01.11.2009 | St. Matthäus 5, 1-12 (Gedenktag der Heiligen)

GEDENKTAG DER HEILIGEN – 1. NOVEMBER 2009 – PREDIGT ÜBER ST. MATTHÄUS 5,1-12

Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.

Was fällt euch ein, wenn ihr an das Innere eines orthodoxen Kirchgebäudes denkt? Mit als erstes fallen den meisten von uns wohl die Ikonen ein, die sich in einem orthodoxen Kirchgebäude in der Ikonostase vor dem Altar, aber oft auch darüber hinaus auch an den Wänden der Kirche befinden. Ja, in manchen orthodoxen Kirchen sind die Wände von oben bis unten mit Darstellungen der Heiligen bemalt, dass man geradezu einen räumlichen Eindruck davon bekommen kann, was es heißt, dass wir von einer Wolke der Zeugen umgeben sind, wie es im Hebräerbrief heißt.
Lutherische Kirchen, ja Kirchen in der westlichen Tradition insgesamt sind in aller Regel etwas nüchterner gestaltet, auch wenn es, etwa im Barock, ebenfalls Zeiten in der Kirchengeschichte gegeben hat, in denen auch lutherische Kirchgebäude ähnlich üppig ausgestaltet wurden, wie dies in vielen orthodoxen Kirchen der Fall ist. Doch es kommt nicht auf Epochen der Kunstgeschichte, nicht auf besondere Formen des religiösen Empfindens an. Denn auch, wenn unser Auge in unserer St. Marienkirche in besonderer Weise auf den gekreuzigten Christus gelenkt wird, gilt doch auch für unsere Gottesdienste, nicht anders als für die orthodoxen Gottesdienste, dass auch wir in ihnen von der Wolke der Zeugen, von allen Heiligen umgeben sind. Ja, auch als lutherische Christen dürfen wir dankbar für die Heiligen sein, tun wir gut daran, ihrer zu gedenken, das ganze Kirchenjahr über, aber in besonderer Weise am heutigen Gedenktag der Heiligen.
Warum sind die Heiligen auch für uns als lutherische Christen wichtig, warum haben sie auch für unseren Glauben eine Bedeutung? Nein, sie sind nicht wichtig, weil sie etwa Mittler wären zwischen Christus und uns, als ob es da eine Kluft gäbe zwischen Christus und uns, die von den Heiligen überbrückt werden müsste. Und die Heiligen sind auch nicht wichtig, weil sie etwa die Adressaten unserer Gebete wären, weil wir es nicht wagen könnten, unsere Gebete direkt an Gott, direkt an Christus zu richten. Gewiss, wir gehören mit den Heiligen im Himmel gemeinsam zu der einen Kirche; auch der Tod kann diese Gemeinschaft mit den Heiligen nicht hindern oder auflösen. Gemeinsam mit ihnen beten wir zu Gott, beten wir zu Christus, ganz gewiss. Aber dass wir sie anrufen sollen oder können, davon steht nichts in der Heiligen Schrift, und darum sollten auch wir uns dabei zurückhalten. Und erst recht sind die Heiligen für uns nicht wichtig, weil sie so viele gute Werke getan hätten, dass sie uns ein paar davon abgeben und damit unsere Zeit im Fegefeuer verkürzen könnten. O nein, keinen Menschen auf Erden gibt es, der gleichsam sein Soll an guten Werken übererfüllt hätte wie früher in der DDR der Bergmann Adolf Hennecke, der an einem Tag seine Norm zu 387 Prozent übererfüllte und fortan als großes Vorbild für die werktätige Bevölkerung diente. Im Gegenteil: Keinen Heiligen, keine Heilige gibt es, die nicht ganz und gar auf die Gnade und Vergebung ihres Herrn Jesus Christus angewiesen gewesen wären. Doch genau damit, Schwestern und Brüder, sind wir nun schon mitten drin im Heiligen Evangelium dieses Festtags. Denn da stellt uns Christus selber vor Augen, was für eine Hilfe für unseren Glauben die Heiligen sein können, ja, warum es gut ist, ihrer zu gedenken:

- Sie bewahren uns vor Leistungsdruck.
- Sie machen uns Mut zum Glauben.
- Sie lenken unseren Blick auf das Ziel.

I.

