26.12.2011 | Offenbarung 7,9-17 | Tag des Erzmärtyrers St. Stephanus

Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen. Gewiss, wir haben hier in Deutschland das besondere Privileg, noch einen zweiten Feiertag zu Weihnachten begehen zu können, während in manchen anderen europäischen Ländern heute nun schon wieder gearbeitet wird. Und doch spüren auch wir es an diesem Morgen: Weihnachten geht seinem Ende entgegen. Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen. Was hat uns Weihnachten gebracht? Viele Einzelhändler sind jetzt schon mit Weihnachten sehr zufrieden, viele Kinder sicher auch, wenn sie bekommen haben, was sie sich gewünscht hatten. Andere blicken zufrieden auf Weihnachten zurück, weil alles so geklappt hat und harmonisch verlaufen ist, wie man sich dies für die Feiertage erhofft hatte. Andere hingegen sind vielleicht erleichtert, dass Weihnachten nun endlich vorbei ist, weil ihnen an Weihnachten besonders bewusst geworden ist, dass sich in ihrem Leben Dinge geändert haben, dass geliebte Menschen fehlen, dass manches nie mehr so sein wird, wie es einmal war.

Es ist Zeit, Bilanz ziehen. Was hat Weihnachten eigentlich gebracht? Genau darum geht es nun auch in der Predigtlesung dieses heutigen Festtags. Bei der Beantwortung dieser Frage weitet der Seher Johannes allerdings unseren Blick noch sehr viel weiter, als wir dies bei unserer Frage selber zunächst beabsichtigt haben mögen. Er blickt nicht bloß auf unsere privaten Familienfeiern, und er zieht zu Weihnachten erst recht nicht bloß eine Handelsbilanz, sondern er macht uns deutlich, was für ungeahnte Auswirkungen es nicht nur für uns persönlich, sondern für die ganze Welt gehabt hat, dass damals vor 2000 Jahren ein kleines Baby in einem Futtertrog in Bethlehem gelegen hat. Das brachte uns, so zeigt es uns St. Johannes hier,
- jede Menge Blut
- einen offenen Himmel

I.
Wenn wir Weihnachten feiern, dann möchten wir wenigstens für ein paar Stunden mal so richtig eine heile Welt haben, möchten endlich mal für eine kurze Zeit hinter uns lassen können, was uns sonst in unserem Leben und in der Welt bedrückt und belastet. Und dagegen ist auch gar nichts einzuwenden. Es soll und darf sehr wohl solche Fixpunkte in unserem Leben geben, wo alles mal anders ist als sonst. Da sollen wir auch als Kirche nicht als Spielverderber auftreten und denen, die Weihnachten feiern, nun mit aller Gewalt ihre schöne Stimmung verderben, und sei diese auch noch so kitschig. Doch irgendwann, wenn die schöne Feierei vorbei ist, müssen wir den Realitäten dann auch wieder ins Auge blicken. Und zu diesen Realitäten gehört auch, dass die Geburt des kleinen Jesuskindes in dieser Welt eben nicht bloß gerührte feuchte Augen, nicht bloß Friede und Freude hervorgerufen hat, sondern bis heute immer wieder ganz heftige Gegenreaktionen provoziert. Die, dieses Jesuskind als ihren Herrn und Gott erkennen und anbeten, müssen damit rechnen, dass sie deswegen unter Druck geraten, Gegenwind zu spüren bekommen, ja oft genug auch Verfolgung, ja den Tod erleiden müssen. Die Kirche hat dies von Anfang an gewusst, ist von Anfang der Kirchengeschichte an Märtyrerkirche gewesen, und so hat sie auch in ihrem liturgischen Kalender gleich auf den Tag nach Weihnachten den Tag des Erzmärtyrers St. Stephanus gelegt, erinnert gleich am Tag nach Weihnachten an den ersten Blutzeugen für das Kind in der Krippe, an den ersten, den Weihnachten das Leben gekostet hat.

