27.12.2009 | 1. Johannes 1, 1-4 (Tag des Evangelisten St. Johannes)

TAG DES EVANGELISTEN ST. JOHANNES – 27. DEZEMBER 2009 – PREDIGT ÜBER 1. JOHANNES 1,1-4

Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens - und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist -, was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.

Zu den schönsten Aufgaben, die ich als Pastor in meinem Dienst habe, zählt für mich zweifelsohne der Besuch bei älteren Gemeindegliedern. Immer wieder spannend ist es für mich, ihnen zuzuhören, wenn sie anfangen, aus ihrem Leben zu erzählen, von Zeiten, die ich früher nur aus dem Geschichtsunterricht kannte. Ja, durch diese Zeitzeugen, denen ich bei meinen Besuchen begegne, wird diese Geschichte für mich lebendig, ist sie für mich nicht länger ein abstraktes Geschehen, sondern etwas ganz Konkretes, mich persönlich Bewegendes. Nein, kein noch so gutes Geschichtsbuch kann sie ersetzen, diese anschaulichen Berichte derer, die von Schikanen und Verfolgung im Dritten Reich betroffen waren, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs durchlitten haben, die nach Sibirien und Kasachstan verschleppt wurden oder in Arbeitslagern um das nackte Überleben kämpften, die das Kriegsende hier in Berlin miterlebten und das, was darauf folgte. Ja, wie oft habe ich bei solchen Berichten gedacht: Das müssten die eigentlich alles mal aufschreiben; das darf doch nicht einfach als Erinnerung verlorengehen, wenn diese Menschen einmal nicht mehr am Leben sind!
Und damit, Schwestern und Brüder, sind wir nun schon mitten drin in der Epistel des heutigen Tages des Apostels und Evangelisten St. Johannes. Da begegnen wir hier auch einem alten Mann, der auf Ereignisse in seinem Leben zurückblickt. Nein, er macht dies nicht abgeklärt und distanziert; sondern als er anfängt, von dem zu erzählen, was er da allen Ernstes selber erlebt hat, da überschlägt sich seine Sprache, gerät aus den Fugen, da erzählt dieser Mann mit einem Mal wie ein kleines Kind, das gerade etwas Wunderbares erlebt hat und davon so begeistert ist, dass es das Erlebte nur schwer in zusammenhängende Sätze zu packen vermag. Einem Zeitzeugen begegnen wir hier, der uns das, worum es im christlichen Glauben geht, viel direkter, viel unmittelbarer zu entfalten vermag, als dies das beste Lehrbuch je könnte. Ja, so merken wir schnell: Der christliche Glaube ist nicht eine abstrakte Theorie, keine staubtrockene Lehre, sondern das, worum es in unserem christlichen Glauben geht, das ist so großartig, so überwältigend, dass einen das geradezu umhaut, es einem schwer macht, darüber überhaupt noch mit geordneten Sätzen zu reden. Nicht auf Spekulationen und Gedankengebäude gründet sich unser christlicher Glaube, sondern auf das Lebenszeugnis von Augenzeugen, die dabei waren, die das miterlebt haben, wovon sie erzählen, und denen man das abspürt, wie sehr sie das, was sie da miterlebt haben, selber gepackt hat und nicht mehr loslässt. Ja, wie gut, dass der Johannes das noch geschafft hat, sich hinzusetzen und das aufzuschreiben, was er da erlebt hat, was er gehört, gesehen, betrachtet, betastet hat. Ja, wie gut, dass wir dieses Zeugnis haben, dass wir uns daran mit unserem Glauben ausrichten können! Denn in diesen paar gestammelten Worten, die wir eben vernommen haben, steckt doch eigentlich die ganze christliche Botschaft drin. Ja, so macht es uns St. Johannes hier deutlich, in unserem Glauben geht es

- um das wahre Leben
- um fassbares Unfassbares
- um beglückende Gemeinschaft

I.