Im Heiligen Evangelium dieses Festtags werden wir Zeugen einer großen Heiligsprechungsaktion. Sie wird von keinem Geringeren als von Jesus selber vorgenommen, und diejenigen, die von ihm hier heiliggesprochen werden, die sind noch längst nicht tot, sondern versammeln sich quietschlebendig in großen Scharen am Hang eines Berges am See Genezareth. Nein, um heilig zu werden, muss ich nicht erst sterben, jedenfalls nicht leiblich sterben. „Heilig“ heißt ja so viel wie „zu Gott gehörend“. Und heilig wird man dadurch, dass Christus selber erklärt: Du gehörst zu Gott, du darfst für immer in seiner Gemeinschaft leben. Und so bist auch du schon heiliggesprochen worden in deiner heiligen Taufe. Ja, lauter Heilige habe ich heute Morgen hier vor mir sitzen, lauter Heilige, die sich diesen Ehrentitel nicht unbedingt dadurch verdient haben, dass sie solch ein beeindruckend vorbildliches Leben geführt hätten oder noch führen würden.
Genau das machte Jesus damals auch mit den Leuten, die da an jenem Berg am See Genezareth vor ihm standen: Er nahm sie auf ins Reich Gottes – nicht, nachdem sie einen Leistungstest abgelegt und bestanden hatten, auch keine Prüfung ihrer Glaubensfestigkeit. Nein, nur eines qualifiziert diese Leute, die Jesus hier anredet, als Heilige: Dass sie mit ganz leeren Händen vor ihm stehen, dass sie Gott nichts, aber auch gar nichts zu bieten haben, womit sie ihn beeindrucken könnten. „Selig sind die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich“ – so nimmt Jesus seine Heiligsprechung vor.
Heilig geworden bist auch du, ohne dass du dazu irgendetwas beigetragen hättest, heilig geworden bist auch du, weil Gott dich in der Taufe zu seinem Kind gemacht hat, bevor du ihm auch nur irgendetwas bieten konntest. Und daran wird sich auch bis zum Ende deines Lebens nichts ändern. Was am Ende deines Lebens zählen wird, ist nicht eine Summe von Punkten, die du dir mit deinen guten Werken im Laufe des Lebens angesammelt hast. Sondern auch am Ende deines Lebens wird einzig und allein zählen, dass du ganz arm, mit ganz leeren Händen vor ihm, deinem Herrn, stehst und von niemand anders als von Christus erwartest, dass er dir deine leeren Hände füllt.
Genau das ist es, was wir in unserem Leben als Christen immer und immer wieder einüben sollen und dürfen, uns so ganz und gar von Christus beschenken zu lassen, von uns selber nichts und von ihm alles zu erwarten. Und genau dazu können uns nun die Heiligen, die uns im Glauben schon vorangegangen sind, eine wichtige Hilfe sein.
Bei unserer ersten Vorkonfirmandenfreizeit besuchen wir jedes Mal in Görlitz die Peterskirche. In dieser Kirche finden sich wunderschöne lutherische Beichtstühle aus dem 18. Jahrhundert mit wunderbaren Heiligendarstellungen: Da sieht man den Petrus mit dem Hahn, wie er Jesus gerade verleugnet hat, da sieht man David nach seinem Ehebruch mit Bathseba und den Verlorenen Sohn. Mutmacher sollten diese Heiligen für die Gemeindeglieder sein, die zur Beichte kamen, um Gott ihre Sünden zu bekennen: Schaut euch diese Heiligen an; die waren auch nicht besser als ihr – aber sie haben Gottes Vergebung empfangen. Kommt darum her, glaubt nicht, ihr seid in Gottes Augen zu schlecht, habt nicht genug getan, um in den Himmel zu kommen. Nein, was zählt, ist einzig und allein Gottes Vergebung, ist allein Gottes Wort, das euch immer wieder von Neuem zu Heiligen erklärt.
Ja, vom Leistungsdruck entlasten wollen uns die Heiligen, von der irren Vorstellung, ich müsste etwas leisten, etwas Eigenes Gott vorweisen, um in den Himmel gelassen zu werden. Petrus, David und die anderen Heiligen belehren uns eines Besseren.

II.

