17.04.2011 | St. Markus 14,3-9 | Palmarum

„Die Kirche ist eine gute Einrichtung. Sie holt die Jugendlichen von der Straße und bringt ihnen Anstand und Benehmen bei!“ „Ja, ich unterstütze die Kirche auch; sie kümmert sich um die Armen und Benachteiligten in der Gesellschaft!“ „Aber vergessen wir dabei eins nicht: Auch die Kirche ist ein Wirtschaftsunternehmen; sie muss sich schon daran messen lassen, ob sie ihre Zielvorgaben erfüllt, ob sie ihre Ressourcen auch wirklich effektiv einsetzt, ob sie tatsächlich auch erfolgreich arbeitet!“
 
Schwestern und Brüder, Erwartungshaltungen habe ich gerade vorgetragen, die immer wieder an die Kirche gerichtet werden, von innen und von außen, Erwartungshaltungen, die verständlich und nachvollziehbar erscheinen: Ja, die Kirche muss doch einfach bestimmten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorgaben gerecht werden; sonst verliert sie ihre Existenzberechtigung!
 
In der Predigtlesung dieses heutigen Sonntags geht es auch um die Kirche. Sehr unscheinbar tritt die Kirche hier in dieser Erzählung, die wir eben gehört haben, auf, tritt auf in der Gestalt einer Frau, von der wir noch nicht einmal ihren Namen erfahren. Verärgerung und Kopfschütteln ruft sie, die Kirche, mit dem hervor, was sie da tut, macht deutlich, dass sie in Wirklichkeit eben gerade nicht dazu da ist, Erwartungshaltungen anderer zu befriedigen. Dreierlei kennzeichnet das Handeln jener Frau, die uns St. Markus hier vor Augen stellt, dreierlei sind auch die fundamentalen Lebensäußerungen der Kirche, die man prägnant auch mit drei griechischen Begriffen zusammenfassen kann und tatsächlich auch immer wieder zusammengefasst hat, mit drei griechischen Begriffen, die man kaum ins Deutsche zu übersetzen braucht:  Es geht in der Kirche
um Leiturgia
um Diakonia
um Martyria

I.
Eine ungewöhnliche Szene schildert uns St. Markus hier zu Beginn der Passionsgeschichte: Während im Hohen Rat schon kräftig darüber beraten wird, wie man Jesus ohne großes Aufsehen in Jerusalem dingfest machen und umbringen könnte, befindet sich dieser draußen vor den Toren der Stadt in einem Nachbardorf am Ölberg namens Betanien. Dort ist er einer Einladung zum Essen gefolgt und sitzt also dort, oder besser müsste man natürlich sagen: liegt also dort nun zu Tisch. Eine reine Männergesellschaft war das selbstverständlich; Frauen hatten in der Küche alles vorzubereiten; aber dann hatten sie sich auch aus dem Raum, in dem die Männer speisten, zurückzuziehen. Doch mit einem Mal steht da nun doch eine Frau mitten im Raum; wer sie ist und wo sie herkommt, wird nicht gesagt. Ach, was sage ich: Die Frau steht da nicht einfach im Raum herum und schaut sich Jesus an, sondern sie schreitet gleich zur Tat: Ein Alabastergefäß hat sie in der Hand, das zerbricht sie und gießt den Inhalt Jesus über sein Haupt. Dass wir uns hier nicht missverstehen: Das war kein hinterhältiger Anschlag auf Jesus, so wie ein Bundespräsident mitunter damit rechnen muss, mit Eiern beworfen zu werden. Im Gegenteil: Eine Salbung mit Öl galt als Ausdruck höchster Ehrerbietung, war auch für den Betroffenen ausgesprochen angenehm in einer Zeit, in der es in den Häusern in aller Regel noch keine Dusche geschweige denn irgendwelche Wellnessangebote gab. Und in diesem Fall war es noch nicht einmal irgendwelches Duftöl aus dem Drogeriemarkt, sondern das allerfeinste und allerbeste Öl, das es überhaupt gab: Unverdünntes, kostbares Nardenöl aus Indien, das ein Vermögen wert war. Von dem Geld, das man mit dem Verkauf dieses Fläschchens erlöst hätte, hätte ein Tagelöhner seine Familie anderthalb Jahre lang ernähren können; das waren umgerechnet in heutige Verhältnisse an die 50.000 Euro, die dieses Fläschchen wert war.

