25.12.2009 | Titus 3, 4-7 (Heiliges Christfest)

HEILIGES CHRISTFEST – 25. DEZEMBER 2009 – PREDIGT ÜBER TITUS 3,4-7

Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig - nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit - durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.

Am 6. Januar startet im Fernsehsender RTL die dritte Staffel der Doku-Soap „Die Ausreißer – Der Weg zurück“. In dieser Reality Show wird die Arbeit des Streetworkers Thomas Sonnenburg geschildert, der sich um Jugendliche kümmert, die von Zuhause abgehauen sind, auf der Straße leben und für sich selber zumeist auch eigentlich gar keine Lebensperspektive mehr sehen. Gewiss mag man geteilter Meinung darüber sein, ob solche Doku-Soaps im Fernsehen wirklich hilfreich sind. Nicht zu bestreiten ist jedoch, dass die Arbeit von Streetworkern äußerst hilfreich ist, dass es unglaublich wichtig ist, dass es Menschen gibt, die sich um Jugendliche kümmern, die von fast allen schon als hoffnungslose Fälle abgeschrieben sind.
In der Epistel des heutigen Festtags wird auch die Arbeit eines Streetworkers geschildert, eines Streetworkers der ganz besonderen Art. Denn dieser Streetworker ist kein Geringerer als Gott selber. Und der hat es sich, so schildert es uns der Apostel Paulus hier, allen Ernstes zu seiner Lebensaufgabe gemacht, sich um hoffnungslose Fälle zu kümmern und ihnen eine neue Lebensperspektive zu bieten. Doch wer sind nun diese hoffnungslosen Fälle, um die sich dieser Streetworker kümmert? Nein, es sind eben nicht bloß irgendwelche verhaltensauffälligen Jugendlichen, nicht bloß irgendwelche Drogensüchtigen und Alkoholkranke – ja, auch für die ist allerdings dieser himmlische Streetworker da. Doch der Apostel Paulus macht uns hier in seinem Brief an Titus dies eine ganz deutlich: Diese hoffnungslosen Fälle, die seid, beziehungsweise: die wart auch ihr. Wenn dieser Streetworker nicht zu euch gekommen wäre, wenn der euch eurem Schicksal überlassen hätte, dann wärt ihr am Ende eures Lebens in der Gosse gelandet – dann hätte euer Leben im ewigen Tod sein Ende gefunden. Drastisch formuliert der Apostel in dem Vers, der unserer Predigtlesung unmittelbar vorangeht, hier die Vergangenheit, auf die die Christen damals zurückblicken konnten: Auch wir waren früher unverständig, ungehorsam, gingen in die Irre, waren mancherlei Begierden und Gelüsten dienstbar und lebten in Bosheit und Neid, waren verhasst und hassten uns untereinander. Ja, kein Wunder, dass da dringend ein Streetworker ran musste. Nun mögen wir uns in dieser Schilderung selber nicht unbedingt gleich wiedererkennen, selbst wenn wir möglicherweise eine etwas wildere Jugend hinter uns haben, aus der wir dann aber in aller Regel auch ohne Streetworker wieder herausgekommen sind. Nein, wir müssen uns in dem, was der Apostel Paulus hier schildert, nicht unbedingt biographisch wiedererkennen. Doch Paulus lässt uns hier gleichsam einen Blick in den Abgrund werfen, zeigt uns, wie gut wir es haben, dass uns unser himmlischer Streetworker tatsächlich rechtzeitig erreicht hat. Was macht ein guter Streetworker eigentlich in seiner Arbeit mit seinen scheinbar hoffnungslosen Fällen? Eben genau das, was St. Paulus hier auch von Gott selber schildert:

- Er verkehrt mit ihnen auf Augenhöhe
- Er bietet ihnen wirksame Hilfe
- Er eröffnet ihnen eine neue Lebensperspektive

I.