Nein, Heiliger zu sein oder zu werden ist keine besondere Karrierestufe in der Kirche, ist ein Gnadengeschenk, das gerade denen gilt, die nichts vorzuweisen haben. Doch gerade wenn uns das klar ist, dürfen wir uns dann auch bestimmte Menschen als Vorbilder dienen lassen, als Vorbilder, die uns Mut machen zum Glauben, zum Leben als Christ.
Die Leute, die Jesus hier im Heiligen Evangelium in das Reich Gottes aufnimmt, sie zu Heiligen erklärt, repräsentieren so ziemlich genau das Gegenteil dessen, was Menschen heutzutage in unserer Gesellschaft anzustreben pflegen: Nicht Armut ist angesagt, sondern Reichtum, nicht Leid und Traurigkeit, sondern Spaß und Vergnügen, nicht Sanftmut, sondern geschickter Einsatz des Ellenbogens, nicht Barmherzigkeit, sondern Cleverness, nicht Lebenshingabe, sondern Lebenserhalt um jeden Preis.
Noch einmal, Schwestern und Brüder: Christus präsentiert hier keinen Forderungskatalog, den man erfüllen muss, um ins Reich Gottes zu kommen, sondern er tröstet die, die nicht so recht in diese Welt zu passen scheinen: Nicht ihr seid verkehrt, sondern die, die sich für das Maß aller Dinge halten mögen. Nicht ihr seid verkehrt, weil ihr merkt, dass in eurem Leben und in dieser Welt vieles so ganz anders ist, als es sein sollte, sondern die sind verkehrt, die das nicht merken, immer nur mit dem Strom schwimmen, sich immer an dem orientieren, was die anderen auch tun und was ihnen selber Vorteile verschafft.
Ja, Christus nimmt hier Menschen in seine Gemeinschaft auf und prägt sie damit, prägt sie mit seiner Art, lässt sie anders leben, als wenn sie ihr Leben ohne ihn führen würden. Ja, so hat er auch uns in seine Gemeinschaft aufgenommen, und die Heiligen, die uns vorangegangen sind, die können uns Mut machen, genau solch ein alternatives Leben zu führen, gegen den Strom zu schwimmen, uns nicht an der Masse zu orientieren. Ja, Mutmacher sind die Heiligen, und eben darum sollen und dürfen wir Gott immer wieder dafür danken, dass er sie uns als Vorbilder gegeben hat, dass wir unser Leben in ihrer Gemeinschaft führen dürfen.
Drei solcher Heiligen will ich euch hier beispielhaft kurz nennen:
Da besuchen wir jedes Mal auf einer unserer Konfirmandenfahrten das KZ Buchenwald. In dem Todesbunker dort war damals unter anderem auch ein evangelischer Pfarrer namens Paul Schneider inhaftiert, der im Dritten Reich unerschrocken das Wort Gottes verkündigt hatte und damit immer wieder in Konflikt mit den Nationalsozialisten geraten war. Selbst dort aus dem Todesbunker heraus verkündigte Paul Schneider am Ostermorgen über den gesamten Appellplatz hinweg vor Tausenden von Häftlingen die Worte Jesu: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“. Weiter kam er nicht; er wurde von den Wärtern zusammengeschlagen und bald darauf, im Juli vor genau 70 Jahren, ermordet. Da hatte einer den Mut, das Evangelium selbst unter schwierigsten Bedingungen zu verkündigen, sich weder von Zeitgeistströmungen noch von körperlicher Misshandlung davon abhalten zu lassen, die Wahrheit in Person, ihn, Jesus Christus, zu bezeugen. Ja, ein Mutmacher ist er auch für uns, zu unserem Glauben zu stehen, ihn nicht zu verleugnen, wo wir es doch so viel einfacher haben als Paul Schneider damals.
Als zweites Beispiel möchte ich euch 49 Christen nennen, die im Jahr 304 in einem kleinen Dorf namens Abitene im heutigen Tunesien sonntags zum Gottesdienst zusammenkamen. Es war die Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian, und es war den Christen unter Androhung der Todesstrafe verboten, sich zum Gottesdienst zu versammeln. Die 49 Christen wurden dabei erwischt, wie sie gerade das Heilige Abendmahl feierten. Als man sie im Verhör fragte, warum sie sich entgegen dem kaiserlichen Verbot zum Gottesdienst versammelt hätten, antwortete einer von ihnen: „Sine dominico non possumus“ – Ohne den Sonntag können wir nicht leben. Die 49 Christen wurden schließlich nach grausamer Folter alle miteinander getötet. Ohne den Sonntag können wir nicht leben – was für Mutmacher sind diese 49 Christen auch für uns, wenn wir uns die Frage stellen, wie wir denn unsere Sonntage gestalten sollen! Nein, diese 49 Christen waren nicht blöd oder naiv; sie hatten im Gegenteil klar erkannt, was wir in unserem Leben als Christen immer wieder erst von Neuem entdecken müssen und dürfen.
Und als drittes Beispiel möchte ich euch schließlich noch Mutter Teresa nennen. Vor einigen Jahren wurden ihre Tagebücher veröffentlicht, aus denen hervorging, wie tief ihre Glaubenszweifel waren, wie wenig sie selber von dem spürte, was sie offenkundig nach außen ausstrahlte. Ja, solch einen Menschen, der selber gar nicht mehr wusste, ob er überhaupt noch glaubte, gebrauchte Christus als Werkzeug seines Friedens und seiner Liebe. Ob sie sich nicht ekle, leprakranke Menschen anzufassen, wurde Mutter Teresa einmal gefragt. „Wieso“, antwortete sie, „in diesen kranken Menschen berühre ich doch Christus selber. Ist das nicht wunderbar?“ Ja, was für eine Mutmacherin ist Mutter Teresa damit auch für uns, in den ärmsten und geringsten Brüdern und Schwestern immer wieder Christus selber zu erkennen, wahrzunehmen, dass wir in unserem Dienst an ihnen letztlich Christus selber dienen!
Nein, keiner dieser Heiligen, die ich eben genannt habe, hat sich mit seinen guten Werken, mit seiner Glaubensstärke, mit seiner Liebe den Himmel verdient. „Gnade widerfahren“ ist ihnen, so formuliert es das Augsburger Bekenntnis in seinem Artikel über die Heiligenverehrung. Aber gerade so können eben auch uns diese und die vielen anderen Heiligen eine wichtige Hilfe für unseren Glauben sein.

