10.07.2011 | St. Lukas 15,11-32 | 3. Sonntag nach Trinitatis

Das Gesicht des älteren Herrn im Zugabteil verfinsterte sich immer mehr: Ihm gegenüber saß ein junger Mann mit seinem Sohn, der ohne Unterbrechung immer wieder auf den Sitz krabbelte und von dort auf den Boden sprang, wieder nach oben krabbelte, wieder sprang, oft nur Millimeter am Schienbein des zunehmend genervten Herrn vorbei. Und der junge Vater – er sagte zu all dem kein Wort. Irgendwann sagte er dann doch wohl so etwas Ähnliches wie „Lass es jetzt mal bleiben!“ Doch daraufhin streckte der Filius dem Vater nur die Zunge entgegen und sprang weiter. „Wenn ich der Vater wäre“, so knurrte der ältere Herr vernehmlich, „dann würde diesem Knaben was blühen! Eine anständige Tracht Prügel hat noch keinem Kind geschadet!“

„Wenn ich der Vater wäre“ – so ähnlich dürften auch so manche Zuhörer damals gedacht haben, als Jesus ihnen eine geradezu unglaubliche Geschichte erzählte: die Geschichte von einem Vater, der sich von seinen Söhnen Dinge bieten lässt, die sich kein normaler Vater jemals hätte bieten lassen. „Wie kann man sich als Vater bloß selber so lächerlich machen“, so wird damals wohl mancher kopfschüttelnd festgestellt haben. „Das ist doch nur peinlich, wie sich der Vater hier in dieser Geschichte verhält!“

Schwestern und Brüder, die Geschichte vom Verlorenen Sohn, die ich euch eben nun noch einmal vorgelesen habe, ist wohl den meisten von uns mittlerweile so vertraut, dass wir gar nicht mehr merken, wie anstößig, wie provozierend das ist, was Jesus uns hier erzählt. Nein, anstößig ist gar nicht so sehr, was die beiden Söhne hier in dieser Geschichte machen – anstößig, nicht zu fassen ist vielmehr, was der Vater hier in dieser Geschichte macht. Und genau das wollen wir uns nun noch einmal etwas genauer anschauen:
Die Geschichte geht gleich mit einem dicken Hammer los: Da kommt der jüngere Sohn und sagt zum Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht! Das klingt im Lutherdeutsch ja ganz nett und zivilisiert. Doch in Wirklichkeit ist das eine Frechheit ohnegleichen: Ein Erbe wird ja erst ausgezahlt, wenn der Erblasser tot ist. Der Sohn behandelt den Vater hier also schon wie eine potentielle Leiche; was er dem Vater da an den Kopf wirft, würde in heutigem Deutsch etwa so klingen: „Ey Alter, du kratzt sowieso bald ab; rück schon mal die Kohle raus!“ „Wenn ich der Vater wäre …“ – ja, wie würden wir wohl in solch einer Situation reagieren? Ob wir nicht doch sehr viel eher geneigt wären, dem Sohn auf diese Aufforderung hin kräftig eine zu knallen, als dem Sohn diese Bitte zu erfüllen? Doch genau das macht der Vater: Er lässt es sich gefallen, vom Sohn schon einmal im Vorhinein für tot erklärt zu werden, zwingt den Sohn nicht, in seiner Nähe zu bleiben, sondern teilt tatsächlich schon längst vor seinem Tod das gesamte Erbe auf, nimmt sich selber damit gleichsam die Existenzgrundlage – denn, wohlgemerkt, auch der ältere Sohn erhält schon sein Erbteil, profitiert offenbar, ohne zu widersprechen, von dem rotzfrechen Vorstoß seines jüngeren Bruders. Kein normaler Vater würde so handeln, wie Jesus es hier in dieser Geschichte schildert. So handelt tatsächlich nur einer.