Eigentlich hätte Gott sich diese Arbeit als Streetworker auch ersparen können. Schließlich hatten wir Menschen uns selber in diese Lage bugsiert, in der wir uns befanden: Abgehauen war wir von Zuhause, von Gott, hatten allen Ernstes geglaubt, draußen, weit weg von ihm, die große Freiheit zu finden. Doch was uns da draußen erwartete, war in Wirklichkeit nur ein Leben mit sehr begrenzter Perspektive, ein Leben, dessen Horizont nicht weiter reichte als bis zum Tod, ein Leben, das letztlich nicht sehr viel Hoffnung in sich schloss. Ja, eigentlich hätte Gott sich das ersparen können, hinter uns herzurennen. Er hat genug Engel um sich herum, um eine ganze Ewigkeit lang mit ihnen fröhlich zu feiern. Doch stattdessen fängt er allen Ernstes an, sich als Streetworker für uns zu engagieren. Und das heißt ja zunächst einmal: Er gibt uns offenkundig nicht auf; wir sind für ihn keine hoffnungslosen Fälle. Da lässt sich bei uns Menschen noch was retten, davon ist Gott ganz fest überzeugt.
Um uns scheinbar hoffnungslose Fälle zu retten, musste Gott allerdings mehr tun, als einfach bloß uns ein paar Benimmregeln zukommen zu lassen, musste mehr tun, als uns einfach bloß aus sicherer Distanz von oben herab darüber zu belehren, wie wir es schaffen können, uns zu bessern. Das haut nicht hin, das braucht er noch nicht mal zu versuchen.
Nein, was einen guten Streetworker ausmacht, ist zunächst einmal Menschenliebe, ja, Menschenliebe, die gerade auch den Menschen gilt, die sich diese Liebe nun wahrlich nicht mit ihrem Verhalten verdient haben. Und zu dieser Menschenliebe gehört eben auch, dass man zu den Menschen selber hingeht, sich auf ihr Schicksal einlässt, mit ihnen auf Augenhöhe verkehrt.
Vor ein paar Tagen hat Prinz William in England mal eine Nacht als Penner draußen auf der Straße verbracht, ganz inkognito natürlich. Prinz William setzt sich für das Schicksal von Obdachlosen ein, und so wollte er einfach mal erfahren, wie das so ist, in einer kalten Winternacht mal draußen zu liegen, nicht in einem weichen Bett, sondern einfach irgendwo in einem Hauseingang. Das war sicherlich ein sehr respektables Zeichen, das er da gesetzt hat, und er war zugleich auch ehrlich genug, um nach dieser einen Nacht zu gestehen, dass er sich immer noch nicht vorstellen könne, wie man solch ein Leben auf der Straße auf Dauer überhaupt führen und bestehen könne. Aber nach dieser einen Nacht war der Ausflug ins Pennermilieu für ihn schon wieder vorbei. Er kehrte wieder in seinen Palast zurück, wird künftig mit Obdachlosen wohl zumeist höchstens bei irgendwelchen Wohltätigkeitsveranstaltungen zu tun bekommen. Gott hat als Streetworker mehr gemacht, als bloß mal eine Nacht hier auf Erden zu verbringen. Nein, diese eine besondere Nacht, die wir nun gerade vor einigen Stunden zu feiern angefangen haben, diese Weihnacht, in der Gott selber als Mensch geboren wurde, war nur der Anfang eines Weges, auf dem Gott auf Augenhöhe mit uns Menschen blieb, alles durchmachte, was Menschen in ihrem Leben so durchmachen müssen: Armut, Obdachlosigkeit, Flucht, ein Leben als Asylbewerber, Anfeindungen, schließlich Verhaftung, Folter und Tod. Nein, das war kein Abenteuerurlaub, den Gott hier auf Erden veranstaltet hat, das war bitterer Ernst. So wichtig sind wir Menschen ihm, dass er sein Zuhause ganz aufgegeben hat, ganz zu uns Menschen gezogen ist, nein, nicht um uns zu besseren Menschen zu machen, sondern um uns zu retten, zu retten vor dem ewigen Tod, vor einem Leben ewiger Perspektivlosigkeit und ewiger Lieblosigkeit. „Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes, machte er uns selig“, so übersetzt Martin Luther hier diese unfassliche Geschichte von Gottes Einsatz als Streetworker.
Auf Augenhöhe hat Gott mit uns verkehrt, verkehrt so mit uns hoffnungslosen Fällen bis heute. Und dazu zählt, dass er uns niemals auf das festnagelt, was wir getan haben, dass er seine Liebe zu uns nicht von unseren Leistungen, nicht von unseren guten Werken abhängig macht, nicht davon, dass wir immer brav und anständig waren. Ja, gerettet hat er uns, so betont es St. Paulus hier, nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten. Und genauso geht er auch weiter mit uns um. Ein guter Streetworker schreibt auch dann Jugendliche nicht ab, wenn sie ihn das erste und das zweite und das dritte Mal enttäuscht haben. Gottes Geduld mit uns reicht sogar noch viel weiter: Er weiß, dass wir unser ganzes Leben lang immer und immer wieder rückfällig werden, immer wieder die Hoffnungen enttäuschen, die er in uns setzt. Und doch rennt er auch weiter hinter uns her, macht auch weiter sein Verhältnis zu uns nicht abhängig von den Werken der Gerechtigkeit, die wir getan haben. Mensch, Schwestern und Brüder, ahnt ihr überhaupt, was für ein Glück wir mit diesem Streetworker haben? Ahnt ihr überhaupt, wie viel Grund wir von daher haben, wirklich fröhlich Weihnachten zu feiern, den Tag, an dem Gott mit seiner Arbeit als Streetworker bei uns begonnen hat?

