08.05.2011 | Hesekiel 34,1-2.10-16.31 | Misericordias Domini

Es war eine geradezu gespenstische Szene: Da hatten sich in Ägypten Millionen von Menschen vor dem Fernseher versammelt, um einer Rede ihres Präsidenten Hosni Mubarak zuzuhören, in der dieser, so hofften sie, nun endlich seinen lang erwarteten und ersehnten Rücktritt bekanntgeben würde. Doch stattdessen präsentierte sich der Präsident in seiner Rede einmal mehr als der gute Hirte seines Volkes, der doch alles für sein Volk täte, um für es zu sorgen und es auf einen guten Weg zu bringen. Rührend klang das, wenn man nicht zugleich genau gewusst hätte, dass dieser Präsident über Jahrzehnte hinweg sein Volk mithilfe der Geheimdienste unterdrückt, ja ihm gemeinsam mit seiner Familie fast 100 Milliarden Dollar geraubt hätte. Und so glaubten die Menschen ihrem Präsidenten seine Rolle als guter Hirte längst nicht mehr, hielten ihm ihre Schuhe entgegen und erreichten schließlich, dass der angebliche gute Hirte kurz darauf endlich in seiner Luxusresidenz in Sharm-el-Sheich verschwand. Doch wie die Geschichte nun weitergeht, ist immer noch nicht klar: Die Menschen in Ägypten wollten von Hosni Mubarak nicht länger als dumme Schafe behandelt werden. Doch nach der ersten Euphorie werden sie feststellen oder stellen es schon längst fest, dass sie sich natürlich nicht einfach nur selber leiten und regieren können, dass es da wieder Leute geben wird, die sie führen werden, und dass sie, die Regierten, ganz tüchtig werden aufpassen müssen, dass sie nicht vom Regen in die Traufe kommen, dass nicht möglicherweise sogar neue Führer auftreten, die sich für ihre Entscheidungen die Autorität Gottes und der Religion beimessen und sich damit wiederum aller Kritik entziehen.

Ja, hochaktuell ist das, was wir eben in der alttestamentlichen Lesung dieses heutigen Hirtensonntags, des Sonntags Misericordias Domini, vernommen haben. Da hatten die Menschen im kleinen Staat Juda Ähnliches erfahren wie die Menschen in Ägypten oder Tunesien in den vergangenen Jahren: Von unfähigen, korrupten Herrschern waren sie regiert worden, die nur auf ihr eigenes Wohl aus waren, sich nicht um die Nöte des Volkes kümmerten und sich dabei doch als Hirten ihres Volkes feiern ließen. Doch damals endete die Geschichte nicht mit einer friedlichen Revolution, nicht mit der Einführung demokratischer Strukturen in Juda, sondern mit Gottes Strafgericht, mit der Eroberung und Zerstörung der Stadt Jerusalem und dem Ende des Königshauses. Als Hesekiel damals in Babylon wirkte, da war dieses Gericht gerade in vollem Gange: Eine erste Gruppe von Israeliten war bereits nach Babylon verschleppt worden; das Königshaus versucht irgendwie noch seine Existenz zu retten; doch sein Ende war abzusehen – erst recht in den Augen Gottes, der Hesekiel hier diese Worte verkündigen lässt. Hirten, die versagt haben, verfallen Gottes Gericht – aber was kommt dann? Genau darum ging es damals bei Hesekiel, genau darum geht es bis heute: Ja, kritisch sind wir heute aufgrund der Geschichte geworden, wollen selber über unsere Geschicke entscheiden, wollen nicht als dumme Schafe irgendwelchen Hirten ausgeliefert sein. Und doch merken wir, dass es so einfach auch wieder nicht ist, dass wir unweigerlich doch wieder irgendwelchen Hirten folgen und uns von ihnen führen lassen. Und so stellt Hesekiel heute Morgen auch dir diese Frage: Welchem Hirten willst du folgen, ja, wer soll eigentlich dein Hirte sein?