Der Fortgang der Geschichte ist uns bekannt: Der Sohn zieht weg, haut sein Geld schnell auf den Kopf, landet schließlich bei den Schweinen und ersinnt dort schließlich einen Plan, der ihm helfen soll, aus dem ganzen Schlamassel wieder herauszukommen, ohne allzu sehr das Gesicht zu verlieren: Als Tagelöhner will er sich bei seinem Vater bewerben, will so die Schulden, die er bei ihm hat, im Laufe der Zeit gleichsam abarbeiten, will von dem Leben in der Nähe des Vaters profitieren, ohne sich zu sehr von ihm vereinnahmen zu lassen – als Tagelöhner konnte er immer noch selber entscheiden, welche Arbeit er denn annahm und welche nicht.

Doch dann kommt der zweite große Hammer, den Jesus hier in dieser Geschichte schildert: Dass der Vater nach der langen Zeit immer noch auf seinen missratenen Sohn wartet, ist ungewöhnlich genug. Doch als er den Knaben dann schließlich zurückkommen sieht, wäre es für den Vater ja wohl nur recht und billig gewesen, zu warten, bis der bei ihm an der Haustür ankommt, und ihm dann entweder sofort ganz kräftig die Leviten zu lesen oder darauf zu warten, was der Sohn ihm als Wiedergutmachung für sein unmögliches Verhalten anbietet, oder zumindest zu testen, ob der Sohn denn auch wirklich aufrichtige Reue zeigt für das, was er ihm, dem Vater, da angetan hatte.

Doch nichts von alledem: Der Vater bleibt nicht in der Haustür stehen, sondern er läuft dem Sohn entgegen, jawohl, er läuft. Kein Mensch in gehobener Position lief damals, der schritt höchstens einher, vielleicht ein wenig beschleunigt. Doch wer in seinem langen Gewand lief, der machte sich in den Augen aller Zuschauer zum Gespött, der gab damit seine Würde preis, zeigte damit, dass er sich von seinen Gefühlen überwältigen ließ. Was für ein peinlicher Vater! Und dann wartet dieser Vater noch nicht einmal das Schuldbekenntnis des Sohnes ab, sondern fällt ihm gleich um den Hals, vergibt ihm eben damit alle seine Schuld, noch bevor der überhaupt ein Wort der Reue geäußert hat. Jegliche Möglichkeit zu angemessenen erzieherischen Maßnahmen nimmt er sich damit, macht es dem Sohn unmöglich, nun noch sein Angebot vorzubringen, seine Schulden beim Vater abzuarbeiten. Die Schuld als solche kann der Sohn noch bekennen; aber um Wiedergutmachung kann er sich nun gar nicht mehr bemühen, weil der Vater schon so weit vorgeprescht ist, dass alles schon wieder gut ist, bevor er auch nur einen Finger krumm gemacht hat. Statt Hiebe und Vorwürfe gibt es Kalbsbraten und Riesenfete. Pädagogisch ist das mehr als fraglich, was dieser Vater da tut, ja eigentlich unglaublich. Doch so ist er eben, dieser eine Vater.

Und dann kommt noch ein dritter Hammer: Da taucht schließlich am Ende der Geschichte der ältere Sohn auf. Seine Aufgabe wäre es eigentlich, dem Vater bei der Ausrichtung eines Festes zur Seite zu stehen – und selbstverständlich war er dazu verpflichtet, als Sohn die Entscheidungen seines Vaters zu respektieren und seinen Anweisungen zu folgen. Doch stattdessen verweigert der ältere Sohn dem Vater den Gehorsam, überschüttet ihn mit Vorwürfen und putzt ihn in aller Öffentlichkeit herunter. Ungehörig, ja unverschämt ist auch das Verhalten des älteren Sohnes gegenüber dem Vater; nur zu verständlich wäre es, wenn der Vater nun auch dem älteren Sohn eine kleben und ihn an seine Verpflichtungen ihm gegenüber erinnern würde. Doch der Vater reagiert ganz anders: Kein böses Wort kommt als Erwiderung über seine Lippen – sondern nur eine erneute Einladung: Alles ist dieser Vater bereit zu schlucken, wenn er nur beide Söhne um sich hat bei seinem großen Fest.

