15.12.2010 | Jesaja 45,1-7 | Mittwoch nach dem 3. Sonntag im Advent

Über ein Vierteljahr ist es nun schon her, seit der 10jährige Mirco Schlitter in Grefrath spurlos verschwand. Bis heute hat man ihn weder tot noch lebendig gefunden. Er ist einfach weg - offenkundig Opfer eines Verbrechens, so viel scheint klar. Mirco gehörte mit seiner Familie einer evangelischen Freikirche an; jeden Sonntag war er in der Kirche. Und dann passiert mit einem Mal so etwas Furchtbares: Er wird der Familie entrissen, und keiner weiß, was letztlich mit ihm geschehen ist. Ja, was für eine furchtbare Erfahrung für die Familie: Wie kann Gott bloß so etwas zulassen? Diese Frage mögen auch wir uns immer wieder stellen, wenn wir erfahren, wie Menschen Unbegreifliches widerfährt, wenn sie von furchtbaren Schicksalsschlägen getroffen werden: Wie lassen sich solche Erfahrungen bloß mit unserem Glauben an Gott vereinbaren?

Genau um diese Frage geht es auch in der Predigtlesung des heutigen Abends. Und doch unterscheiden sich die Worte unserer heutigen Predigtlesung in einem entscheidenden Punkt von all den Antwortversuchen, die wir Menschen auf diese Fragen nach Gott geben mögen: Denn die Worte unserer heutigen Predigtlesung sind nicht Spekulationen von Menschen über Gott, sondern in ihnen redet der lebendige Gott zu uns Menschen, gibt sich uns zu erkennen – und zwar noch einmal ganz anders, als wir dies von uns aus vielleicht vermuten würden:
Er sprengt unsere menschlichen Vorstellungen.
Er bindet sich an sein Wort.
Er will und schafft unser Heil.

I.
Schwestern und Brüder, habt ihr es eben wenigstens gemerkt, dass die Worte, die ich euch gerade vorgelesen habe, zu den im wahrsten Sinne des Wortes aufregendsten Worten der ganzen Heiligen Schrift zählen? Da begeht Gott in diesen Worten gleichsam einen Tabubruch nach dem anderen:
Das geht schon gleich zu Beginn damit los, dass Gott einen heidnischen König hier als den Messias, als den Gesalbten bezeichnet: Gott erwählt sich einen Messias, der gar nicht an ihn, den Gott Israels, glaubt! Gott ist dazu in der Lage, Menschen in der Weltgeschichte für seine Zwecke einzusetzen, die selber gar nichts davon merken, dass und wie sie von ihm, Gott, gebraucht werden. Herrscher suchen nur den eigenen Ruhm und wissen gar nicht, dass sie in Wirklichkeit von Gott berufen, gesalbt, eingesetzt sind, um seinen Plan zum Ziel kommen zu lassen.

Von Kyros spricht Gott hier, von dem Perserkönig, der im Jahr 538 Babylon erobern und zerstören und das Volk Israel wieder in die Heimat zurückkehren lassen würde. Noch nichts war von dieser Eroberung Babylons durch den Perserkönig zu erkennen, als Gott diese Worte seinem Volk ausrichten ließ. Unglaublich muss es für die Israeliten geklungen haben, dass Gott diesen heidnischen König erwählt, um zu tun, was man doch früher immer von dem König Israels erwartet und erhofft hatte: Dass Gott durch ihn und sein Wirken sein Volk segnen würde. Und genau das geschieht nun durch diesen Perser, der später nach der Eroberung Babylons sich auch nicht bei dem Gott Israels, sondern bei dem babylonischen Gott Marduk dafür bedankte, dass der ihm diesen Sieg geschenkt habe. Kyros hat keine Ahnung, wer ihn denn eigentlich gerufen hatte – und doch ist und bleibt er Gottes Werkzeug.

Schwestern und Brüder, wir müssen nur mal anfangen, diesen Gedanken weiterzudenken, dass Gott die Geschichte dieser Welt auch durch heidnische Könige und Herrscher lenkt; dann wird uns vermutlich sehr schnell schwindlig werden: Ein Verbrecher wie der Herr Ahmadinedschad als Werkzeug Gottes – reicht unser Vorstellungsvermögen so weit?
Doch Gott belässt es nicht bei diesem einen Tabubruch; er wird am Ende noch radikaler, noch grundsätzlicher: „Ich bin der HERR, und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der HERR, der dies alles tut.“ Nein, Gott erlaubt es uns nicht, ihn in seinem Wirken irgendwo einzugrenzen, ihn gleichsam nur zum Minister für die schönen und netten Momente im Leben zu degradieren. Gott schafft auch die Finsternis, er schafft auch das Unheil. Als Mirco entführt wurde, da ist Gott nicht etwa die Geschichte aus der Hand geglitten, da ist Gott bei seinen Möglichkeiten einzugreifen, nicht irgendwo an eine Grenze gestoßen. Ach, es wäre doch nur ein sehr vordergründiger Trost, wenn wir versuchen würden, uns die Geschichte der Welt, die Geschichte auch unseres Lebens so zurechtzulegen, dass für alles Gute in der Welt Gott zuständig ist und für alles Böse der Teufel. Nein, wir glauben nicht an zwei Götter, einen guten und einen bösen, wir glauben auch nicht an einen Gott mit begrenzten Möglichkeiten. Gott selber stellt sich uns hier jedenfalls anders vor: Er ist auch zuständig für die Finsternis, auch zuständig für das Unheil, für das Böse. Schwestern und Brüder: Nirgendwo sonst in der Heiligen Schrift finden wir eine Aussage von solch einer Radikalität wie hier in Jesaja 45,7. Ja, das ist zutiefst aufregend, was Gott hier äußert, das mag uns geradezu schwindlig werden lassen, wenn wir anfangen, das immer weiter zu durchdenken. Da dauert es nicht lange, bis wir merken, dass wir an alle Grenzen unseres menschlichen Vorstellungsvermögens stoßen. Und doch will uns Gott mit diesen Worten nicht erschrecken, sondern trösten: Nichts, aber auch gar nichts, was in dieser Welt passiert, und sei es noch so schrecklich und unbegreiflich, ist seiner Verfügungsgewalt entrissen, nichts, aber auch gar nichts geschieht ohne ihn, außer dem doch kein Gott ist.

