22.08.2009 | St. Lukas 18, 9-14 (Vorabend zum 11. Sonntag nach Trinitatis)

VORABEND ZUM 11. SONNTAG NACH TRINITATIS – 22. AUGUST 2009 – PREDIGT ÜBER ST. LUKAS 18,9-14

Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

„Ein Mensch betrachtete einst näher / Die Fabel von dem Pharisäer, / Der Gott gedankt voll Heuchelei / Dafür, dass er kein Zöllner sei. / Gottlob! rief er in eitlem Sinn, / Dass ich kein Pharisäer bin!“ – Eugen Roth hat mit diesen Worten auf wunderbare Weise die Falle beschrieben, in die wir als anständige Lutheraner beim Hören dieses Gleichnisses vom Pharisäer und Zöllner fast automatisch tappen. Zutiefst anstößig und scheinbar völlig unmoralisch ist das, was Jesus hier in diesem Gleichnis beschreibt; ja, was er sagt, sollte seine Zuhörer, sollte auch uns eigentlich mächtig aufregen. Doch stattdessen entziehen wir uns diesem Aufreger ganz einfach dadurch, dass wir mit unseren Sympathien die Seiten wechseln und aus den beiden beteiligten Akteuren Zerrbilder machen, die unser eigenes religiöses Empfinden stabilisieren und uns dazu helfen, dass wir uns innerlich selber auf die Schulter klopfen können: Wie schön, dass Jesus uns in dem bestätigt, was wir immer schon gedacht haben!
Doch so einfach können wir Christus mit seinem Gleichnis hier nicht entkommen. Schauen wir uns also zunächst einmal die beiden Typen noch mal genauer an, die Jesus uns hier in diesem Gleichnis vor Augen stellt: Einen Pharisäer schildert er uns da zunächst einmal, und beim Wort „Pharisäer“ gehen bei uns gleich die passenden Schubladen auf: Pharisäer – Das Wort ist heute für uns zum Inbegriff des Heuchlers geworden; bekannt ist das Heißgetränk gleichen Namens, bestehend aus Kaffee und 54%igem Rum, dessen Ausdünstungen durch ein Häubchen aus Schlagsahne auf dem Kaffee gedämpft werden: Man trinkt scheinbar nur Kaffee und kann sich dabei doch zugleich auf scheinbar hochanständige Weise besaufen. Doch davon, dass der Pharisäer in unserem Gleichnis ein Heuchler gewesen sei, ist hier nirgendwo die Rede. Nein, der Mann war echt gut, ein Gemeindeglied, wie man es sich nur wünschen kann: Anständig, zuverlässig, treu in der Gottesdienstteilnahme, bereit, sich auch finanziell für Gottes Reich zu engagieren. Schwestern und Brüder: Fasst es bitte nicht als Beleidigung auf: Was den Pharisäer hier in der Geschichte ausmacht, das trifft eigentlich auch auf euch alle zu: Auch ihr seid nach allem, was ich von euch weiß, anständige Leute. Die wenigsten von euch haben schon mal eine Bank überfallen oder sich als Finanzbetrüger betätigt, und auch als Ehebrecher sind die meisten von euch noch nicht sonderlich aufgefallen – im Gegenteil: Heute in diesem Gottesdienst feiern wir sogar die Goldene Hochzeit eines Ehepaars. 50 Jahre immer mit demselben Ehepartner – das muss selbst ein anständiger Pharisäer erst mal fertigkriegen! Ob ihr nun zweimal in der Woche fastet, weiß ich nicht. Das Fasten war damals jedenfalls Ausdruck der Buße, Ausdruck der Anerkennung, dass man ein sündiger Mensch ist, der auf Gottes Erbarmen angewiesen ist. Und genau diese Haltung prägt ja auch euch. Und dass ihr auch zu finanziellen Opfern bereit seid, das sieht man ja am Kollektenaufkommen hier in Steglitz – das ist an so manchen Tagen höher als in Zehlendorf. Ja, ihr seid gute Pharisäer – und das meine ich nicht als Vorwurf, sondern als Kompliment.
Umgekehrt reden wir uns den Zöllner in unseren eigenen Vorstellungen schnell selber schön, entwickeln als gute Lutheraner für ihn bald ein gewisses Faible, sind schnell bereit, uns mit ihm zu identifizieren. Schließlich legt er hier so ein schönes Sündenbekenntnis ab, und außerdem ist er hier in der Geschichte ja der Underdog, und dem gelten ohnehin erst mal unsere Sympathien. Schwestern und Brüder, wir tun uns offenbar schwer damit, die Empfindungen wahrzunehmen, die damals auch die ganz normalen Leute in der Bevölkerung, nicht nur die Superfrommen, mit einem Zöllner verbanden: Das waren nach ihrem Empfinden die letzten Säue, Leute, denen man lieber nicht die Hand schüttelte, weil man sonst sofort das unwiderstehliche Bedürfnis verspürte, sich gleich danach erst mal die Hände zu waschen. Zöllner hatten damals etwa den Ruf, den heute bei uns Zuhälter haben. Und dann stellt euch mal vor, da würde zu uns in den Gottesdienst ein solcher Zuhälter kommen, der auch gar keinen Hehl daraus macht, womit er sein Geld verdient, warum er sich die dicken Goldketten leisten kann, die da um seinen Hals baumeln. Anständiges, treues Gemeindeglied und Zuhälter – das sind also die beiden Typen, die uns Jesus hier vor Augen stellt, und da tun wir uns vielleicht dann doch nicht mehr ganz so leicht damit, unsere Sympathien so zu verteilen, wie wir das unwillkürlich erst einmal zu tun geneigt waren.
Der Zuhälter wird am Ende von Gott gerecht gesprochen, das anständige Gemeindeglied nicht. Ja, hoffentlich regt euch das auf, hoffentlich leuchtet euch das nicht ein, hoffentlich lässt euch das noch einmal neu nach dem „Warum?“ fragen. Ja, hoffentlich, denn in diesem Gleichnis geht es doch um die wichtigste, die entscheidende Frage unseres Lebens überhaupt: Ob wir vor Gott in seinem Gericht einmal bestehen werden. Und dass da der Zuhälter bei Gott besser wegkommt als der Fromme – das sollte uns denn doch nachdenklich werden lassen. Ja, woran liegt das? Gleich drei verschiedene Lebenseinstellungen stellt uns Jesus hier in diesem kurzen Gleichnis vor Augen, drei Lebenseinstellungen, die auch für uns heute noch hochaktuell sind. Ja, was macht dein Leben aus:

- deine Leistungen?
- der Vergleich mit anderen?
- oder Gottes Urteil über dich?

I.

Schwestern und Brüder, ich wiederhole es noch einmal: Der Pharisäer wird hier in diesem Gleichnis nicht als Heuchler geschildert. Im Gegenteil: Alles, was er hier von sich beschreibt, ist gut und richtig und erfreulich, geradezu nachahmenswert, keine Frage. Schwierig ist nur, dass der Pharisäer sich mit all dem, was er da an Gutem und Richtigem tut, gleichsam selbst definiert, damit gleichsam sein Verhältnis zu Gott bestimmt: Ich stehe vor Gott als einer, der dies und dies und dies an Gutem getan hat und tut. Was ihn ausmacht, sind seine Leistungen, die sicher aus ehrlichem, frommem Herzen vollbracht worden sind – aber es sind eben seine Leistungen. Und das prägt die Lebenseinstellung, das Selbstverständnis dieses Pharisäers so sehr, dass sein Gebet, das er da im Tempel an Gott richtet, letztlich eigentlich kaum noch ein richtiges Gebet ist: „Ich, ich, ich“ – die ganze Zeit redet der Pharisäer von sich selbst, erwartet offenbar auch gar keine Antwort von Gott mehr, weil er sie sich schon selber gegeben hat: Ich stehe richtig vor dir da, lieber Gott, das brauchst du mir gar nicht erst noch zu bestätigen, das weiß ich sowieso. Der feierliche Dank an Gott ist letztlich nur eine Form der Selbstbestätigung.
Schwestern und Brüder, ich gehe mal davon aus, dass eure Gebete anders aussehen als die des Pharisäers, dass ihr in euren Gebeten nicht nur um euch kreist, um das, was ihr getan und geschafft habt. Doch diese Grundeinstellung, dass mich letztlich das ausmacht, was ich zu leisten vermag, die bestimmt heutzutage so sehr das Leben in unserer Gesellschaft, dass wir uns auch als Christen davon oftmals nur schwer freizumachen vermögen. Ja, gemessen werden wir Menschen heutzutage immer mehr an unserem Leistungsvermögen: Wer da etwas vorzuweisen hat, dem winkt eine entsprechende Bonuszahlung; wer nicht genügend zu leisten vermag, der ist eigentlich nichts wert, stellt eigentlich nur eine Belastung für die Gesellschaft dar: Behinderte, ältere Menschen, psychisch Kranke, Pflegefälle zum Beispiel. Arbeitslosen macht ihre Arbeitslosigkeit nicht bloß deshalb zu schaffen, weil sie weniger verdienen und es langweilig ist, zu Hause herumzusitzen. Nein, durch Arbeit wird doch letztlich der Wert eines Menschen bestimmt. Und ohne Arbeit bin ich entsprechend wertlos. Ja, dieses Denken werden wir auch als Christen nicht so einfach los, können uns vielleicht mitunter dann doch nicht so ganz des Gedankens erwehren, dass der liebe Gott mit uns wohl doch ganz zufrieden sein müsste, wenn er sieht, wie sehr wir uns für ihn und seine Kirche einsetzen. Ja, natürlich tun wir das alles aus Dankbarkeit Gott gegenüber, aus dem Glauben an ihn, aber wir tun’s eben, tun, was andere nicht tun. Und das müsste doch eigentlich auch der liebe Gott wahrnehmen und anerkennen.