„Wenn ich der Vater wäre …“ – Ja, wir hätten uns vermutlich ganz anders verhalten als jener Vater, hätten uns das nicht bieten lassen, was dieser Vater sich in der Geschichte, die Jesus hier erzählt, bieten lässt. Doch genau dahin will Jesus uns führen, dass wir nicht bloß kopfschüttelnd dieses unglaubliche Verhalten dieses Vaters zur Kenntnis nehmen, sondern dass wir erkennen, dass das Verhalten dieses Vaters unser größtes Glück ist. Ja, ein Glück, dass sich dieser Vater so und nicht anders verhält – denn es ist unser Vater, von dem Jesus hier spricht; wir sind es, die sich diesem Vater gegenüber so verhalten, wie Jesus dies hier schildert. Nicht Dummheit, nicht Schwäche ist es, die den Vater zu diesem ungewöhnlichen Verhalten veranlasst – es ist einzig und allein seine Liebe zu seinen Kindern, sein unbändiger Wunsch, für immer mit ihnen gemeinsam sein großes Fest feiern zu können, also mit uns, mit dir und mit mir dieses große Fest feiern zu können.

Ja, genauso ist er, unser Vater im Himmel, wie Jesus uns ihn hier schildert: Er erduldet es allen Ernstes, dass Menschen, denen er das Leben geschenkt hat, ihn wie einen Toten behandeln, ihn vielleicht sogar ganz offen für tot, für nicht existent erklären. Er erduldet es, dass Menschen sich zwar gerne an dem bedienen, was er ihnen gegeben und anvertraut hat – Essen und Trinken, alles, was wir für unser tägliches Leben brauchen, und vieles Schöne darüber hinaus noch dazu –, ja, er erduldet es, dass Menschen sich daran zwar gerne bedienen, aber von ihm, dem Geber dieser guten Gaben, nichts wissen wollen, noch nicht einmal auf die Idee kommen, ihm beispielsweise vor dem Essen für das zu danken, was er, der Geber, ihnen gegeben hat. Gott erduldet diese Dreistigkeit, die wir Menschen ihm gegenüber immer wieder an den Tag legen – und haut nicht einfach drein, klatscht uns nicht eine, wie wir es eigentlich verdient hätten. Ja, mehr noch: Er erduldet es sogar, wenn wir uns ganz bewusst von ihm entfernen, seine Nähe als Einengung unserer Freiheit verstehen. Gott zwingt uns nicht, bei ihm zu bleiben, er lässt uns ziehen, wenn wir ohne ihn leben wollen, arbeitet nicht mit Tricks oder moralischem Druck, um uns doch irgendwie in seiner Nähe zu halten. Natürlich ist es ihm nicht egal, ob wir ihm den Rücken zuwenden oder nicht, natürlich tut es ihm unendlich weh, wenn wir glauben, wir könnten die Erfüllung unseres Lebens auch ohne ihn, ohne das Leben in seinem Haus, finden. Weh tut ihm das nicht deshalb, weil er sich irgendwie in seiner Eitelkeit gekränkt fühlte, sondern weil er weiß, was für einen Irrweg wir in unserem Leben einschlagen, wenn wir uns von ihm entfernen, wenn wir von ihm nichts mehr wissen wollen. Ja, Gott weiß, wie sehr wir uns damit selber schaden – und doch lässt er uns unseren Weg gehen, weil er nicht will, dass irgendetwas Anderes als Liebe uns dazu bewegt, seine Nähe zu suchen. 