II.

Menschenliebe, die Bereitschaft, sich ganz auf Augenhöhe mit den hoffnungslosen Fällen zu begeben – das ist die Grundlage für die Arbeit eines Streetworkers. Doch natürlich ist ein Streetworker nicht einfach bloß nett zu den Menschen, mit denen er zusammen ist, sondern er bietet ihnen auch wirksame Hilfe: Er hilft den Jugendlichen bei Behördengängen, gibt ihnen Tipps, schickt sie, wenn es sein muss, auch erst mal zum Arzt. Und es gibt nicht wenige Fälle, bei denen es einem Streetworker gelingt, schon allein mit solchen Maßnahmen Jugendliche wieder auf die Bahn zu bringen, damit sie ihr Leben wieder selbständig in den Griff bekommen.
Im alltäglichen Leben mag so etwas immer wieder möglich sein. Doch Gott, unser Streetworker, sieht, dass er mit solchen Maßnahmen bei uns, den wirklich hoffnungslosen Fällen, nicht weiterkommt. Ein paar Tipps, ein paar Hilfen zum Selbständigwerden, ein bisschen Liebe – nein, damit ist es nicht getan. Das allein vermag uns nicht zu retten. Die Hilfe, die Gott uns bietet, die reicht sehr viel weiter: Er veranlasst bei uns eine neue Geburt und überschüttet uns mit dem Heiligen Geist, so beschreibt es St. Paulus hier. Das heißt: Gott erkennt ganz klar, dass unsere Vorschädigung, die wir schon von Geburt an mitbringen, so heftig ist, dass da keine erzieherischen Maßnahmen was helfen. Da muss er in uns schon ein ganz neues Leben, einen ganz neuen Anfang schaffen, eben eine Wiedergeburt, damit unser Leben wieder eine Perspektive hat, damit wir eine echte Chance haben. Und genau diese Wiedergeburt, die haben wir nun in der Tat schon hinter uns; denn diese Wiedergeburt, die hat sich bei uns in unserer Taufe ereignet, so macht es uns der Apostel hier deutlich. Wiedergeburt vollzieht sich in Form eines Bades, vollzieht sich durch Wasser und den Heiligen Geist, wie Christus es selber in seinem Gespräch mit Nikodemus formuliert. Ja, wir haben allen Ernstes ein ganz neues Leben geschenkt bekommen, ein Leben, das nicht vorbelastet ist, ein Leben, das nicht mehr von unserem Zuhause bei Gott wegstrebt, sondern darauf aus ist, in seiner Gemeinschaft zu bleiben. Aber weil das alte Leben, das uns in die Gosse getrieben hätte, auch immer noch da ist, brauchen wir zugleich Gottes heiligen Geist, der uns immer wieder erneuert, der uns immer wieder die Kraft schenkt, diesen neuen Weg zu gehen, den wir aus eigener Kraft nie geschafft hätten. Nein, Gott hat bei der Gabe seines heiligen Geistes bei uns nicht gespart; reichlich hat er ihn über uns ausgegossen, so betont es der Apostel, so reichlich, dass wir nun in der Tat keine hoffnungslosen Fälle sind, dass wir nun tatsächlich eine wunderbare Lebensperspektive haben, eine Lebensperspektive, die gleich in einer doppelten Geburt gründet: in der Geburt des göttlichen Kindes im Stall von Bethlehem und in unserer neuen Geburt in der Taufe, in der es für uns ganz persönlich Weihnachten geworden ist.