Nein, es ist, wenn wir auf die Geschichte der Kirche und wenn wir auch heute in die weite Welt blicken, nicht der Normalzustand, dass wir ohne jede Einschränkung und Behinderung unsere Gottesdienste feiern können, dass sich unsere Leiden als Christen in vielen Fällen darauf beschränken, am Sonntagmorgen nicht ausschlafen zu können oder wahlweise auf die Teilnahme am Brunch oder am Nachmittagskaffee verzichten zu müssen. Der St. Stephanustag erinnert uns gerade heute, während wir noch denken, Weihnachten sei so etwas wie ein selbstverständliches Kulturgut, daran, dass es unzählig viele Christen gibt, die auch in diesem Jahr Weihnachten nur unter Lebensgefahr feiern konnten und können. Ich nenne nur ein paar Beispiele:
Da läuft es mir in diesen Tagen immer wieder kalt den Rücken herunter, wenn ich die Bilder aus Nordkorea sehe, wo gerade der „ewige Sohn der ewigen Sonne“ gestorben ist, wie Kim Jon Il in der offiziellen Staatsreligion, der sogenannten „Juche“-Philosophie, genannt wird. Da müssen nun Menschen vor den überlebensgroßen Statuen dieses verbrecherischen Diktators antreten und ihm ihre Ehrerbietung erweisen – wer nicht mitmacht, muss damit rechnen, im Arbeitslager zu landen und dort zu sterben. Ganz ähnlich war die Situation damals am Ende des ersten Jahrhunderts, als St. Johannes im Auftrag des auferstandenen Christus seine Trostschrift an sieben christliche Gemeinden in Kleinasien schrieb: Der Kaiser begann auch damit, überall im Lande Standbilder von sich aufzustellen, denen die Menschen huldigen mussten. Wer nicht mitmachte, musste mit Verhaftung und Hinrichtung rechnen. In der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang gab es vor hundert Jahren noch mehr als hundert christliche Kirchen; der christliche Glaube war im Norden Koreas weit verbreitet. Noch heute gibt es in Nordkorea schätzungsweise 400.000 Christen, doch die müssen sich im Untergrund treffen. Wer erwischt wird, dass er Christ ist, dass er eine Bibel besitzt, wird sofort, oft genug gleich zusammen mit seiner ganzen Familie, in Straflager deportiert, wo die Insassen wie Sklaven behandelt und durch Arbeit zu Tode geschunden werden. Schätzungsweise 70.000 Christen werden zurzeit in nordkoreanischen Arbeitslagern gefangen gehalten; die große Mehrzahl wird diese, wenn sich an dem politischen System nichts ändert, nicht mehr lebend verlassen. Kein Land der Erde betreibt die Verfolgung der Christen so aggressiv wie Nordkorea; da kommen selbst die verschiedenen islamischen Staaten nicht mit.

Kommen wir zu Platz zwei des Verfolgungsindex für verfolgte Christen, wie er jedes Jahr von der Organisation „Open Doors“ veröffentlicht wird: Auf diesem Platz befindet sich seit Jahren der Iran. Der Übertritt vom Islam zum Christentum wird dort mit der Todesstrafe bedroht; wer als früherer Muslim Christ wird, weiß, dass er damit Verhaftung, schwere Folter und den Tod riskiert. Dennoch breitet sich auch im Iran der christliche Glaube im Untergrund immer weiter aus, auch wenn die staatlichen Stellen mit großer Brutalität und nicht zuletzt auch mit einem Spitzelsystem gegen Hausgemeinden im Untergrund vorgehen. Während wir hier im Frieden heute unseren Gottesdienst feiern, sitzen im Iran unzählige Christen im Gefängnis und in Folterkammern, feiern ihr Weihnachten ganz ohne Weihnachtsbaum und „Stille Nacht“. Ja, auch das ist davon gekommen, dass Gott Mensch geworden ist, als Kind in einer Krippe gelegen hat.

Und so könnte ich euch jetzt noch Geschichten aus ganz vielen Ländern erzählen: aus Nigeria etwa, wo gerade jetzt zu Weihnachten viele Christen beim Gottesdienstbesuch durch Anschläge von Islamisten ermordet wurden. Oder ich könnte erzählen von China, wo sich einerseits das Christentum so schnell ausbreitet wie nirgends sonst auf der Welt und wo mittlerweile schon 80-100 Millionen Menschen Christen sein sollen, wo aber umgekehrt auch immer noch viele Christen, vor allem viele Leiter von staatlich nicht registrierten und überwachten Hausgemeinden, gefangen gehalten, gefoltert und nicht zuletzt auch in Umerziehungslager gebracht werden. Oder ich könnte erzählen von Ägypten, wo die koptischen Christen mit Sorge ihrem Weihnachtsfest entgegenblicken, weil sie wissen, dass in dieser Zeit auch in ihrem Land die Anschläge auf christliche Kirchen jedes Jahr zunehmen und sie nun nach dem Sturz von Präsident Mubarak noch weniger vor islamistischem Terror geschützt sind als zuvor. Schätzungsweise 100.000 koptische Christen sind in diesem Jahr nach der ägyptischen Revolution schon vor dem alltäglichen Terror aus dem Land geflohen, und nicht wenige haben ihr Christusbekenntnis auch in diesem Jahr in Ägypten schon mit ihrem Leben bezahlt. Und nicht zuletzt könnten auch die syrisch-orthodoxen Christen, die sonntags hier in dieser Kirche ihren Gottesdienst feiern, aus ihrer eigenen Geschichte so einiges davon erzählen, was es heißt, als Christ unterdrückt und verfolgt zu sein.

„Siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen. … Diese sind’s, die gekommen sind aus der großen Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider hell gemacht im Blut des Lammes.“ Wie aktuell ist dieses Bild, das der Seher Johannes hier schaut! Da stehen sie alle vor ihm, Christus, dem Lamm Gottes: die unzähligen Christen, die zur Zeit des römischen Reiches um ihres Glaubens willen den Märtyrertod starben, die unzähligen Christen, die in der Zeit des Kommunismus in der Sowjetunion ermordet wurden, die unzähligen Christen, die um ihres Glaubens willen in Nordkorea zu Tode geschunden wurden, die unzähligen Christen, die ihren Übertritt vom Islam zum Christentum mit ihrem Leben bezahlt haben. 100 Millionen verfolgte Christen gibt es schätzungsweise allein heutzutage weltweit – ihre Zahl hat im Verlauf der Geschichte nicht ab-, sondern immer weiter zugenommen. Ja, das ist bei Weihnachten herausgekommen, beim Kommen Gottes in die Welt: jede Menge Blut, vergossen durch die, die dieses Kommen Gottes nicht ertragen können, nicht wahrhaben wollen. Eben dies sollten wir bei unserer Weihnachtsbilanz niemals aus den Augen verlieren, sollten diejenigen in unserer Fürbitte nicht vergessen, denen es um ihres Glaubens willen jetzt zu Weihnachten so viel schlechter geht als uns.

II.
Und doch ist Weihnachten eben nicht der Anfang einer Geschichte des Scheiterns, so macht es uns St. Johannes hier zugleich und vor allem deutlich. Keine Macht der Welt war und ist dazu in der Lage, die Ausbreitung des Evangeliums zu stoppen, im Gegenteil: Je mehr Christen unterdrückt und verfolgt werden, desto schneller breitet sich das Evangelium aus; das Blut der Märtyrer ist und bleibt der Same der Kirche, während eine selbstzufriedene Wohlstandskirche auf die Dauer keine Zukunft hat. Vor allem aber ist keine Macht der Welt dazu in der Lage, Menschen, die zu Christus gehören, davon abzuhalten, dass sie doch das Ziel ihres Lebens erreichen, dass der Himmel ihnen am Ende offensteht.

Um den offenen Himmel geht es zu Weihnachten: Weil Gott Mensch geworden ist, ist der Himmel für uns nicht länger verschlossen, öffnet er sich für alle, die in dem Kind in der Krippe ihren Heiland und Retter erkennen. So erfuhren es schon die Hirten auf den Feldern bei Bethlehem, als sich ihnen in der heiligen Nacht der Himmel öffnete und sie schon einmal die himmlische Liturgie vernehmen durften. So erfuhr es Stephanus, als er gesteinigt wurde. Und so haben es all diejenigen schon erfahren, die uns im Glauben an Christus vorangegangen sind. Sie stehen nun schon vor dem Thron und dem Lamm, dürfen ihn, den dreieinigen Gott, in ewiger Freude schauen, dürfen nun schon erfahren, wie Gott alle Tränen von ihren Augen abwischt.

Man muss dazu nicht das Martyrium erleiden, um an dieser Freude teilhaben zu dürfen. Das Martyrium ist keine menschliche Leistung, zu der wir als Christen aufgefordert werden, und erst recht sollen wir nicht von uns aus das Martyrium suchen. Vorbereitet sein sollen wir, gewiss. Und doch dürfen wir dankbar sein, wenn Christus uns dieses Geschick erspart. Nicht wir verdienen uns den Himmel mit unserer Lebenshingabe, sondern der Himmel wird uns geschenkt allein durch die Lebenshingabe unseres Herrn, der eben darum in einer Krippe gelegen hat, um am Ende seines irdischen Weges für uns am Kreuz zu sterben. „Das Heil ist bei dem, der auf dem Thron sitzt, unserm Gott, und dem Lamm!“ – so rufen es die, die schon am Ziel angekommen sind. Und das gilt eben auch für uns: Bei Christus ist das Heil, er schenkt es uns genauso wie er es all den anderen geschenkt hat, die nun schon in weißen Kleidern vor ihm stehen, hat doch auch uns schon mit dem weißen Kleid seiner Gerechtigkeit umhüllt am Tage unserer heiligen Taufe.

Und wenn wir die Liturgie der Kirche singen, dann sind wir schon jetzt mit denen eins, die vor uns das Ziel erreicht haben, dann dürfen wir uns immer wieder neu bestärken lassen in der Vorfreude auf dieses Ziel. Ja, das hat Weihnachten gebracht, dass auch dir der Himmel einmal offen stehen wird – weil das Kind auch für dich in der Krippe gelegen hat. Amen.