01.01.2007 | Jesaja 43, 19a (Tag der Beschneidung und Namengebung JESU / Neujahr)

TAG DER BESCHNEIDUNG UND NAMENGEBUNG JESU (NEUJAHR) – 1. JANUAR 2007 – PREDIGT ÜBER JESAJA 43,19a

Gott spricht: “Siehe ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr´s denn nicht?”

„Mensch, hast du denn Tomaten auf den Augen?“ – Vielleicht ist es euch auch schon mal so ergangen, dass ihr so von einem Bekannten angesprochen worden seid. Da wart ihr die Straße entlanggegangen, hattet auf alles Mögliche geachtet, aber hattet überhaupt nicht gesehen, dass euch da ein Bekannter entgegenkam, den ihr vielleicht schon seit Jahren nicht mehr gesehen hattet. Nein, den hattet ihr einfach nicht wahrgenommen, weil ihr gerade auf alles mögliche Andere geschaut hattet und weil ihr vor allem überhaupt nicht damit gerechnet habt, dass ihr diesem Menschen da mit einem Mal auf der Straße begegnen könntet. Ja, was hatte der den da eigentlich zu suchen?
„Mensch, hast du denn Tomaten auf den Augen?“ – Da gehen wir vielleicht schon seit Jahren fast jeden Tag denselben Weg zur Arbeit oder zur Bushaltestelle. So gewöhnt haben wir uns schon an diesen Weg, dass wir überhaupt nicht mitbekommen, dass da ja vor einigen Tagen ein neuer Baum am Rand des Weges gepflanzt worden ist. Achtlos sind wir daran vorbeigegangen, weil uns dieser Weg schon so vertraut ist, dass wir gar nicht mehr damit rechnen, dass uns da noch etwas Neues begegnen könnte. Und dann muss uns erst ein Bekannter mit der Nase darauf stoßen, dass da an unserem Weg etwas Neues steht, etwas, das wir noch gar nicht wahrgenommen hatten.
„Mensch, habt ihr denn Tomaten auf den Augen?“ – So rief es Gott damals vor zweieinhalbtausend Jahren den Israeliten im babylonischen Exil, so ruft er es auch uns heute an diesem ersten Tag des neuen Jahres 2007 in den Worten der Jahreslosung dieses Jahres zu. Ihr lauft einfach so durch die Gegend, geht euren Lebensweg einfach immer weiter und merkt gar nicht, dass ihr immer wieder an mir vorbeilauft, nehmt gar nicht wahr, was ich an Neuem an eurem Lebensweg geschaffen habe und noch schaffen will. Und das wiegt allerdings nun noch viel, viel schwerer, als wenn ihr bloß an einem Bekannten oder an einem Baum vorbeilauft. Denn wenn ihr mich verpasst, dann verpasst ihr nicht weniger als euer Leben, als eure Zukunft. Zweierlei macht Gott darum hier in den Worten unserer Jahreslosung, um uns die Tomaten von unseren Augen zu entfernen:

- Er weckt uns auf.
- Er macht uns neu.

I.

