15.09.2010 | Apostelgeschichte 27, 33-44 (Mittwoch nach dem 15. Sonntag nach Trinitatis)

MITTWOCH NACH DEM 15. SONNTAG NACH TRINITATIS – 15. SEPTEMBER 2010 – PREDIGT ÜBER APOSTELGESCHICHTE 27,33-44


Und als es anfing, hell zu werden, ermahnte Paulus sie alle, Nahrung zu sich zu nehmen, und sprach: Es ist heute der vierzehnte Tag, dass ihr wartet und ohne Nahrung geblieben seid und nichts zu euch genommen habt. Darum ermahne ich euch, etwas zu essen; denn das dient zu eurer Rettung; es wird keinem von euch ein Haar vom Haupt fallen. Und als er das gesagt hatte, nahm er Brot, dankte Gott vor ihnen allen und brach's und fing an zu essen. Da wurden sie alle guten Mutes und nahmen auch Nahrung zu sich. Wir waren aber alle zusammen im Schiff zweihundertsechsundsiebzig. Und nachdem sie satt geworden waren, erleichterten sie das Schiff und warfen das Getreide in das Meer. Als es aber Tag wurde, kannten sie das Land nicht; eine Bucht aber wurden sie gewahr, die hatte ein flaches Ufer. Dahin wollten sie das Schiff treiben lassen, wenn es möglich wäre. Und sie hieben die Anker ab und ließen sie im Meer, banden die Steuerruder los und richteten das Segel nach dem Wind und hielten auf das Ufer zu. Und als sie auf eine Sandbank gerieten, ließen sie das Schiff auflaufen und das Vorderschiff bohrte sich ein und saß fest, aber das Hinterschiff zerbrach unter der Gewalt der Wellen. Die Soldaten aber hatten vor, die Gefangenen zu töten, damit niemand fortschwimmen und entfliehen könne. Aber der Hauptmann wollte Paulus am Leben erhalten und wehrte ihrem Vorhaben und ließ die, die schwimmen konnten, als Erste ins Meer springen und sich ans Land retten, die andern aber einige auf Brettern, einige auf dem, was noch vom Schiff da war. Und so geschah es, dass sie alle gerettet ans Land kamen.