Die, die mit Jesus zu Tisch liegen, schütteln über das, was die Frau hier macht, nur den Kopf, ja sind geradezu entsetzt: Entsetzt sind sie nicht bloß darüber, dass eine Frau da in ihre Männergesellschaft platzt, sondern entsetzt sind sie darüber, dass die Frau hier solch eine Verschwendung betreibt, so unverantwortlich mit ihren Ressourcen umgeht, etwas veranstaltet, was letztlich doch völlig sinnlos und zwecklos war.
 
Leiturgia, Liturgie, ist das, was diese Frau hier macht. Sie stellt sich ja nicht einfach mitten in den Raum und schüttet das Nardenöl auf den Boden, sondern sie gießt es Jesus über sein Haupt, bringt ihm gegenüber ihre Verehrung, ihre Liebe zum Ausdruck. Sinn macht diese ganze Szene nur, weil Jesus da ist, sein Leib, der nun bald in den Tod dahingegeben wird. Ja, was die Frau macht, ist nicht unbedingt vernünftig, ist letztlich zwecklos, bringt doch scheinbar nichts. Doch genau so ist Liturgie, genau so verhält es sich auch mit dem Gottesdienst der Kirche, auch mit unserem Gottesdienst: Unser Gottesdienst ist keine Schulveranstaltung, in der die Anwesenden etwas beigebracht bekommen und am Ende nach dem Segen ein Lernziel erreicht haben sollen. Und unser Gottesdienst ist auch keine Kaderschmiede, in der die Anwesenden motiviert und angetrieben werden sollen, etwas für die Organisation, zu der sie gehören, zu tun. Sondern unser Gottesdienst ist und bleibt völlig zwecklos. Wir kommen hierher nur aus einem Grund: Weil Christus, der Gesalbte, der Herr, hier selber anwesend ist. Und daraus ergibt sich dann alles Weitere: Wir loben ihn mit unseren Liedern – nein, nicht weil er es nötig hätte, darüber informiert zu werden, wie wunderbar er doch ist; das wusste er schon vorher. Und wir loben ihn auch nicht deshalb mit unseren Liedern, weil uns das Singen ein gutes Gefühl vermittelt. Sondern wir verschwenden hier unsere Zeit für das Singen, einfach weil er da ist, weil es dann tatsächlich auch nicht auf eine einzelne Liedstrophe ankommt, genau wie die Frau hier in unserer Erzählung eben auch nicht bloß vorsichtig ein paar Tropfen des Öls Jesus auf das Haupt geträufelt hat, sondern tatsächlich den ganzen Inhalt des Gefäßes über ihn ausgeschüttet hat. Wir stellen Blumen auf den Altar, wir zünden Kerzen an, wir verwenden kostbare Gefäße beim Heiligen Abendmahl, begnügen uns nicht mit IKEA-Geschirr – einzig und allein deshalb, weil er selber leibhaftig gegenwärtig ist, dem unsere Liturgie, dem unsere Anbetung gilt. Ja, was hier im Gottesdienst geschieht, entzieht sich allen Zeitmanagementkriterien, allen Wirtschaftlichkeitsberechnungen, lässt sich gerade nicht rationalisieren oder vernünftiger gestalten. Hier im Gottesdienst haben wir einen Freiraum, in dem wir aufatmen dürfen, einen Freiraum, der nicht bestimmt ist von den Gesetzen dieser Welt, nicht bestimmt auch von dem Druck, den diese Gesetze auf uns ausüben. Hier zählt nur eins: Die liebende Hingabe an ihn, den Herrn, der sich für uns doch noch einmal ganz anders hingegeben hat, ja, sein Leben für uns in den Tod gegeben hat. Und diese Hingabe darf dann durchaus auch scheinbar ganz unvernünftige Ge-stalt annehmen.

II.
Die anderen Gäste, die mitbekommen, was diese Frau hier in der Geschichte tut, reagieren auf die Salbung, die Jesus hier zuteil wird, genauso, wie dies in Diskussionen heutzutage auch immer wieder geschieht: Sie versuchen, Leiturgia und Diakonia, Gottesdienst und Diakonie gegeneinander auszuspielen: „Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben!“ Statt feierliche Gottesdienste zu halten, sollte die Kirche lieber Sozialarbeit leisten, sich für die Ärmsten in unserem Land und in unserer Welt einsetzen! Das wäre nicht nur vernünftiger, das wäre doch gewiss auch Gott wohlgefälliger, der doch gerade auf der Seite der Armen steht!