III.

Und damit sind wir schon beim Dritten, was eine entscheidende Aufgabe eines Streetworkers ist uns was auch Gott, unser Streetworker bei uns geschafft hat: Ein guter Streetworker versucht, seinen Jugendlichen eine neue Lebensperspektive zu vermitteln. Und dabei spielt dann oftmals auch wieder die Familie, aus der die Jugendlichen einst abgehauen waren, eine wichtige Rolle, kann die den Jugendlichen in nicht wenigen Fällen helfen, für sich selber doch wieder eine Lebensperspektive zu erkennen.
Genau solch eine Lebensperspektive hat uns auch Gott, unser Streetworker, vermittelt. Ach, was sage ich: Die Lebensperspektive, die er uns vermittelt hat, ist noch viel großartiger als alles, was dieser Thomas Sonnenburg in seiner gewiss sehr anerkennenswerten Arbeit jemals vermitteln könnte. Ja, Familienanschluss vermittelt uns Gott zunächst einmal. Er weiß: Eigentlich gibt es für uns nur eine Familie, in der wir wirklich eine echte Lebensperspektive, eine echte Lebenschance erhalten – und diese Familie ist seine eigene. Ja, an dieser Stelle gibt Gott nun alle professionelle Zurückhaltung auf, vermischt hemmungslos Privates und Dienstliches, holt sich uns allen Ernstes in sein Haus, nein, nicht bloß vorübergehend für eine kürzere Zeit, sondern tatsächlich für unser ganzes Leben. Die Kirche, die Gemeinde, das ist die neue Familie, das ist das Zuhause, das er uns bietet. Und in diesem Zuhause will er uns nun prägen – prägen durch seine Liebe, durch seine Menschenfreundlichkeit, will uns helfen, immer wieder neu die Ressourcen zu nutzen, die er in der Taufe in uns angelegt hat. Ja, so ganz und gar, mit Haut und Haaren nimmt Gott uns in seine Familie auf, dass er uns sogar zu seinen Erben einsetzt, dass er uns allen Ernstes Anteil gibt an dem ewigen Leben in seiner Gemeinschaft. Ja, ein Ziel hat unser Leben damit, das uns keiner mehr nehmen, das uns keiner kaputtmachen kann, ein Ziel hat unser Leben damit, das uns frei macht, nicht mehr um uns, um unseren Vorteil kämpfen zu müssen. Ja, ein Ziel hat unser Leben damit, das uns hilft, ein wenig von der Menschenliebe Gottes, die wir erfahren haben, weiterzugeben an andere Menschen, ja sogar an hoffnungslose Fälle.
Schwestern und Brüder, ich weiß nicht, ob ihr gestern zu Weihnachten etwas geschenkt bekommen habt und wenn ja, was das wohl war. Aber eines weiß ich ganz gewiss: Ihr verlasst diese Kirche heute an diesem Weihnachtsfest allemal als steinreiche Leute, als Erben der reichsten Großfamilie der Welt. Ach, Schwestern und Brüder, fangt bloß nicht an, dieses Erbe zu verspielen, klinkt euch doch ja nicht aus dieser Erbengemeinschaft der Kirche aus! Ja, denkt doch gerade heute an Weihnachten daran, wie Gott, euer Streetworker, euch zu dem gemacht hat, was ihr seid: nicht länger hoffnungslose Fälle, sondern Menschen voller Hoffnung, Menschen mit der allerbesten Lebensperspektive. Ja, wie gut, dass dieser Streetworker sich auf den Weg gemacht hat zu uns! Amen.