II.

Aber damit sind wir nun auch schon gleich beim Zweiten gelandet, was die Lebens- und Gebetseinstellung des Pharisäers kennzeichnet: Er begnügt sich ja nicht damit, darzustellen, was er alles in seinem Leben an Gutem tut, er vergleicht sich zudem auch mit anderen, besonders gerne natürlich mit dem Zöllner als abschreckendem Beispiel, weil seine guten Taten auf dem dunklen Hintergrund dessen, was der Zöllner zu bieten beziehungsweise nicht zu bieten hat, natürlich um so heller strahlen: Ich danke dir, dass ich nicht bin wie die andern Leute.
Ja, sich mit anderen Menschen zu vergleichen, die man für schlechter hält als sich selber, das tut unheimlich gut, das empfinden wir mitunter als einen wichtigen Beitrag zur Psychohygiene. Wir müssen die Geschichte ja nicht unbedingt im Gebet abmachen. Lautes Beten, wie es damals im Tempel üblich war, ist heute ja nicht mehr so verbreitet. Aber über andere hinter ihrem Rücken herzuziehen, Schwächen anderer aufzudecken und sich genüsslich über sie zu empören – das ist doch einfach wohltuend. Das bestätigt einem doch, dass man selber doch eigentlich ganz ordentlich dasteht – vor den anderen Menschen und damit natürlich auch vor Gott.
Ach, Schwestern und Brüder, wie weit verbreitet ist diese Lebenseinstellung, sich selber durch den Vergleich mit anderen Menschen zu bestimmen. Je nach Gemütslage führt das dann entweder zum Hochmut oder in die Verzweiflung: Entweder lasse ich mir dadurch bestätigen, dass ich doch gar kein so übler Mensch bin, oder aber ich stelle fest, dass alle anderen ja viel besser sind als ich und ich nichts tauge.
Und letztlich steht hinter diesem ganzen Messen und Vergleichen ja die durchaus richtige Ahnung, dass wir am Ende mal vor Gott antreten müssen und der uns nach unserem Leben fragt. Doch genau dem meinen wir allen Ernstes mit unserem Vergleichen begegnen zu können, glauben bewusst oder unterbewusst allen Ernstes, dass es da bei Gott am Ende so ähnlich zugeht wie bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in dieser Woche hier in Berlin: Hauptsache, ich bin schneller als einige andere, dann reicht es für die Qualifikation für die nächste Runde.
Doch Gott lässt sich auch von diesem Versuch des Pharisäers, sein Verhältnis zu ihm, Gott, zu bestimmen, nicht beeindrucken, im Gegenteil: Wenn der Pharisäer sich mit anderen vergleicht, dann findet Gott das gar nicht witzig, dass er mit einem Mal den Pharisäer auf seinem Richterstuhl sitzen sieht, den doch er, Gott, allein sich als Sitzmöbel vorbehalten hat. Und vor ihm stehen wir deshalb keinen Deut besser da, nur weil es möglicherweise noch andere geben sollte, die in seinen Augen noch schlechter dastehen. Gott nimmt nicht bestimmte Quoten in den Himmel auf, er nimmt sich jeden einzeln vor, ganz für sich.