Doch Jesus lässt sich genau auf dieses Spiel nicht ein: Auf der einen Seite stellt er durchaus fest, dass es Aufgabe seiner Jünger ist, sich um die Armen zu kümmern, ihnen Gutes zu tun. Dabei sollen sie sich dann allerdings auch ganz persönlich angesprochen fühlen, keine allgemeinen Reden über die Fernstenliebe schwingen und über ungerechte Strukturen schwadronieren, sondern ganz konkret dort helfen und auch ganz konkret dort abgeben, wo sie an ihrem Platz gefordert sind. Und das gilt auch für uns als Kirche heute und auch als christliche Gemeinde hier vor Ort: Die Diakonia, der Dienst am Nächsten in seiner vielfältigen Not, gehört in der Tat mit zu den Kernaufgaben der christlichen Kirche, der christlichen Gemeinde. Jesus geht nicht davon aus, dass sich diese Welt schrittweise in eine klassenlose Gesellschaft verwandeln wird, in der es einmal gar keine Armut mehr geben wird. Nein, Arme habt ihr allezeit bei euch, so stellt es Jesus ganz nüchtern fest und lenkt unseren Blick auf sie, lässt uns auch hier in unserer Gemeinde danach fragen, wo und wie wir ihnen denn nun Gutes tun können. Dazu gehört gewiss, dass wir immer wieder Kollekten einsammeln für Menschen, die sich in akuter Not befinden, dazu gehört gewiss auch, dass wir es mit unseren Spenden und Kirchenbeiträgen ermöglichen, dass kein Kind oder Jugendlicher von irgendeiner Veranstaltung in unserer Gemeinde ausgeschlossen wird, nur weil die Eltern dafür die Kosten nicht aufbringen können. Dazu gehören Besuchsdienste in unserer Gemeinde bei Menschen, die sonst vielleicht tatsächlich niemand haben, der sich um sie kümmert. Ach, Schwestern und Brüder, wir können da sicher auch noch viel mehr Fantasie entwickeln, um dem Wort Jesu nachzukommen.

Doch eines sollen wir eben nicht tun: Wir sollen keinesfalls meinen, mit diesem Engagement sei nun der Gottesdienst überflüssig, könne höchstens noch dazu nütze sein, Menschen zu vermehrtem Engagement anzufeuern. Nein, soziales Engagement hat immer seine Zeit. Doch auch der Gottesdienst hat eben immer wieder seine Zeit – und im Gottesdienst üben wir immer wieder ein, was dann auch für unser diakonisches Wirken als Kirche entscheidend wichtig ist und es von bloßer Sozialarbeit unterscheidet: Im Gottesdienst, in der Liturgie, geht es immer wieder um zweckfreie Hingabe an Christus, unseren Herrn, die nichts erreichen will, sondern auch einfach nur für ihn, den Herrn, da sein will. Und genau das wirkt sich dann auch aus in der Diakonie: Wir sollen und dürfen jeden Dienst der Nächstenliebe immer auch als Dienst an Christus selber wahrnehmen: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan, sagt Christus selber. Und wie sich der Gottesdienst nicht angemessen mit Stoppuhr und Finanzstatistikbogen wahrnehmen lässt, so steckt auch in christlicher Diakonie immer auch etwas Unvernünftiges, begnügt sie sich eben nicht mit dem Vorgeschriebenen oder unbedingt Nötigen, sondern lässt dem, der Hilfe braucht, etwas von dieser Hingabe zuteil werden, die unser Leben als Christen insgesamt bestimmt. Ich denke beispielsweise an die Gemeindeglieder, die als Pflegekräfte hier in unserer Stadt arbeiten und die immer wieder genau diese Hingabe, diese Liebe zu den Menschen, die ihnen anvertraut sind, zeigen, eine Hingabe und Liebe, die über einen Dienst nach Vorschrift weit hinausgeht. Und das ließe sich jetzt noch in vielfacher Hinsicht fortsetzen. Nein, Liturgie und Diakonie sind kein Gegensatz, sie gehören zusammen, so zeigt es Jesus selber, indem er sich selber einen diakonischen Dienst von jener unbekannten Frau gefallen lässt. Liturgie und Diakonie – sie sind im Handeln jener Frau eins.