Eine schöne Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer war das nun wirklich nicht, was St. Lukas uns im vorletzten Kapitel seiner Apostelgeschichte schildert. Nicht als Tourist, sondern als Gefangener hatte Paulus das Schiff bestiegen, das Richtung Rom fahren sollte; keine Außenkabine mit Meerblick, kein Captain’s Dinner erwarteten ihn dort. Nun hätte er das alles vielleicht noch ganz gut verkraftet; aber dann gerät das Schiff nach der Abfahrt von Kreta in einen fürchterlichen Sturm. Zwei Wochen treiben sie auf dem Mittelmeer dahin, verlieren jegliche Orientierung, und wer schon einmal auf einem Schiff seekrank geworden ist, der kann vielleicht ein wenig erahnen, wie es den Passagieren dort an Bord nach zwei Wochen stürmischer See ergangen sein muss. Der Appetit war allen miteinander restlos vergangen; alle hingen nur noch über der Reling und sehnten allmählich ihr Ende herbei. Wie sollten sie aus dieser hoffnungslosen Lage bloß wieder herauskommen? Und dann kommt endlich Land in Sicht; doch für die Seeleute ist das nur sehr begrenzt ein Grund zur Freude; sie fürchten, mit dem Schiff gegen Klippen geschleudert zu werden und zu sinken, und so werfen sie mitten in der Nacht alle ihnen zur Verfügung stehenden Anker aus, um nicht im Dunkel der Nacht Schiffbruch zu erleiden.
Ja, spätestens in dieser Nacht waren auch dem allerletzten an Bord jegliche Kreuzfahrtgefühle vergangen; völlig orientierungslos auf einem zu sinken drohenden Schiff zu sitzen – auf diese Erfahrung hätten sie alle miteinander gerne verzichtet. Doch dann wird es allmählich hell. Und da passiert nun etwas geradezu Unglaubliches: Mitten auf diesem bald sinkenden Schiff, mitten in dieser scheinbar völlig aussichtslosen Situation stellt sich der Paulus hin und fordert alle, die an Bord sind, auf, nun erst mal etwas zu essen. „Das dient zu eurer Rettung“, sagt er, denn bald schon würden sie Kraft brauchen, um an Land zu kommen. Ja, so verspricht es Paulus allen an Bord versammelten Passagieren: Ihr werdet alle gerettet werden, keiner von euch wird umkommen, ja, keinem von euch wird ein Haar vom Haupt fallen. Was für ein scheinbar wahnwitziges Versprechen! Doch Paulus belässt es nicht bei der Ankündigung; er geht selber mit gutem Beispiel voran, verzehrt vor den Augen der anderen sein Frühstück, nicht ohne zuvor natürlich das Tischgebet vor allen gesprochen zu haben. Und sein Beispiel wirkt: Nun fangen auch die anderen an, denen seit zwei Wochen der Appetit vergangen war; auch sie holen sich ihr Frühstück und essen wieder, jawohl, alle 276 Passagiere an Bord.
Und dann sehen sie, als es heller wird, dass sie sich tatsächlich in der Nähe einer Bucht mit einem flachen Ufer befinden. Dahin lassen sie sich treiben, kommen allerdings nicht bis ganz ans Land: Das Schiff läuft auf eine Sandbank auf, und der hintere Teil des Schiffs zerbricht unter der Gewalt der Wellen. Eine kritische Situation war das für die Gefangenen, die gemeinsam mit Paulus an Bord waren: Die Soldaten, die sie bewachten, hatten ja den Auftrag, alles zu verhindern, dass auch nur einer der Gefangenen entkommen konnte. Es war eher akzeptabel, dass sie ihre Gefangenen umbrachten, als dass sie sie freiließen. Doch glücklicherweise wusste der Hauptmann auf dem Schiff, was er an Paulus hatte, und so verbietet er den Soldaten, zu tun, was sonst üblich war, lässt die Schwimmer, von denen es damals nicht allzu viele gab, als erste ins Meer springen, und veranlasst dann, dass die anderen sich an irgendwelche Schiffsplanken oder an irgendwelches schwimmendes Schiffsinventar klammern und sich so ans Land treiben lassen. Und siehe da – am Ende kommen tatsächlich alle 276 lebendig am Strand an.
Was uns St. Lukas hier erzählt, ist nicht bloß eine abenteuerliche Geschichte, die der Apostel Paulus damals vor knapp 2000 Jahren auf seinem Weg nach Rom erlebt hat. Sondern genau diese Erfahrung, die der Paulus damals gemacht hat, ist doch auch uns nicht ganz unbekannt: Orientierungslos auf einem allmählich sinkenden Schiff zu sitzen – das ist ein Lebensgefühl, das auch heutzutage nicht wenige Menschen haben: Wo geht es mit unserem Land, mit unserer Gesellschaft, mit unserer Welt insgesamt hin? Und sind die starken Erschütterungen der Erde, sind die Wassereinbrüche, die uns tagtäglich im Fernsehen vor Augen geführt werden, nicht tatsächlich unübersehbare Zeichen dafür, dass das Schiff unserer Welt langsam aber sicher zu sinken beginnt?
Doch Lukas geht es eben gerade nicht darum, dass wir als Christen nun auch mit einstimmen in das allgemeine Klagen über den allmählichen Untergang unserer Welt oder zumindest unseres Landes. Sondern er stellt uns stattdessen den Paulus vor Augen, der auf diesem sinkenden, orientierungslosen Schiff etwas scheinbar Irrsinniges tut: Er spricht fröhlich sein Dankgebet über seinem Essen, verzehrt es vor den Augen der anderen und bezeugt ihnen die Rettung, die auch ihnen gilt. Ja, genau das ist unsere Aufgabe, die wir als Christen in dieser Welt haben: Gott zu danken, während alle um uns herum klagen, fröhlich das Mahl zu feiern und anderen die Rettung zu verkündigen, die Gott auch für sie bereithält. Ja, das geht tatsächlich schon los mit dem Tischgebet, das wir sprechen, ja auch im Angesicht derer, die das selber vielleicht erst einmal gar nicht kennen. Damit bezeugen wir, dass unser Leben eben nicht in unserer Hand liegt, dass wir unser Leben und alles, was wir dazu brauchen, aus Gottes Hand empfangen. Doch wir dürfen in dem, was Paulus da auf dem Schiff macht, zugleich auch das eine Mahl erkennen, zu dem wir uns immer wieder hier um den Altar versammeln: das Mahl, das Christus selber gestiftet hat, als er das Brot genommen, darüber gedankt, es gebrochen und es mit seinen Worten gesegnet hat. Ja, da jubeln und feiern wir mitten in einer vergehenden Welt, feiern unsere Rettung jetzt schon, obwohl äußerlich betrachtet so vieles dagegen zu sprechen scheint. Ja, das strahlt aus, lässt dann auch andere neugierig werden – nicht bloß auf uns, sondern auf das, was uns dazu veranlasst, dieses Mahl der Danksagung zu feiern, lässt sie dann auch mit dazukommen.
Als Salz der Erde, als Licht der Welt bezeichnet Jesus uns, seine Jünger, in der Bergpredigt. Wie damals um des Paulus willen auch die anderen Gefangenen am Leben blieben und gerettet wurden, so ist es auch mit dieser Welt: Wir mögen als Christen nur wenige sein; doch um unsertwillen verschont Gott diese vergehende Welt noch, gibt Menschen immer noch die Möglichkeit, zu ihm umzukehren und gerettet zu werden. Nein, das liegt nicht daran, dass wir so großartige Menschen wären; das liegt allein an der Liebe unseres Herrn zu uns, dass er um unsertwillen Geduld hat und verschont. Ja, Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Seine Zusage gilt, gilt uns und allen anderen Menschen auch. Klammern wir uns an dieses Versprechen, das er uns doch schon ganz persönlich in unserer Taufe gegeben hat. Dieses Versprechen trägt, auch durch alle Wellen des Lebens hindurch. Ja, dieses Versprechen trägt uns bis an das Ufer der neuen Welt. Amen.