III.

Und damit sind wir schon bei dem Zöllner, dem Zuhälter, hier in unserer Geschichte. Der versucht erst gar nicht, Gott mit irgendetwas aus seinem Leben zu beeindrucken. Vorweisen könnte er höchstens sein Geld, das er auf schmutzige Weise erwirtschaftet hat; aber dass er damit bei Gott keine Punkte sammeln kann, das ist ihm ohnehin klar. Und er versucht auch gar nicht erst, sich mit anderen zu vergleichen, weil er gleich weiß, dass er dabei nicht gut wegkäme, dass er damit nichts gewinnen könnte. Nur eines ist ihm klar, nur eines bringt er zum Ausdruck: Ich kann nichts vorweisen, was mich rettet, ich kann kein funktionierendes Verhältnis zu Gott aufbauen. Ganz von ferne bleibt er stehen; weiter als bis in den Vorhof der Heiden ließ man ihn im Tempel ohnehin nicht. Nein, er wagt es noch nicht einmal, bei seinem Gebet nach oben zu blicken, wie dies damals übliche Gebetspraxis war, und ein langes Gebet kommt ihm auch nicht über die Lippen. Nur der eine Satz: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Sünder – nein, das war damals kein belangloser theologischer Fachausdruck, sondern das war ein übles Schimpfwort: Gott, sei mir Dreckschwein gnädig, so könnte man vielleicht besser übersetzen, und noch genauer könnte man formulieren: Lass dich versöhnen zugunsten von mir, dem Dreckschwein! Als der Zöllner die Worte spricht, wird im Tempel gerade das Opfer dargebracht zur Sühne für die Sünden des Volkes. Auf dieses Opfer setzt der Zöllner seine ganze Hoffnung, weil er weiß: Er selber kann da nichts in Ordnung bringen. Ganz und gar liefert er sich Gott und seinem Urteil aus, lässt Gott ganz und gar über sein Leben bestimmen – in der Hoffnung, dass Gott nicht auf das sieht, was er ist und tut, sondern auf dieses Opfer schaut.
Und genau so und nicht anders stehen wir vor Gott richtig da: Dass wir uns nicht aufgrund dessen bestimmen, was wir tun und leisten, dass wir uns nicht mit anderen vergleichen, sondern allein vertrauen auf das eine Opfer des Lammes, das die Sünden der Welt trägt, dass wir allein vertrauen auf ihn, Christus, und seinen Tod am Kreuz. Mit ganz leeren Händen stehen wir vor ihm, Gott, mit Händen, die wir nur noch dafür gebrauchen können, uns vor die Brust zu schlagen und unsere Schuld zu bekennen. Und dann dürfen wir auch heute hier im Gottesdienst wieder neu dies Wunder erfahren, dass wir als Gerechtfertigte dieses Kirchgebäude verlassen, als Menschen, die von Gott als gerecht, als richtig in seinen Augen beurteilt werden – weil er für sie gelten lässt, was Christus für sie am Kreuz erworben hat. Genau dieses Urteil, dass du gerecht bist, hast du eben schon wieder vernommen in der Beichte, und genau dieses Urteil ergeht gleich noch einmal über dich, wenn du ihn, Christus, das Lamm Gottes, selber empfängst mit seinem Leib und Blut im Heiligen Mahl. Und dann darfst du wieder nach Hause zurückkehren in deinen Alltag, in dem du auch in so manchem verstrickt sein magst, aus dem du ohne Sünde und Schuld nicht herauskommt, wie damals der Zöllner auch. Dann darfst du wieder nach Hause zurückkehren in deinen Alltag und darfst dennoch ganz getrost sein: Gott ist mir gnädig, trotz meiner Schuld, trotz meines Versagens; er hat es mir zugesagt, und darauf darf ich mich verlassen. Damit lässt sich es sich als Christ in der Tat gut leben – ja, auch fünfzig Jahre in einer Ehe, und sogar noch länger! Amen.