III.
Und da ist schließlich noch die Martyria, das Zeugnis, das die Kirche immer wieder gegenüber der Welt ablegt und das ebenfalls zu ihren Grundfunktionen gehört.
Verkündigung ist das, was diese unbekannte Frau da mit ihrer Salbung tut. Ohne auch nur ein Wort zu reden, weist sie darauf hin, wer dieser Jesus ist: Der Gesalbte, der Christus, der König Israels. Ja, mit vollem Einsatz, mit allem, was sie hat, weist sie darauf hin, wird damit zu einer Christuszeugin. Und dabei reicht ihr Zeugnis sogar noch viel weiter, als sie es selber in diesem Augenblick geahnt haben dürfte: Sie verkündigt mit ihrer Salbung schon im Voraus den Tod des Herrn zu unserem Heil, salbt seinen Leib schon zum Begräbnis. Und indem sie dies tut, wird sie als Zeugin mit aufgenommen in das Evangelium, das nun schon bald nach der Auferstehung des Herrn in aller Welt verkündigt werden wird. Ja, Jesus hat auch hier Recht behalten: Noch knapp 2000 Jahre nach dieser Salbung wird ihrer, der Namenlosen, gedacht, wo immer dies Evangelium verkündigt wird, auch heute in diesem Gottesdienst. Die Martyria, das Zeugnis dieser Frau, reicht weiter.

Martyria, Zeugnis – auch diese Grundfunktion der christlichen Kirche hat immer etwas mit Hingabe zu tun: Ich kann von Jesus Christus, meinem Herrn, eben nicht so distanziert sprechen wie über den Wahrheitsgehalt einer binomischen Formel. Ich kann von ihm nur so sprechen, dass darin zugleich deutlich wird: Das, was ich jetzt sage, ist auch für mich, für mein eigenes Leben, entscheidend wichtig, dafür bin ich bereit einzustehen.

Solche Martyria, die zur Hingabe bereit ist, bis hin zur Hingabe des eigenen Lebens, scheint wieder völlig unvernünftig, ja widersinnig zu sein. Und doch ist eben durch solche Martyria die Kirche im Laufe der Jahrhunderte immer weiter gewachsen. Ich erinnere mich an den Vortrag des koptischen Bischofs Anba Damian vor einigen Wochen: Er berichtete, dass die Kalenderzählung der koptischen Kirche ausgerechnet mit dem Tag beginnt, an dem der römische Kaiser Diokletian die furchtbarste aller Christenverfolgungen in der alten Kirche anordnete, der vermutlich Hunderttausende von Christen zum Opfer fielen, nicht zuletzt auch in Ägypten: Ja, damit beginnt der koptische Kalender, weil die koptische Kirche von ihrem Selbstverständnis her in ihrer Geschichte immer eine Märtyrerkirche gewesen ist, die immer wieder neu die Wahrheit jenes Satzes erfahren hat, dass das Blut der Märtyrer der Same der Kirche ist.

Unser Blut wird zurzeit hier in Deutschland nicht von uns gefordert, wenn wir Zeugnis von Christus ablegen. Aber es ist ermutigend und tröstlich zu wissen, dass wir in der Kirche umgeben sind von einer Wolke von Zeugen, von Christen, die vor uns gelebt haben und für ihren Glauben eingestanden haben, oft genug bis in den Tod. Die zeigen uns, dass wir mit unserem Glauben nicht allein dastehen, die machen uns Mut, uns fröhlich zu Christus, unserem Herrn zu bekennen. Denn auf ihn weisen sie alle hin, die Heiligen und Vollendeten vor dem Thron Gottes, die Bekenner und Märtyrer: Alle weisen sie hin auf ihn, Christus, auf seine Lebenshingabe, die allein uns rettet und uns ewiges Leben schenkt. Auf seine Lebenshingabe wies schon die Salbung jener Frau, und auf eben diese Lebenshingabe sollen auch wir gerade jetzt in diesen kommenden Tagen immer wieder blicken: Ihm, Christus, soll unsere Liturgie, unser Dienst und unser Zeugnis gelten – wie gut, dass uns eben dies jene unbekannte Frau hier in unserer Geschichte so deutlich vor Augen stellt! Amen.