Hirten im ganz ursprünglichen Sinne dieses Wortes, also Leute, die auf eine Schafherde aufpassen und sich um sie kümmern, begegnen uns heutzutage in unserem Alltag nur noch selten. Vielleicht sehen wir sie hier und da noch irgendwo im Urlaub, empfinden den Anblick als idyllisch, machen uns wohl kaum klar, was für einen Einsatz ein Hirte für seine Herde in Wirklichkeit zu leisten hat, ja, wie sehr der Hirte letztlich sein Geschick an das der Herde bindet. Auch im übertragenen Sinne sind Hirten heutzutage in unserer Gesellschaft nicht unbedingt gleich zu erkennen. Wir wollen, wie gesagt, ja nicht wie Schafe behandelt werden. Und doch sind sie natürlich auch bei uns am Werk, die heimlichen Hirten, die, nicht anders als die Hirten, mit denen Gott hier in unserer Predigtlesung ins Gericht geht, letztlich nicht auf unseren, sondern nur auf ihren eigenen Vorteil aus sind und von daher alles dafür tun, dass wir ihnen folgen. Und darum ist die Frage, die Hesekiel an uns richtet, in der Tat ganz aktuell: Welchem Hirten willst du folgen, ja, wer soll eigentlich dein Hirte sein?

Fangen wir gar nicht gleich bei den Politikern an. Es stehen auch genügend andere Hirten zur Auswahl. Beginnen wir mit einem ganz primitiven Beispiel: Da gibt es auch in unserem Land viele Menschen, die sich in ihren Entscheidungen, in ihrer Lebensausrichtung allen Ernstes von Leuten beeinflussen lassen, die behaupten, irgendwelche Sternbilder hätten eine Bedeutung für unser menschliches Leben. Horoskope entwerfen diese Leute, und, es ist nicht zu fassen, ja, es gibt in der Tat viele Menschen, die diese Horoskope lesen und sie ernst nehmen, die sich selber mit einem bestimmten Sternzeichen identifizieren und glauben, dieses Sternzeichen würde in irgendeiner Weise auf sie einwirken. Oder da gibt es so viele Hirten in unserer Umgebung, die jeden Tag nur unser Bestes wollen, nämlich unser Geld, die uns einreden, dieses oder jenes müssten wir unbedingt besitzen, müssten wir unbedingt bei ihnen kaufen. Wie schwer es ist, diesen Hirten zu entkommen, sich nicht von ihnen beeinflussen zu lassen, das wissen gerade viele Jugendlichen ganz genau, folgen den Rufen dieser Hirten mitunter blind: Wenn alle anderen diesen Hirten folgen und machen, was sie wollen, dann muss ich das doch auch tun! Da gibt es viele Hirten in unserer Umgebung, die es sich zur Aufgabe gesetzt haben, unsere Meinung in einer bestimmten Weise zu beeinflussen und zu prägen, uns klarzumachen, dass wir nur Bestimmtes denken und anderes eben nicht mehr denken dürfen. Ja, diese Hirten argumentieren mit Umfragen und Mehrheitsmeinungen, spielen auf der Klaviatur der Medien und versuchen als Lobbygruppen, schließlich auch direkten Einfluss auf die Entscheidungen der Politik auszuüben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Da konnte man in den letzten Wochen und Monaten beobachten, wie in Koalitionsverträgen ausdrücklich als Ziel formuliert wurde, Kindern bereits ab der ersten Klasse in der Schule die Ideologie des Gender Mainstreaming beizubringen, sie dahin zu prägen, dass ihnen klar wird, dass es nicht einfach normal ist, wenn ein Mann und eine Frau eine Ehe eingehen und heiraten, sondern dass das Geschlecht eines Menschen nur eine Rolle ist, die er auch beliebig wechseln kann. Da spielt sich dann auch der Staat selber als großer Hirte auf, maßt sich zur Erreichung eines angeblich edlen Ziels das Recht zur Gehirnwäsche der Kinder an, lässt der Herde keine Chance, seiner Form der Hirtenfürsorge zu entkommen.

Welchem Hirten willst du folgen, ja, wer soll eigentlich dein Hirte sein? Wir merken, wie hochaktuell diese Frage ist, wie wir eigentlich jeden Tag mit ihr konfrontiert werden.
Sind Politiker unsere Hirten, und wenn ja, welchem Hirten sollen wir da folgen? Hesekiel macht es uns hier schon sehr deutlich: Mit der Hirtenrolle sind Politiker grundsätzlich überfordert; an dieser Aufgabe müssen sie scheitern. Gewiss, es bleibt nötig, dass Menschen in einem Gemeinwesen Verantwortung für andere übernehmen, ja, auch regieren und führen. Doch immer sollen sie dabei um die Grenzen ihrer Möglichkeiten wissen. Immer sollen sie darum wissen, dass sie ihre Autorität nicht einfach nur einer Mehrheit verdanken, sondern in ihrem Handeln vor Gott verantwortlich sind. Und immer sollen sie darum wissen, worauf Gott in ihrem Dienst in besonderer Weise achtet: ob sie das Schwache stärken, das Kranke heilen, das Verwundete verbinden und das Verlorene suchen, statt es abzuschreiben. Und die, die diejenigen wählen, die sie dann regieren, sollen eben auch umgekehrt keine Hirtenerwartungen an die Regierenden richten, keine Hoffnung auf einen starken Mann oder eine starke Frau setzen, keine Hoffnung darauf, dass es die richtige Partei oder die richtige Politik gibt, die einfach nur durchgesetzt werden muss. Menschen stoßen mit ihren Möglichkeiten zu regieren immer wieder schnell an Grenzen, sind und bleiben allemal Sünder, die versagen, sich beeinflussen und verbiegen lassen wie jeder andere auch, müssen von daher entsprechend auch kontrolliert werden und Rechenschaft ablegen, um größeren Schaden zu vermeiden. Argumente, die sie vorbringen, sollen wir abwägen und ernst nehmen. Aber ihnen und ihrer Stimme einfach blind zu folgen, davor warnt uns Hesekiel hier eindrücklich.