III.

Große Versprechen macht Jesus hier in den Seligpreisungen, Versprechen, die alle Möglichkeiten der Erfüllung in diesem irdischen Leben bei weitem übersteigen. Nicht weniger als den Himmel verspricht Jesus den geistlich Armen, denen, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. Unvergänglichen Trost verspricht er den Leidtragenden, ja, die Schau Gottes denen, die reinen Herzens sind.
Auf das Ziel lenkt er damit unseren Blick, auf das Ziel, an dem diejenigen schon angekommen sind, die uns im Glauben vorangegangen sind. Ja, an ihnen hat Christus schon erfüllt, was er damals in der Bergpredigt versprochen hat. Sie stehen nun schon vor Gott, dürfen ihn schauen, haben teil an seinem unvergänglichen Leben, werden nun in alle Ewigkeit getröstet, singen nun für immer das Lob seines Namens. Ja, Mut machen uns damit die Heiligen, Mut dazu, durchzuhalten im Glauben, nicht aufzugeben, nicht den Blick vom Ziel unseres Lebens abzuwenden. Es lohnt sich, dranzubleiben, bei Christus zu bleiben, so rufen sie es uns vom Ziel her zu. Gebt bloß nicht auf, bleibt dabei, lasst euch nicht irritieren von Anfeindungen von außen und nicht von eurer eigenen Schwachheit. Gott hat uns ans Ziel geführt, und er wird es auch bei euch tun.
Ja, vom Ziel her rufen uns dies die Heiligen zu – und sie kommen uns zugleich doch immer wieder jetzt schon so nahe bei jeder Feier des Heiligen Mahles. Da werden Himmel und Erde jetzt schon eins, da stimmen wir gemeinsam mit allen Heiligen jetzt schon ein in den nie mehr endenden Lobgesang vor Gottes Thron, da reicht der Tisch des Heiligen Mahles durch die Wand des Todes hindurch bis zum großen Freudenmahl im Reich Gottes. Nein, wir gehen unseren Weg zum Ziel nicht einsam und allein; wir sind umgeben von allen Heiligen – von denen, die sichtbar mit uns hier in der Kirchenbank sitzen, und von denen, die Christus nun schon vollendet hat. „Seid fröhlich und getrost“ – so rief es Christus damals denen zu, die um seines Namens willen verfolgt wurden. „Seid fröhlich und getrost“ – so ruft er es auch uns zu. Ihr sitzt nicht auf dem falschen Dampfer, auch wenn das manchmal von außen so aussehen mag. Ihr seid auf dem richtigen Schiff, und das wird euch einmal nach Hause bringen, ins Himmelreich – dorthin, wo sie schon auf euch warten: Paul Schneider, Mutter Teresa, die Märtyrer von Abitene, David, Petrus, Maria, die Mutter Gottes, und unzählige andere auch. Wenn das kein Grund zur Vorfreude ist! Amen.