28.08.2010 | Hebräer 10, 32-39 (Gedenkandacht zur Kranzniederlegung)

GEDENKANDACHT ZUR KRANZNIEDERLEGUNG – 28. AUGUST 2010 – ANSPRACHE ÜBER HEBRÄER 10,32-39

Gedenkt aber der früheren Tage, an denen ihr, nachdem ihr erleuchtet wart, erduldet habt einen großen Kampf des Leidens, indem ihr zum Teil selbst durch Schmähungen und Bedrängnisse zum Schauspiel geworden seid, zum Teil Gemeinschaft hattet mit denen, welchen es so erging. Denn ihr habt mit den Gefangenen gelitten und den Raub eurer Güter mit Freuden erduldet, weil ihr wisst, dass ihr eine bessere und bleibende Habe besitzt. Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, damit ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt. Denn »nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben. Mein Gerechter aber wird aus Glauben leben. Wenn er aber zurückweicht, hat meine Seele kein Gefallen an ihm« (Habakuk 2,3-4). Wir aber sind nicht von denen, die zurückweichen und verdammt werden, sondern von denen, die glauben und die Seele erretten.

69 Jahre ist es heute nun schon her, dass der Oberste Sowjet der UdSSR einen Erlass verabschiedete, aufgrund dessen innerhalb weniger Wochen fast 400.000 Wolgadeutsche nach Mittelasien und nach Sibirien deportiert wurden. 69 Jahre ist es heute nun schon her, dass damit für Hunderttausende von Deutschen aus der Wolgarepublik ein furchtbarer Leidensweg begann, eingesperrt in Viehwaggons, oft genug herausgeworfen mitten in der Steppe, in Erdlöchern hausend, später in vielen Fällen eingezogen in die Trud-Armee, ein Leidensweg, bei dem Familien auseinandergerissen wurden, Kinder ohne ihre Eltern versuchen mussten zu überleben, ein Leidensweg, den am Ende Hunderttausende Deutsche aus den verschiedensten Gebieten der Sowjetunion nicht überlebten und der für die, die das Grauen überlebten, auch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs längst noch nicht zu Ende war.
69 Jahre ist das alles heute nun schon her. Das heißt: Die Zahl derer, die sich an all dies aus eigenem Erleben noch erinnern kann, wird von Jahr zu Jahr kleiner. Immer weniger werden es, die anderen noch erzählen können, wie es war, als sie damals im Spätsommer 1941 die Nachricht erhielten, wie ihnen kaum Zeit blieb, irgendetwas zusammenzupacken, wie es war in den folgenden Jahren des Schreckens. 69 Jahre ist das alles nun schon her, und es lässt sich schon absehen, dass die Zeit kommen wird, in der es keine lebenden Zeitzeugen der Deportation mehr geben wird, in der wir nur noch aus Geschichtsbüchern von dem erfahren werden, was sich damals abgespielt hat.
69 Jahre ist das alles nun schon her. Ja, wird es da nicht allmählich Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen unter das, was gewesen ist, die Erinnerung denen zu überlassen, die damals mit dabei waren, und sich ansonsten der Zukunft zuzuwenden? Warum gedenken wir immer noch solcher Ereignisse, die nun schon fast 70 Jahre zurückliegen?
Wir gedenken ihrer zunächst einmal und vor allem, weil Gott selber nicht vergessen hat und vergessen wird, was damals vor 70 Jahren geschehen ist. Gott vergisst nicht das unsagbare Leid, das Adolf Hitler mit seinem Angriff gegen die Sowjetunion über viele Millionen Bewohner dieses Landes gebracht hat, und Gott vergisst ebenso wenig das Leid, das Hunderttausende Wolgadeutsche als Rache für diesen Angriff erdulden mussten. Gott vergisst sie nicht: die Menschen, die in den Viehwaggons auf dem Weg nach Sibirien elend umgekommen sind, die Menschen, die den ersten Winter nach ihrer Deportation nicht überlebt haben, erfroren und verhungert sind, die Kinder, die umkamen, weil sie keine Mutter hatten, die sich um sie kümmern konnte, die Arbeitssklavinnen und Arbeitssklaven in den Lagern der Trudarmee, ja, gerade auch diejenigen, die sich noch einmal in besonderer Weise quälen und schikanieren ließen, weil sie nicht dazu bereit waren, dem Glauben an Gott abzusagen. Gott kennt sie, all die Menschen, die in diesen Jahren einfach spurlos verschwunden sind und deren Schicksal bis heute unbekannt geblieben ist, Gott kennt all das Leid, das wir nur ahnen können und von dem niemand mehr zu berichten weiß oder auch überhaupt niemals berichten konnte. Ja, Gott kennt dieses Leid, das Menschen über Menschen gebracht haben, und er wird diejenigen, die dafür verantwortlich waren, zur Rechenschaft ziehen, wird zur Sprache bringen, worüber kein menschliches Gericht jemals Recht sprechen konnte. Ja, gerade so können, dürfen und sollen wir derer gedenken, die vor 70 Jahren so Unfassbares durchgemacht haben, dass wir sie und auch das Urteil über das, was sie erlitten haben, ganz Gott, dem Herrn und Richter der Welt, anbefehlen.