Bleiben also noch die Pastoren als Hirten übrig, ja, sollen sie unsere Hirten sein, sollen wir ihnen folgen? Ach, wie leicht stehen eben auch Pastoren genau in dieser Gefahr, Erwartungshaltungen, die an sie gerichtet werden, einfach zu übernehmen und sich damit zu überfordern! Ihr, liebe Schwestern und Brüder, seid nicht meine Herde; ihr gehört nicht mir, und ich habe nicht das Recht dazu, euch an mich zu binden oder gar euch zu meinem Vorteil auszunutzen. Ja, ich weiß, was für ein Vertrauen Pastoren, auf Deutsch: Hirten, auch heute noch in unserem Land entgegengebracht wird. Dieses Vertrauen lässt sich spiegelbildlich ablesen in dem Entsetzen, das so viele Menschen erfasste, als sie in den vergangenen Jahren erfuhren, in was für einer furchtbaren Weise Hirten in der Kirche dieses Vertrauen, das ihnen entgegengebracht worden war, missbraucht hatten. Und da kann sich selbstverständlich auch kein Hirte damit herausreden, dass er erklärt, die Leute hätten ihnen eben nicht so blind vertrauen dürfen. Selbst da, wo die Erwartungen an den Pastor, an den Hirten, vielleicht völlig überzogen sind, muss der Pastor doch um seine besondere Verantwortung wissen, die er im Umgang mit Menschen, die ihm anvertraut sind, hat. Das kann einem als Hirten dann schon ganz schön an die Nieren gehen, und so haben es Hirten von daher immer wieder nötig, daran erinnert zu werden, wer denn der eigentliche Hirte ihrer Gemeinde ist.

Denn genau das ist die gute Botschaft, die Hesekiel auch uns heute verkündigt: Gott selber erklärt sich zum Hirtendienst an uns, an seinem Volk, an den Menschen, die er geschaffen hat und die zu ihm gehören, bereit. Diese Aufgabe hat Gott nicht einfach mit links nebenbei übernommen als ein zusätzliches Ehrenamt unter vielen. Sondern wir haben es eben im Heiligen Evangelium gehört, was diese Entscheidung, selber Hirte zu werden, Gott gekostet hat. Mensch geworden ist er dafür, ja mehr noch: sein Leben gelassen hat er für seine Schafe, für uns, hat alles aufgegeben, nur um uns nicht falschen Hirten und Wölfen zu überlassen. Ja, auch dein Hirte will er dadurch sein und bleiben, lädt dich ein, ihm allein zu folgen und keinem sonst. Du gehörst doch schon zu seiner Herde seit dem Tag deiner heiligen Taufe. Nein, Gott will dich in seiner Herde gerade nicht entmündigen, dich gerade nicht als dummes Schaf behandeln, sondern dich im Gegenteil kritikfähig machen, dass du die Stimme des guten Hirten von der Stimme anderer Hirten stets deutlich unterscheiden kannst. Wer auf die Stimme des guten Hirten hört, der weiß, dass sein Leben in der Hand dieses guten Hirten liegt und nicht bestimmt wird von irgendwelchen Sternen oder Sternzeichen. Wer auf die Stimme des guten Hirten hört, der lässt sich nicht mehr von den Rufen anderer Hirten beeinflussen, man müsse ihnen dieses oder jenes unbedingt abkaufen, weil man sonst nicht dazugehöre, kein richtiger Mensch sei. Wer auf die Stimme des guten Hirten hört, der wird kritisch werden gegenüber allen staatlichen Versuchen, uns von oben her mit dem richtigen Denken zu beglücken, der wird kritisch werden gegenüber allen Behauptungen, eine Partei oder eine politische Richtung habe die Wahrheit für sich gepachtet. Wer auf die Stimme des guten Hirten hört, der wird von Politikern nicht mehr erwarten, dass sie hier auf Erden das Heil und das Paradies schaffen, der wird froh sein, wenn Politiker ihre Verantwortung vor Gott ernst nehmen und diese für wichtiger ansehen als die Frage, womit sie bei den Menschen ankommen. Wer auf die Stimme des guten Hirten hört, der wird seine Zugehörigkeit zur Gemeinde, der wird sein Kommen zum Gottesdienst nicht mehr von einem bestimmten menschlichen Unterhirten abhängig machen, der wird sich umgekehrt auch nicht vom Versagen dieses Unterhirten abschrecken lassen, der doch immer nur unvollkommenes Werkzeug des einen guten Hirten ist und bleibt.

