaments einzuhalten. Das leuchtete den Christen in Galatien ein; denn bei der Freiheit, die Paulus ihnen zuvor verkündigt hatte, war ihnen geradezu schwindlig geworden. Wie gut, dass ihnen jetzt wieder so klar gesagt wurde, was sie alles tun müssten, um richtig vor Gott dazustehen!

Und dagegen ruft Paulus den Christen in Galatien nun zu: Zur Freiheit hat euch Christus befreit, lasst euch nicht wieder diese Freiheit des Lebens im Glauben an Christus nehmen, indem ihr euer Verhältnis zu Gott davon abhängig macht, dass ihr irgendwelche Gesetzesbestimmungen einhaltet! Haltet die Freiheit aus, in die Christus euch gestellt hat, lasst euch nicht einreden, ihr müsstet irgendetwas tun, um an der Freiheit des neuen Lebens bei Gott Anteil zu bekommen!

Schwestern und Brüder: Nun stehen wir heute nicht unbedingt in der Versuchung zu glauben, wir müssten uns beschneiden lassen, um richtige Christen sein zu können. Aber das kennen wir doch auch von uns, dass wir uns das gar nicht vorstellen können, dass wir durch Christus tatsächlich ganz frei sind, dass wir nicht doch noch etwas selber tun müssen, um in den Himmel kommen zu können. So einfach kann das doch gar nicht sein; irgendetwas muss ich doch selber auch dazu beitragen: Ich muss mich doch zumindest bemühen, anständig zu leben; ich muss mich doch zumindest bekehren, ich muss doch zumindest dieses oder jenes tun, um in Gottes Augen richtig dazustehen. Wo kämen wir denn da hin, wenn alles nur von Christus und nichts von uns abhinge? Wo kämen wir denn da hin, wenn allein Gottes Geist uns in unserem Leben leitet und uns gar nicht mehr gesagt wird, was wir als Christen alles tun dürfen und was nicht? Wo kämen wir denn da hin, wenn wir anderen nicht mehr vorschreiben könnten, wie sie als Christen zu leben haben, wenn die womöglich ganz anders leben als wir? So einfach kann das mit dem Glauben doch gar nicht sein, dass er sich in unserem Alltag einfach nur in der Liebe auswirkt!

Doch, so einfach ist das in der Tat; so frei bist du tatsächlich, dass du darauf vertrauen darfst, dass Gottes Geist dir in deinem Leben den Weg weist, dass du nicht für jede Lebenssituation eine Vorschrift von Gott brauchst. Ja, genau dazu hat Christus dich befreit von der Sünde, vom Tod und vom Teufel, dass du wirklich ganz frei bist, frei von allem Zwang und Druck, Gott mit deinem Leben doch noch irgendwie beeindrucken zu müssen.

Ja, zur Freiheit hat uns Christus befreit. Ich ärgere mich immer wieder darüber, wenn unsere persischen Asylbewerber hier in Deutschland bei ihren Erstinterviews oder vor Gericht erklären sollen, warum sie sich nun gerade unserer lutherischen Kirche und nicht einer anderen Konfession angeschlossen haben. Da können sie tatsächlich oft gar nicht viel sagen, denn ich verkündige ihnen im Taufunterricht doch keine lutherische Sonderlehre, sondern die christliche Botschaft schlechthin, die Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen. Es mag wohl sein, dass diese Botschaft von der Freiheit, zu der uns Christus befreit, in unserer lutherischen Kirche am deutlichsten und klarsten verkündigt wird. Und doch ist und bleibt es die Lehre der Kirche aller Zeiten und kein Spleen eines hammerschwingenden Mönches, dass wir von Christus befreit sind, befreit davon, uns selber unser Heil verdienen zu müssen. Und darum ist auch der heutige Gedenktag der Reformation kein lutherischer Nationalfeiertag, sondern ein wahrhaft ökumenisches Fest, ein Fest, bei dem wir Gott danken wollen, dass er der ganzen Kirche die Botschaft von der Freiheit, zu der Christus uns befreit hat, anvertraut hat. Gott geb’s, dass immer wieder Menschen durch diese Botschaft von unserer Befreiung durch Christus zum Glauben finden und in unserer Gemeinde und Kirche erfahren, wie man diese Freiheit leben kann. Genau dazu sind wir da – als lutherische Kirche. Amen.