II.
Doch die Frage bleibt natürlich: Wenn Gott Frieden gibt und Unheil schafft, Finsternis genauso wie das Licht – wie können wir dann wissen, wie er zu uns steht, wie er mit uns umgeht? Sind wir dann einfach beliebig seiner Willkür ausgesetzt, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns vor ihm auf den Boden zu werfen und zu bekennen: Gott ist überaus groß?
Nein, damit brauchen wir uns nicht zufrieden zu geben. Denn Gott selber begnügt sich nicht mit dieser Feststellung, dass er nun einmal Frieden und Unheil schafft, wie er will. Sondern er redet zu seinem Volk, zu Israel genauso wie zu uns, und indem er redet, legt er sich in dem Geredeten fest, bindet er sich an sein Wort.

Genau das ist ja die besondere Botschaft der Kapitel 40-55 des Jesajabuchs, dass der lebendige Gott Israels im Unterschied zu den stummen Götzen redet und dass das, was er sagt, auch tatsächlich geschieht und eintrifft. Nein, wir brauchen eben nicht bloß darüber zu spekulieren, was Gott möglicherweise machen könnte, wie er möglicherweise in der Geschichte der Welt und auch unseres Lebens am Werk ist. Sondern wir dürfen uns an sein Wort halten, in dem er zu uns gesprochen hat, in dem er eindeutig zu erkennen gegeben hat und zu erkennen gibt, wie er zu uns steht und was er mit uns vorhat. Nein, Gott verspricht uns nicht in seinem Wort, dass er uns in unserem Leben vor Unglücken jeglicher Art bewahren will, dass es uns immer gut geht. Aber er verspricht uns sehr wohl in seinem Wort, dass er uns in unserer Taufe bei unserem Namen gerufen hat, dass wir ihm gehören, dass er uns unendlich lieb hat – nicht weil wir so Großes geleistet hätten, sondern weil seine Liebe allein uns unendlich liebenswert macht. An dieses Wort unseres Gottes sollen und dürfen wir uns halten, wenn uns sonst in unserem Kopf nur noch die Gedanken herumschwirren, wenn wir aufgrund unserer Erfahrungen gar nicht mehr wissen, was wir von diesem Gott eigentlich halten und erwarten sollen. Denn was Gott uns zugesagt hat, das wird er nie mehr zurücknehmen.

III.
Und damit sind wir auch schon beim Dritten, was sich aus dem eben Bedachten auch bereits ergibt: Gott zeigt seinem Volk, zeigt auch uns, dass all sein Wirken auf unser Heil zielt, dass er unser Heil will und auch schafft.
Dass Gott sich hier den Kyros beruft, ihn zu seinem Messias macht, ihn salbt und beauftragt, das macht er ja alles nicht, weil es ihm nun mal Spaß machen würde, mit Königen in der Weltgeschichte herumzuspielen. Sondern er macht dies alles, so betont er es selber hier, um Jakobs, meines Knechts, und um Israels, meines Auserwählten willen. Was auch geschieht – alles soll und muss letztlich dem Heil Israels, dem Heil des Volkes Gottes dienen.

Und genau dasselbe dürfen auch wir als Glieder des neuen Gottesvolkes für uns in Anspruch nehmen: Wir dürfen darauf vertrauen, dass alles, was wir in unserem Leben erfahren, uns letztlich doch zum Besten dienen muss, auch wenn wir es erst einmal überhaupt nicht zu begreifen vermögen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott Wege und Möglichkeiten hat, uns und andere Menschen zum Heil zu führen, die uns selber erst einmal ganz verborgen bleiben, uns vielleicht gar widersinnig erscheinen mögen. Gott will und schafft unser Heil – das hat er endgültig deutlich gemacht in der Sendung und Hinrichtung seines Sohnes. Unheil und Heil – im Kreuz Jesu Christi dürfen wir beides zugleich in einem erkennen: Was schrecklichstes Unheil ist, gebraucht doch Gott, um daraus unser Heil zu wirken. Ja, da gebraucht er dann eben auch einen Pontius Pilatus wie den Kyros, um unsere Geschichte zum Guten zu wenden.

Schwestern und Brüder, solange wir hier auf Erden leben, wird es viele Fragen geben, die wir nicht werden beantworten können, viele Fragen, warum Gott uns und andere Menschen so führt, wie er dies tut. Doch dreierlei dürfen wir eben immer festhalten: Nichts in dieser Welt entgleitet Gott und seinen Möglichkeiten, nichts ist mehr unklar, wenn Gott etwas in seinem Wort klar zugesagt hat, und nichts kann uns von Gottes Liebe trennen, weil Gott sich so eindeutig zu unseren Gunsten festgelegt hat. Möge uns das gerade jetzt in diesen Wochen der Adventszeit wieder neu als unser Trost aufgehen! Amen.