Und dann schau ihn dir an, deinen Vater, wie er dir entgegenläuft, wenn du dich auf den Weg zu ihm zurück begibst, wenn du erkennst, was für ein Irrtum es war, seine Liebe für Schwäche, seine Nähe für Enge zu halten: Schau ihn dir an, wie seine Liebe zu dir ihn überwältigt, so sehr, dass er dir einfach nur um den Hals fällt und dir damit jede Möglichkeit nimmt, dein Versagen ihm gegenüber doch irgendwie noch wiedergutmachen zu wollen. Ja, schau ihn dir an, wie dein Vater sich für dich in aller Öffentlichkeit lächerlich macht, aus Liebe zu dir, schau ihn dir an, damit du weißt, was hier in diesem Haus in jeder Beichtandacht eigentlich geschieht:
Da sitzt Gott hier nicht irgendwo skeptisch in der Ecke und wartet darauf, dass du hier in der Beichte auch genügend deutliche Zeichen der Reue zeigst; er wartet nicht darauf, dass du ihm deinen guten Willen zeigst, und testet auch nicht, ob dein Sündenbekenntnis denn auch aufrichtig genug ist. Sondern jedes Mal, wenn du hier im Gottesdienst das Beichtgebet sprichst, dann sagst du diese Worte deinem Vater, der gerade voller Liebe und Freude dir entgegenstürmt und dich schon in den Arm nimmt, bevor du mit deinem Bekenntnis ganz fertig bist. Fühlbar lässt er es dich erfahren, wie er dir um den Hals fällt, wenn dir bei der Absolution die Hand aufgelegt wird. Ja, das macht er, um dies eine bei dir zu verhindern: Dass du allen Ernstes anfängst zu glauben, du müsstest ihm irgendeine Gegenleistung bieten, müsstest vielleicht doch etwas tun, um dich seiner Liebe würdig zu erweisen. Nein, Gott liebt dich doch schon längst vorher, weil du sein Kind bist, weil das seit dem Tag deiner Taufe unverbrüchlich feststeht, weil das seit heute nun auch für Friederika unverbrüchlich feststeht. Gott liebt dich und läuft dir hier in der Beichte immer wieder entgegen. Lass ihn doch nur ja nicht vergeblich laufen, weil du dich ihm entziehst, wenn er dich in die Arme schließen will, weil du meinst, auf diesen unfasslichen Liebesbeweis deines Vaters verzichten zu können, weil dir der Weg zu ihm zu unbequem erscheint! Was dir Jesus hier von deinem Vater berichtet, reicht doch wohl allemal aus, um selbst ein Herz aus Stein zum Erweichen zu bringen!

Und dann sieh dir schließlich auch noch an, wie der Vater hier mit dem motzenden, verbitterten, selbstgerechten älteren Sohn umgeht: Wieder erduldet der Vater es, angegriffen, beleidigt und brüskiert zu werden. Ja, das erduldet er alles, wenn denn nur der ältere Sohn ebenfalls den Weg in den Festsaal findet, wo das große Freudenmahl schon angefangen hat. Auf alle Strafmaßnahmen verzichtet er, nur um auch dem älteren Sohn keine Steine in den Weg zum großen Festmahl zu legen. Was für ein Vater, was für eine Liebe, was für ein Glück für uns! Dieser Vater ist wirklich einmalig, ganz anders, als wir es erwarten würden. Ja, denke daran, was für eine Freude immer wieder bei deinem Vater im Himmel herrscht, wenn er dich mit an seinem Tisch bei seinem großen Festmahl findet, wie er da gerne bereit ist, alles zu vergessen, was in der Vergangenheit deines Lebens gewesen ist. Hauptsache, du bist da. Dafür lohnt sich in den Augen deines Vaters jeder Einsatz, selbst der Tod seines einzigen Sohnes. Zu allem ist er bereit gewesen, nur damit du nicht draußen stehen bleiben musst. Komm, lass dich von ihm in die Arme schließen! Amen.