Wir gedenken der Ereignisse vor 70 Jahren zweitens deshalb, weil wir glauben, dass Menschen ein Recht dazu haben, von dem zu erzählen, was sie in ihrem Leben erfahren haben, weil wir glauben, dass jede Lebensgeschichte eines Menschen es wert ist, erzählt und gehört zu werden. Schauen wir uns die Psalmen in der Heiligen Schrift an, dann sind sie voll von Schilderungen von dem, was Menschen erlebt haben, voll von Klage und von Dank, merken wir, wie es den Betroffenen wichtig ist, dass auch andere mithören, was sie zu erzählen und zu berichten wissen. Nein, das tut nicht nur denen gut, die von sich erzählen und berichten; es ist auch wichtig und hilfreich für die, die zuhören, sich ihren Lebenshorizont durch diese Berichte erweitern zu lassen. Ich selber bin jedenfalls sehr, sehr dankbar dafür, dass ich bei mir in der Gemeinde immer wieder Berichte von älteren Menschen hören durfte und darf, die die Ereignisse des Jahres 1941 in Russland selber noch miterlebt haben. Da erscheint das eigene Leben, da erscheinen auch die eigenen Probleme noch einmal in einem ganz anderen Licht, wenn man hört, was andere in ihrem Leben durchgemacht und erfahren haben. Nein, kein Mensch hat das Recht dazu, zu bestimmen, dass Menschen irgendwann ihren Mund halten sollten, nicht mehr von ihrem Leben sprechen sollten, weil das nicht mehr interessiert, weil das nicht mehr in irgendwelche Interessenlagen hineinpasst. Im Gegenteil: Es gehört zur von Gott gegebenen Würde eines Menschen, dass er eine Geschichte hat, eine Geschichte, die so und nicht anders von Gott geführt worden ist und die anzuhören sich allemal lohnt.
In der Lesung aus dem Hebräerbrief, die wir eben gehört haben, erfahren wir schließlich noch einen dritten Grund, weshalb es wichtig ist, dass wir der Ereignisse des Jahres 1941 und der folgenden Jahre auch heute noch gedenken: „Gedenket der früheren Tage“, so ruft es der Verfasser des Hebräerbriefs den Empfängern seines Briefes zu, die in der Gefahr standen, im Glauben an Christus müde zu werden, aus der Gemeinschaft der Kirche auszusteigen, weil anderes für sie wichtiger zu werden schien. Ja, was hatten die Empfänger seines Briefes damals nicht alles an Leid und Schikanen auf sich genommen, nur weil sie Christen waren, nur weil sie Christus und dem Glauben an ihn treu bleiben wollten! Das sollte, das durfte doch nicht vergeblich gewesen sein, das sollte sie doch veranlassen, nun auch weiter dranzubleiben an Christus, ihn nicht doch wieder zu verlassen, Geduld zu bewahren, auch wenn sich ihnen die Frage aufdrängte, ob es sich denn immer noch lohnte, Christus treu zu bleiben.