„Siehe!“ – Mit diesem Wort beginnt die neue Jahreslosung. „Siehe!“ – Dieses Wort wird in der Heiligen Schrift immer dann verwendet, um die Zuhörer oder die Leser aufzuwecken, sie auf etwas gleichsam mit der Nase zu stoßen. „Siehe!“ – Das ist so etwas wie ein Ausrufezeichen schon gleich am Anfang eines Satzes. „Siehe!“ – Wenn Gott dieses Wort hier gebraucht, dann meint er damit so viel wie: „Dreht euch um, schaut hierher, hier bin ich! Ja, schaut her, denn im Augenblick guckt ihr noch in die völlig falsche Richtung, merkt gar nicht, wo und wie ihr mir begegnen könnt!“
Ja, genau das ist immer wieder unser Problem, dass wir entweder überhaupt nicht damit rechnen, dass wir Gott ganz konkret in unserem Leben begegnen könnten, dass er etwas in unserem Leben verändern könnte, oder dass wir zwar Gott suchen, aber dabei in die völlig falsche Richtung blicken und laufen, ihn, wer weiß wo, suchen, und nicht merken, wie nahe er uns in Wirklichkeit ist. Genau das war damals schon das Problem der Israeliten im babylonischen Exil: Sie rechneten gar nicht mehr damit, dass Gott jetzt noch bei ihnen dort in Babylon sein könnte, hatten den Eindruck, als hätte sich Gott mit ihrer Verschleppung nach Babylon von ihnen verabschiedet. Und so suchten sie Gott allein in der Vergangenheit, in den guten alten Zeiten, als der Tempel in Jerusalem noch stand, als die Welt noch in Ordnung war. Ja, vielleicht blickten sie auch noch weiter zurück, erinnerten sich daran, wie Gott sein Volk damals aus Ägypten geführt und ins Gelobte Land gebracht hatte. Aber all das lag nun weit zurück – und jetzt, jetzt war von Gott nichts mehr zu merken; nun schien er nicht mehr da zu sein.
„Siehe!“ – So ruft es Gott den Israeliten in Babylon zu. Schaut her, hier bin ich, nein, nicht in Jerusalem, sondern hier bei euch im Exil. Schaut her, hier bin ich, nicht in der grauen Vergangenheit, sondern hier und jetzt in eurer Gegenwart, bereit dazu, ganz Neues zu schaffen. Nehmt die Tomaten von euren Augen und Ohren, dann merkt ihr’s: Siehe, ich bin da!
„Siehe!“ – So ruft es Gott auch uns zu, will auch uns aufwecken, dass wir merken: Er ist’s, er ist da! Nein, es ist ja nicht so, dass wir nicht an Gott glauben würden. Natürlich tun wir das, sonst würden wir kaum auf die verrückte Idee gekommen sein, uns ausgerechnet am Neujahrstag in die Kirche zu begeben. Aber wie leicht übersehen wir ihn dann immer wieder in unserem Alltag, laufen eben auch mit Tomaten vor den Augen durch die Gegend, merken gar nicht, dass er mit dabei ist, nein, nicht bloß als Big Brother, sondern als unser Vater, der uns leiten und tragen will. „Siehe!“ ruft Gott dir zu, wenn du meinst, du schaffst es einfach nicht mehr, das zu tragen, was dir in deinem Leben auferlegt wird, wenn du meinst, du seiest jetzt endgültig am Ende. „Siehe!“ ruft Gott dir zu, wenn du meinst, Gott habe dich verlassen, wolle nichts mehr von dir wissen angesichts dessen, was du jetzt durchmachen musst. „Siehe!“ ruft Gott dir zu, wenn auch du Gott nur noch in der Vergangenheit deines Lebens zu finden meinst, in den schönen Tagen, als du in der Kirche noch glücklich warst, als du in deinem Leben noch glücklich warst, als dein Glaube noch stark und fest war. „Siehe!“ – So ruft es Gott dir zu, wenn du auch in der Gemeinde nur noch in die Vergangenheit blickst, auf die Zeiten, als noch mehr Leute in die Kirche kamen, als wir hier in Zehlendorf noch fast in jedem Gottesdienst Stühle schleppen mussten, als wir es doch geradezu handgreiflich zu spüren meinten, wie Gott unsere Arbeit hier in unserer Gemeinde segnete. „Siehe!“ – Ja, merkst du es denn nicht, erkennst du es denn nicht, dass ich da bin, dass ich auch nicht einfach unerkannt neben dir hergehe, sondern in deinem Leben am Werke bin? Erkennst du es denn nicht, was auch jetzt in diesem Gottesdienst geschieht? Da hat sich doch nichts geändert, ganz gleich, wie viele oder wie wenige Leute hier im Gottesdienst sitzen. Oder siehst du vielleicht doch nur den Pastor vor dir und merkst gar nicht, dass ich hier gegenwärtig, dass ich hier am Werk bin, jawohl, jetzt, hier in dieser Stunde? Ja, siehe, so ist es, wach auf, ich bin nicht weg, ich bin da!

II.