Schwestern und Brüder, natürlich gibt es auch ein Leben ohne Gott. Und dieses Leben kann sogar sehr schön sein. Ich kann geboren werden, zur Schule gehen, studieren, eine Berufsausbildung machen, arbeiten, heiraten, Kinder zeugen, mein Familienleben pflegen, wunderbare Urlaubsreisen machen, meine Hobbys pflegen, mich mit Freunden und Bekannten treffen, ja, schließlich auch meinen Lebensabend genießen, ohne auch nur einen Gedanken an Gott zu verschwenden. Ja, es gibt ein Leben ohne Gott – jedenfalls mögen wir Menschen selber es so empfinden und für möglich halten. Denn in Wirklichkeit ist natürlich auch dieses ganz normale, natürliche Leben mit all seinen Höhen und Tiefen Gabe und Geschenk Gottes. Kein Mensch lebt hier auf Erden, dessen Leben Gott nicht gewollt hat. Das gilt für uns alle, das gilt auch für die kleine Mia, die heute nun getauft worden ist.
Doch irgendwo steckt in uns auch die Ahnung, dass dieses Leben, was wir da gerade führen, doch nicht alles sein kann, die Sehnsucht danach, dass es doch mehr geben muss, ein wahres Leben, das über das hinausreicht, was wir normalerweise in unserem Alltag erleben. Und so erleben wir es, wie Jugendliche aus ihrem scheinbar vorgezeichneten Lebensweg ausbrechen auf der Suche nach einem anderen, nach dem wahren Leben. Wir erleben es, wie Menschen aus Beziehungen ausbrechen, weil sie Angst haben, in dieser Beziehung das wahre Leben zu verpassen. Und wir erleben es, wie Menschen auf alle möglichen Angebote hereinfallen, die ihnen das wahre Leben versprechen und denen es in Wirklichkeit nur um ihr Bestes, nur um ihr Geld geht. Doch was Menschen auch versuchen und anstellen mögen, um wahres Leben zu gewinnen – sie werden immer scheitern, so macht es uns St. Johannes hier deutlich. Denn dieses wahre Leben ist keine menschliche Möglichkeit; dieses wahre Leben kann allein von Gott kommen, besteht allein in der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Nein, dieses wahre Leben ist nicht bloß eine gewisse Bereicherung unseres alltäglichen Lebens; es hat eine völlig andere, völlig neue Qualität. Denn es ist ewiges Leben, Leben, das nicht den Begrenzungen unseres irdischen Lebens unterliegt, das eine Perspektive hat, die weit über alles hinausgeht, was wir zu planen und uns vorzustellen vermögen. Dieses Leben ist erschienen, so stellt es St. Johannes hier stammelnd fest; dazu haben wir nichts beigetragen, sondern es ist gekommen, damit es auch unser Leben wird. Nein, Schule, Beruf, Karriere, Familie, Ruhestand – das ist eben nicht alles, das allein macht nicht unser Leben aus. Doch wenn wir umgekehrt Anteil haben an diesem wahren Leben, wenn dieses wahre Leben die Perspektive unseres Lebens hier auf Erden bestimmt, dann bekommt auch all das, was wir in unserem Alltag erleben, noch einmal einen ganz anderen Tiefgang, dann dürfen wir es genießen und uns daran freuen, eben weil wir wissen: Das ist nicht alles; das ist ein Geschenk unseres Gottes, der in Wirklichkeit noch viel Größeres mit uns vorhat: Er will, dass wir ewig leben, dass wir Anteil haben an einem Leben, in dem all das einmal keinen Platz mehr hat, was uns jetzt noch so bedrückt und belastet: Krankheit, Einsamkeit, Versagen, Angst und Tod. Nein, das ist kein Wunschtraum, zu schön, um wahr zu sein. Dieses Leben ist erschienen; der, der diese Zeilen unserer Predigtlesung geschrieben hat, der hat es selber schon erfahren, gehört, gesehen, betrachtet, betastet.

II.