Erschütternde Berichte von Leid und Schikanen, die viele Deutsche damals in diesen Jahren gerade auch wegen ihres Glaubens an Christus erleiden mussten, habe ich in meinen Gesprächen im Laufe der Jahre gehört, Berichte, die auch uns heute, ganz gleich, wie jung oder alt wir sein mögen, mahnen und ermuntern: Werft euer Vertrauen nicht weg! Gebt den Glauben an Christus nicht preis! Ihr habt es heute hier in diesem Land so viel einfacher, euren Glauben als Christen zu leben; ihr habt es hier in diesem Land heute so viel einfacher, zum Gottesdienst zu kommen, zu dem die Glocken rufen, die damals 1941 zum Zeitpunkt der Deportation in der Sowjetunion schon längst verstummt waren. Ja, gedenkt an das, was die Menschen 1941 damals durchgemacht haben, und verratet nicht ihr Erbe, indem ihr den Glauben, der ihnen damals so entscheidend wichtig war, preisgebt! Diejenigen, die damals in die Weiten Sibiriens und Kasachstans verschleppt wurden, die wussten es zumeist ganz genau: Es gibt etwas, was noch schrecklicher ist, als aus der Heimat verschleppt zu werden, als Hab und Gut, ja die Familie zu verlieren: nämlich von Gott getrennt zu sein, für immer ohne ihn leben zu müssen. Bewahren wir dieses Erbe derjenigen, die damals vor knapp 70 Jahren so Schreckliches erduldet haben; bewahren wir es nicht bloß, weil es ein Stück Tradition ist, sondern weil es die Wahrheit auch unseres Lebens heute ist. Dann können wir gemeinsam mit denen, die damals unter so schwierigen Bedingungen an ihrem Glauben festgehalten haben, mit den Worten des Hebräerbriefs sprechen: „Wir aber sind nicht von denen, die zurückweichen und verdammt werden, sondern von denen, die glauben und die Seele erretten.“ Amen.


 Herr Gott, Vater unseres Herrn Jesus Christus, in deiner Hand liegt die Geschichte aller Menschen und aller Völker.
Wir klagen dir an diesem Tag all das Leid, das verbrecherische Diktaturen im vergangenen Jahrhundert über unzählige Menschen in der Sowjetunion, in Deutschland, Europa und der ganzen Welt gebracht haben. Vor dir gedenken wir der Menschen in der Sowjetunion, die Opfer des Angriffs der deutschen Wehrmacht wurden. Vor dir gedenken wir der Menschen, über deren Schicksal heute vor 69 Jahren der Oberste Sowjet entschied: Wir gedenken derer, die infolge der Deportation aus der Wolgarepublik und aus anderen Teilen der Sowjetunion starben, wir gedenken derer, die in den Arbeitslagern litten und umkamen, wir gedenken der Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden und schließlich verhungerten, wir gedenken all der Menschen, deren Schicksal uns bis heute unbekannt geblieben ist, wir gedenken all des Leides, das niemand anders kennt als du allein.
Wir danken dir aber zugleich auch für alle Bewahrung, die du Menschen inmitten der Schrecken von Vertreibung, Hass, Hunger und Elend hast erfahren lassen, für alle Zeichen der Liebe und Zuwendung, die sie erleben durften, für kleine und große Wunder, die du an ihnen getan hast. Wir danken dir für allen Glaubensmut, den du so vielen der Verschleppten und Vertriebenen geschenkt hast und der uns auch heute noch als Ermutigung und Beispiel dienen kann. Ja, wir danken dir, dass wir hier und heute die Möglichkeit haben, in Freiheit unseren Glauben zu leben und zu verkündigen.
In deine Hände befehlen wir all diejenigen, die die Schreckensherrschaft Stalins in der Sowjetunion nicht überlebt haben. Lass du sie ruhen in deinem Frieden, und lass ihnen dein ewiges Licht leuchten.
Wir bitten für all diejenigen, die in den Geschehnissen des Jahres 1941 Schuld auf sich geladen haben, für all diejenigen, die ihre Herzen und Türen vor den Elenden und Bedürftigen verschlossen haben: Vergib ihnen, und rechne ihnen um Christi willen ihre Sünde nicht zu!
Wir bitten für diejenigen, die bis heute unter dem leiden, was sie damals vor 70 Jahren erlitten haben, deren Wunden bis heute nicht heilen wollen: Lass du sie in dir Ruhe, Trost, Frieden und Heilung finden.
Wir bitten dich für uns selber: Vergib uns alle Unversöhnlichkeit, bewahre uns davor, heute wieder neu Menschen aufgrund ihrer Herkunft zu beurteilen und zu verurteilen. Stärke unseren Glauben durch das Glaubenszeugnis derer, die uns vorangegangen sind. Hilf uns, dir treu zu bleiben und den Schatz des Evangeliums, den du uns anvertraut hast, nicht preiszugeben.
Richte unseren Blick auf das Ziel unseres Lebens, an dem du einmal alle Tränen von unseren Augen abwischen wirst und uns teilhaben lassen wirst an der ewigen Heimat, in der es kein Leid und keinen Tod mehr geben wird und aus der uns endgültig niemand mehr wird vertreiben können.
Dies bitten wir dich durch Jesus Christus, deinen Sohn, unseren Herrn. (Amen)