08.07.2010 | St. Matthäus 16, 24-27 (Mittwoch nach dem 5. Sonntag nach Trinitatis)

MITTWOCH NACH DEM 5. SONNTAG NACH TRINITATIS – 8. JULI 2010 – PREDIGT ÜBER ST. MATTHÄUS 16,24-27

Da sprach Jesus zu seinen Jüngern: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Denn es wird geschehen, dass der Menschensohn kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln, und dann wird er einem jeden vergelten nach seinem Tun.

Umfragen erfreuen sich heutzutage nicht nur hier in Deutschland großer Beliebtheit. In den Jahren 1994 und 2003 hat man in der Schweiz unter 20jährigen Jugendlichen eine Umfrage durchgeführt und erforscht, welche Lebensziele und -aspekte für sie bedeutsam sind. Das Ergebnis des Vergleichs der beiden Umfragen von 1994 bis 2003 erscheint nicht ganz überraschend. Ich zitiere: „Idealistisch-abstrakte Problembereiche mit eher philosophischem Charakter, wie zum Beispiel die Frage nach Gott oder nach dem Sinn des Lebens, haben zugunsten von Lebensfragen mit stärkerem Ich-Bezug, wie beispielsweise der Frage nach dem richtigen Partner, nach finanzieller Sicherheit oder nach Erfolg bzw. Misserfolg in der Schule oder im Beruf, an Bedeutung eingebüßt.“ Das gilt gewiss nicht nur für 20jährige Schweizer Jugendliche; das ließe sich in ganz ähnlicher Weise wohl auch unter deutschen Jugendlichen desselben Alters aufweisen: An die Stelle der Frage nach Gott treten Lebensfragen mit stärkerem Ich-Bezug.
Auf diesem Hintergrund erscheint die Einladung, die Christus in der Predigtlesung des heutigen Abends ausspricht, nicht sonderlich attraktiv: Nein, er verspricht denen, die sich in seine Gemeinschaft, in seine Nachfolge rufen lassen, keine finanzielle oder persönliche Sicherheit, keinen Erfolg, keine Lösung all ihrer Probleme, keinen Spaß und erst recht keinen geilen Nervenkitzel. Sondern er verspricht denen, die ihm nachfolgen, so ziemlich genau das Gegenteil von all dem, was als Lebensziel für heutige Jugendliche bedeutsam und erstrebenswert zu sein scheint. Nein, Werbung für den christlichen Glauben machen kann man mit diesen Worten Jesu scheinbar überhaupt nicht. Sie sind

- eine große Provokation
- und doch zugleich ein großer Trost

I.

Schwestern und Brüder, sicher hat sich unsere Welt, hat sich auch die Gesellschaft in den vergangenen 2000 Jahren in vielem verändert. Aber das heißt nicht, dass wir davon ausgehen dürften, dass Jesus damals, als er die Worte unserer heutigen Predigtlesung sprach, bei denen, die sie hörten, Begeisterungsstürme hervorgerufen hätte. Im Grunde genommen waren und sind wir Menschen schon zu allen Zeiten gleich gestrickt: Wir möchten, dass es uns in diesem Leben gut geht, und wir tun uns so schwer damit, uns vorzustellen, dass das, was wir hier und jetzt in unserem Leben erfahren, nicht alles, noch nicht einmal das Wichtigste ist, sondern dass uns die letzte große Entscheidung in unserem Leben erst noch bevorsteht.
Und genau dieser Lebenseinstellung, die ganz auf das Hier und Jetzt ausgerichtet ist, widerspricht Jesus hier in aller Schärfe. Das konnten seine Zuhörer damals vielleicht sogar noch besser verstehen als wir heute. Für uns ist der Ausdruck „sein Kreuz tragen“ in frommen Kreisen schon fast zu einer Art von Floskel geworden; „Kreuz“ steht dann für alle negativen Erfahrungen und Belastungen, denen wir in unserem Leben so ausgesetzt sind. Die Zuhörer Jesu wussten damals jedoch aus eigener Anschauung genau, was ein Kreuz war: ein Folterwerkzeug, Symbol tiefster Erniedrigung und Entehrung, ja, ein Instrument zum Vollzug der Todesstrafe. Das ist es also, was Jesus denen verspricht, die sich von ihm in seine Lebensgemeinschaft rufen lassen: Verlust von Besitz und Ehre, ja möglicherweise sogar von Leib und Leben. Und damit ja keiner auf die Idee kommen konnte, das vielleicht doch nur als eine gewisse Übertreibung, als ein ungewöhnliches Bild zu verstehen, das Jesus hier gebraucht, legt er gleich nach: „Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ Unsinnig klingen diese Worte zunächst, ja, Sinn machen sie tatsächlich nur, wenn dieses jetzige, irdische Leben, das wir führen, nicht alles ist, wenn es ein wahres Leben gibt, das jenseits dieses irdischen Lebens liegt und das durch den Verlust des irdischen Lebens gerade nicht bedroht ist, sondern den Verlust dieses Lebens geradezu zur Voraussetzung hat. Sinn machen diese Worte nur dann, wenn mit dem Tode nicht alles aus ist und wenn wir Menschen auch nicht einfach alle miteinander automatisch in den Himmel kommen, sondern sich am und im Ende unseres Lebens entscheidet, ob wir unser Leben verfehlt haben oder nicht. Ja, dann wird sich genau diese Frage stellen, die Christus hier so offen anspricht: Was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Die Erreichung all der Lebensziele, die in den Umfragen unter 20jährigen oder auch bei Älteren an erster Stelle stehen mögen, bringt offenkundig am Ende nichts, wenn es darum geht, bestehen zu können, wenn Christus, der Menschensohn, kommen wird, um einem jeden zu vergelten nach seinem Tun, nach dem, was sein Leben ausgemacht und bestimmt hat.
Brüder und Schwestern, die Worte Jesu in unserer heutigen Predigtlesung widersprechen den Einstellungen und Erwartungen von uns Menschen so sehr, dass sie in unseren heutigen Medien wohl als Ausdruck eines unerträglichen religiösen Fundamentalismus gewertet werden dürften, wenn sie denn überhaupt noch jemand zur Kenntnis nehmen würde. Von Anhängern zu erwarten, dass sie dazu bereit sind, auf ihr irdisches Leben zu verzichten, von einem kommenden Gericht zu sprechen – das ist doch völlig inakzeptabel, das ist doch geradezu ein Fall für den Verfassungsschutz, so dürften heute viele tönen. Nun muss man in der Tat zweierlei klarstellen: Nirgendwo deutet Jesus auch nur an, dass diejenigen, die ihm nachfolgen, ihr Leben dadurch verlieren sollen, dass sie anderen Menschen Schaden zufügen oder gar das Leben anderer bei irgendwelchen Attentaten beenden. Und zum anderen ruft Jesus auch nicht dazu auf, mit aller Gewalt nun selber den Märtyrertod zu suchen oder gar herbeizuführen. Aber er möchte in der Tat bei denen, die zu ihm gehören, erst gar keine falschen Illusionen wecken: Wer Christ ist, schwimmt damit in aller Regel nicht mit der Masse, der muss mit Widerständen, mit Nachteilen rechnen, ja damit, dass er von denen verleumdet wird, die sich gar nicht vorstellen können, dass das Leben, das wir hier und jetzt führen, nicht alles sein könnte. Ja, eine Provokation sind die Worte Jesu, und sie sollen und wollen es auch sein.