Und damit sind wir schon beim Zweiten, was uns St. Johannes hier am Beginn seines Briefes stammelnd und staunend deutlich macht: Das mit dem ewigen Leben, das ist eben keine Utopie, das ist nicht bloß ein schöner Gedanke, kein Ziel, das wir mit irgendwelchen Maßnahmen erst noch verwirklichen müssen. Sondern dieses ewige Leben, das ist für uns begreifbar geworden, hörbar, sichtbar, anfassbar. Denn dieses Leben ist nicht eine Idee, sondern eine Person namens Jesus Christus, so stellt es Johannes hier fest.
Nein, dieser Jesus Christus war eben nicht bloß ein großer Lehrer, der bedeutende Menschheitsgedanken von sich abgesondert hat. Sondern dieser Jesus Christus ist von Anfang an, so betont es St. Johannes hier, der war schon da, als es die Welt noch nicht gab, als es die Zeit noch nicht gab. Sohn des lebendigen Gottes ist dieser Jesus Christus, und als solcher Sohn kommt er nun in die Welt, so real, dass man ihn hören, sehen, anfassen konnte. Ja, St. Johannes betont das hier so sehr, weil es schon damals zu seiner Zeit Leute gab, die behaupteten, dieser Jesus sei nur so ein himmlischer Gesandter gewesen, der mal kurz auf die Erde gekommen sei, um den Menschen etwas über ihre göttlichen Ursprünge zu erzählen, um dann rechtzeitig vor seiner drohenden Kreuzigung wieder aus dieser materiellen Welt zu verschwinden. Nein, sagt St. Johannes, darin besteht unser Heil nicht, dass wir von einem himmlischen Gesandten über unsere Ursprünge aufgeklärt werden. Sondern unser Heil, das wahre Leben, besteht darin, dass wir mit Gott Gemeinschaft haben können, leibhaftige Gemeinschaft. Und da dachte der Johannes dann zurück, dachte daran, was er und die anderen Jünger mit Jesus damals erlebt hatten, dachte daran, wie der Thomas da vor dem auferstandenen Jesus gestanden hatte, seiner Aufforderung nachgekommen war, ihn zu betasten, ihn anzufassen, sich ganz handgreiflich davon zu überzeugen, dass er es wirklich ist, er, der Fleisch gewordene, lebendige Gott. Ja, da war ihm, Johannes, und den anderen Jüngern erst so richtig aufgegangen, mit wem sie es da eigentlich auch die ganze Zeit zuvor schon zu tun gehabt hatten, ohne das eigentlich bis dahin so richtig begriffen zu haben. Unfassbar ist es, dass sich der lebendige Gott so klein macht, so begreifbar wird im wahrsten Sinne dieses Wortes. Unfassbar ist es, dass der lebendige Gott Menschen allen Ernstes Anteil gibt an seinem unvergänglichen Leben. Doch er tut’s, hat’s getan, indem er das Wort Fleisch werden ließ, indem der Vater seinen Sohn zu uns Menschen gesandt hat.
Ich wiederhole es noch einmal: Christlicher Glaube ist keine nette Idee, keine interessante Theorie. Sondern christlicher Glaube hört darauf, wie Jesus Christus zu uns Menschen spricht, wie er damals zu den Menschen gesprochen hat und wie er noch heute in seinem Wort zu uns spricht, wie er auch uns zu seinen Ohrenzeugen macht. Christlicher Glaube hört nicht nur, er sieht auch, so betont es Johannes hier. Gewiss, was Johannes und die anderen Jünger damals sahen, als sie mit Jesus zogen, war erst einmal wenig spektakulär: Natürlich, das eine oder andere Wunder war schon ganz beeindruckend. Aber was sie da die ganze Zeit in Wirklichkeit gesehen und wahrgenommen hatten, das wurde eben auch Johannes erst später deutlich, zu einer Zeit, in der auch er nur noch zurückblicken konnte, nur noch mit den Augen des Glaubens betrachten konnte, was er zuvor mit seinen leiblichen Augen gesehen hatte. Und in diesem Sinne sehen wir eben auch, beten es heute wieder bei der Feier des Heiligen Mahls: „Sichtbar schauen wir Gott, der in uns die Liebe zu den unsichtbaren Gütern entzündet.“ Sichtbar schauen wir Gott – in der Gestalt einer kleinen Hostie, im mit Wein gefüllten Kelch. Sieht nach herzlich wenig aus – und doch begegnen wir darin dem, der von Anfang an war, ja, wir betasten ihn darin mit unseren Lippen, berühren ihn leibhaftig, bekommen so und nicht anders Anteil am wahren, ewigen Leben, das in nichts anderem besteht als in der Gemeinschaft mit diesem Jesus Christus. Ja, so sieht unser christlicher Glaube aus, dass wir erfahren, wie das Unfassbare, wie der Unfassbare für uns fassbar wird, in unsere Lebenswirklichkeit eingeht. Ja, hör es dir an, wie der Johannes hier stammelt, wie er nach Worten ringt, um dieses Wunder zu umschreiben; hör es dir an, und dann tu es ihm nach, komm, hör, sieh, betaste, empfange das Leben, das ewig ist, das bei dem Vater war und uns erschienen ist!

III.