Gott selbst übernimmt die Aufgabe des Hirten. In doppelter Weise macht er dies in unserer Welt: Ja, er gebraucht Menschen, gebraucht Politiker als seine Werkzeuge, will ihnen das Gewissen schärfen, damit sie ihre Aufgabe immer klar erkennen: das Schwache zu stärken, das Kranke zu heilen, das Verwundete zu verbinden, das Verlorene nicht aufzugeben und das Starke nicht zu behindern, sondern zu fördern. Dankbar dürfen wir sein, wo dies in unserem Land geschieht, dürfen und sollen Gott dafür danken, dass er auch durch mitunter sehr merkwürdige Werkzeuge doch seinen Hirtendienst in dieser Welt an uns vollzieht. Aber Gott nutzt eben nicht bloß Menschen in politischer Verantwortung für seinen Hirtendienst. Die können letztlich nicht viel mehr erreichen, als in dieser Welt das Schlimmste zu verhindern. Sondern Gott stärkt noch in ganz anderer Weise das Schwache, heilt das Kranke, verbindet das Verwundete, gibt das Verlorene nicht auf und fördert das Starke. In seiner Kirche ist er als Hirte tätig, vollzieht seinen Hirtendienst durch das Evangelium. Ja, auch dafür braucht er wieder Menschen, braucht er die, die er als Unterhirten in seinen Hirtendienst berufen hat, in besonderer Weise und braucht doch auch einen jeden von euch, um Menschen den liebenden Hirtendienst ihres Herrn Jesus Christus erfahren zu lassen.

Einen besseren Hirten können wir doch gar nicht haben als den, bei dem wir nicht zeigen müssen, wie gut und stark und leistungsfähig wir sind, sondern bei dem wir schwach sein dürfen, weil er uns in seinen Händen hält und trägt. Einen besseren Hirten können wir doch gar nicht haben als den, der uns immer wieder seine heilende Medizin reicht: seine Vergebung für unser Versagen, seinen Leib und sein Blut als Heilmittel gegen den ewigen Tod. Einen besseren Hirten können wir doch gar nicht haben als den, der keinen von uns aufgibt, immer und immer wieder hinter uns her ist, damit wir ja nicht verloren gehen.

Genau als solch einen guten Hirten haben Sie, liebe Frau Bolinger, und Sie, lieber Herr Bolinger, ihren Herrn und Heiland Jesus Christus in den vergangenen fünfzig Jahren Ihrer Ehe immer wieder erfahren dürfen. Sie haben miterlebt, wie sich Ihr Herr Jesus Christus auch als Herr der Geschichte erwiesen hat, den politischen Hirten ein Ende bereitet hat, die die Menschen von ihm, Gott, fernhalten wollten und unsägliches Leid über so viele Menschen gebracht hatten. Und Sie haben erlebt, wie er auch Sie getragen hat, wo Sie schwach waren, wie er Schmerzen gelindert, Wunden versorgt hat, Sie niemals hat fallen lassen. Diesem Hirten wollen Sie heute in diesem Gottesdienst für fünfzig Jahre Hirtendienst in Ihrer Ehe danken. Und wir wollen gemeinsam mit Ihnen Christus für seinen Hirtendienst danken, den er nicht nur an Ihnen beiden, sondern an uns allen immer und immer wieder versieht. Welchem Hirten willst du folgen, ja wer soll eigentlich dein Hirte sein? Gott geb’s, dass uns die Antwort auf diese Frage in unserem Leben niemals schwer fällt, sondern wir sie immer ganz klar und eindeutig beantworten können: „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln.“ Amen.