II.

Ja, als Provokation sollen wir auch als Christen diese Worte Jesu immer wieder wahrnehmen, sollen uns durch sie die Frage stellen lassen, ob wir möglicherweise auch allzu angepasst unser Leben als Christen führen, uns so sehr auf unser Leben im Diesseits, im Hier und Jetzt konzentrieren, dass der christliche Glaube nur noch zu einer schönen Verzierung unseres irdischen Lebens wird, es aber in seiner Bedeutung gar nicht mehr in Frage stellt. Wie bequem haben wir es uns eigentlich schon in dieser Welt gemacht, dass wir schon kleine Einschränkungen unseres Wohlbefindens als kaum erträgliche Opfer empfinden, wenn es darum geht, Christus in unserem Leben nachzufolgen; wie leicht knicken wir schon ein und halten den Mund, wenn wir befürchten müssten, blöde angemacht zu werden, wenn wir in einem bestimmten Kreis zu laut und deutlich unsere Position als Christen vertreten!
Doch wir sollen die Worte unseres Herrn eben nicht bloß als Kritik und Provokation wahrnehmen, sondern zugleich auch als ganz großen Trost: Es stimmt tatsächlich: Was wir hier und jetzt in unserem Leben erfahren, ist nicht alles. Das eigentliche, das wahre Leben, es liegt erst noch vor uns. Unser Leben, das wir hier und jetzt führen, ist eine Vorbereitung auf dieses Leben, eine Vorbereitung, bei der in der Tat letzte Entscheidungen fallen. Und da kann es dann sein, dass ein Mensch hier in diesem Leben krank und behindert ist und man sich fragt, was dieser Mensch von diesem Leben hat – und dass dieser Mensch mit all seinen Einschränkungen in Wirklichkeit doch das wahre Leben gewinnt, besser verstanden hat, worum es in diesem Leben geht, als so viele Gesunde. Und da kann es umgekehrt sein, dass ein Mensch in diesem Leben Erfolg hat, gesund, glücklich und dynamisch ist – und am Ende doch feststellen muss, dass er sein Leben total verfehlt hat. Da mögen wir fragen, warum das Leben von manchen Menschen so früh zu Ende geht, wo es doch kaum gelebt zu sein scheint. Doch Jesus lehrt uns hier eine andere Perspektive. Ich gewinne mein Leben nicht dadurch, dass ich neunzig oder hundert werde, sondern dass ich mein Leben in der Gemeinschaft mit Christus führe. Wenn ein Mensch in der Nachfolge Jesu lebt, dann hat er ein erfülltes Leben, ganz gleich, ob er zwanzig oder fünfzig oder achtzig Jahre wird, ganz gleich ob er krank oder gesund ist. Und wenn ein Mensch ohne Christus lebt, dann bleibt sein Leben am Ende doch leer, und wenn er noch so viel erlebt hat und vielleicht noch so steinalt geworden ist. Nein, Christen haben es nicht leichter als andere Menschen; oft genug lastet das Kreuz ihres Herrn viel schwerer auf ihnen als auf anderen Menschen. Aber sie wissen, wohin dieser Kreuzweg führt: Dorthin, wo wir einmal verstehen werden, warum uns Christus diesen und keinen anderen Weg geführt hat. Mögen wir uns darum von Christus durch seine Worte heute Abend wieder von neuem wachrütteln und trösten lassen. Denn es geht in der Tat um unser Leben. Amen.