Und damit sind wir schon beim Dritten, was St. Johannes uns hier deutlich macht: Es geht in unserem christlichen Glauben um beglückende Gemeinschaft.
Wenn Johannes den Empfängern seines Briefes diese Worte schreibt, dann will er damit Gemeinschaft stiften, Gemeinschaft in ganz verschiedener Hinsicht. Zunächst einmal spricht Johannes hier die Gemeinschaft der Gemeinde an, die Gemeinschaft derer, die gemeinsam auf das Wort der Apostel hören und ihren Glauben dadurch bestimmen lassen. Das geht nicht, so macht es Johannes hier deutlich, dass in der christlichen Gemeinde Menschen etwas ganz Unterschiedliches glauben, bekennen und verkündigen. Wo das der Fall ist, da besteht in Wirklichkeit gar keine Gemeinschaft unter diesen Menschen, auch wenn sie organisatorisch zu demselben Verein gehören sollten. Sondern Gemeinschaft wird dadurch gestiftet, dass Menschen gemeinsam auf das apostolische Wort hören und von diesem Wort ihren Glauben prägen lassen. Nein, damit wird nicht nur eine Gemeinschaft der Gemeindeglieder untereinander gestiftet, sondern es wird dadurch auch eine Gemeinschaft gestiftet zwischen den Gliedern der Gemeinde hier und jetzt und denjenigen, die zuvor bereits dasselbe gehört, geglaubt, verkündigt haben, bis hin zurück zu den Aposteln.
Schwestern und Brüder, es kann ja durchaus sein, dass sich heute Kirchen mit großer Mehrheit darauf einigen, apostolische Ordnungen und Lehren zu ändern und dem heutigen Geist der Zeit anzupassen. Ja, es kann sein, dass man meint, sich damit in guter Gemeinschaft mit denen befinden, die diese Schritte schon vorher gegangen waren. Doch mit solchen Entscheidungen wird dennoch zugleich die entscheidende Gemeinschaft zerstört: die Gemeinschaft mit den Aposteln, die Gemeinschaft mit denen, die selber noch Augen- und Ohrenzeugen des Fleisch gewordenen Wortes Jesus Christus waren.
Und Johannes geht hier dann sogar noch einen Schritt weiter: Er macht deutlich: Wer am Wort der Apostel bleibt, wer dadurch teilhat an der Gemeinschaft mit ihnen, der hat zugleich auch teil an der Gemeinschaft mit Gott dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott, der die ganze Welt geschaffen hat – was für eine wunderbare Perspektive, die uns Johannes hier eröffnet! Ja, diese Gemeinschaft mit ihm, dem lebendigen Gott, gefährde ich, wenn ich mich vom Wort der Apostel löse, wenn ich mir einen Christus nach meinen eigenen Wünschen und Vorstellungen bastele, der nicht mehr der ist, den die Apostel gehört, gesehen und betastet haben und den sie uns in ihrem Wort verkündigen.
Halten wir uns darum in allem, was wir in der Kirche lehren, verkündigen und tun, an das Wort der Apostel, der Augenzeugen des Herrn, lassen wir uns von ihrem staunenden Gestammel die Augen dafür öffnen, worum es hier bei uns in jedem Gottesdienst geht: Darum, dass Gottes Welt in unser Leben hereinbricht, dass unsere Lebensperspektive hier unendlich erweitert wird, wenn wir hier dem Mensch gewordenen Gott begegnen. Ja, eine tief ernste Angelegenheit ist das, nicht bloß eine nette Freizeitbeschäftigung, die wir betreiben können, wenn uns mal wieder danach zumute ist. Und doch ist diese Gemeinschaft, in die wir hier im Gottesdienst hineingenommen werden, vor allem die Quelle ganz großer Freude, ja, vollkommener Freude, so formuliert es St. Johannes hier. Wer hier durch die Verkündigung der Apostel und durch das Heilige Mahl an Christus Anteil bekommt, der bekommt damit auch schon Anteil an der Freude, die einmal für immer unser Leben bestimmen wird, wenn wir ihn endgültig ohne Einschränkung hören, sehen und betasten werden: ihn, unseren Herrn, das Leben in Person. Ja, Schwestern und Brüder, ich merke, wie ich da auch selber nach Worten ringen muss, wie ich selber nur noch stammeln kann, wenn ich beschreiben will, was das eigentlich heißt, was solche Freude eigentlich bedeutet. Und so kann ich euch nur einladen, euch zu Hause noch einmal in Ruhe diese ersten vier Verse des 1. Johannesbriefes durchzulesen und darüber nachzudenken, was das eigentlich heißt. Ja, wie gut, dass der alte Johannes uns diese Lebensworte hinterlassen hat, diese Lebensworte, die nicht weniger schenken als Gemeinschaft mit Gott. Amen.