„Siehe!“ ruft Gott uns zu, und gibt uns auch gleich ein ganz konkretes Versprechen: „Ich will ein Neues schaffen.“ Wenn Gott in der Bibel davon spricht, dass er etwas oder jemanden neu macht, dann meint er auch wirklich „neu“, dann meint er nicht bloß, dass er Altbekanntes ein bisschen neu anpinselt und als neu ausgibt, so wie wir Menschen dies oft machen. Gott verspricht nicht bloß leichte Verbesserungen eines unbefriedigenden Zustands, sondern er verspricht tatsächlich, etwas ganz Neues zu schaffen, etwas, was man nicht von vornherein absehen konnte, etwas, was sich nicht gleich von selbst ergibt. Nein, dieses Neue kann man nicht unbedingt gleich erkennen; das erscheint nicht gleich so bombastisch, dass jeder sofort vor Staunen und Begeisterung fast umkippt. Im Gegenteil: Gott beschreibt hier selber, dass dieses Neue zunächst einmal ganz klein, kaum wahrnehmbar, aufwächst, so, wie aus einem Samenkorn eine Pflanze erwächst, so, dass da ganz allmählich der grüne Trieb aus der Erde hervorbricht. Nein, als der Prophet damals dem Volk Israel seine Rückkehr aus dem Exil in Babylon in die Heimat ankündigte, da konnten die Israeliten nicht gleich am nächsten Tag die Sachen packen und losmarschieren. Da hatten sie zunächst nicht mehr als das Wort des Propheten, konnten mit ihren Augen noch nicht wahrnehmen, dass dieses Wort tatsächlich etwas bewirkt hatte, Bewegung in die Geschichte gebracht hatte. Ja, das Neue war schon da, aber es war noch nicht gleich zu sehen. Aber später, im Rückblick, konnten es dann auch die Israeliten selber erkennen: Damals, als der Prophet bei uns aufgetreten war, damals ist es schon losgegangen, da hat Gott schon dieses Neue geschaffen, das für uns alle jetzt auch klar und erkennbar ist.
Und dann hat Gott noch einmal etwas ganz Neues geschaffen, etwas, was die Rückkehr der Israeliten aus Babylon in seiner Bedeutung noch einmal bei Weitem übertroffen hat: Er hat den Spross aus dem Stamm Isais, den Reis aus seiner Wurzel hervorwachsen lassen, hat noch einmal ganz neu mit den Menschen angefangen, indem er seinen Sohn Jesus Christus zu uns geschickt hat. Ganz klein hat er da wieder angefangen, dass man es nicht gleich wahrnehmen konnte: Was sollte es schon für eine Bedeutung für die Welt haben, dass da irgendwo in der römischen Provinz Judäa in einem Viehstall ein kleines Baby geboren wird? Das scheint doch nicht wichtiger zu sein als der berühmte Sack Reis, der irgendwo in China umfällt oder auch nicht. Doch das Kind in der Krippe ist herangewachsen, hat das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen in der Tat ganz neu gemacht, indem es die Schuld der ganzen Welt auf sich genommen und getragen hat. Das Baby im Futtertrog – es ist kein anderer als der Gekreuzigte. Merkt ihr’s denn nicht, erkennt ihr’s denn nicht?
Und genauso arbeitet Gott nun auch weiter bis heute: Er schafft Neues, schafft es so, dass er dabei zunächst ganz klein und unscheinbar beginnt. Bei uns selber fängt er dabei an, arbeitet an uns, verändert uns, ohne dass wir es vielleicht zunächst einmal merken. Nein, die Wenigsten unter uns können mit irgendwelchen spektakulären Bekehrungserlebnissen aufwarten, können davon berichten, dass sie von hier auf jetzt von Gott ganz neu gemacht, um 180° gedreht wurden. Nein, bei den Allermeisten unter uns hat Gott da ganz allmählich etwas wachsen lassen, unmerklich, und doch so, dass er uns neu gemacht hat, dass wir nun wahrnehmen können, was Menschen zunächst einmal verschlossen bleibt, dass wir Gottes Handeln auch im Kleinen erkennen können. Ja, wir freuen uns über unsere Taufe, feiern unseren Tauftag, wissen, dass damals in unserem Leben nicht bloß eine nette Zeremonie abgelaufen ist, sondern dass das bisschen Wasser, was man da sehen konnte, uns doch in ein neues Leben hineingerettet hat, das niemals mehr aufhören wird. Wir kommen gerne zum Gottesdienst, kommen gerne zum Heiligen Mahl, weil wir wissen, dass wir da nicht bloß ein Stück Brot und einen Schluck Wein bekommen, sondern dass wir ihn selber dort leibhaftig empfangen mit seinem Leib und Blut, ihn, der hier in der Jahreslosung zu uns spricht: Siehe, ich will ein Neues schaffen. Ja, darum kommen wir gerne zum Heiligen Mahl, weil wir erkennen, dass wir dort tatsächlich immer wieder neu gemacht werden, dass Gott dadurch immer und immer wieder von Neuem an uns arbeitet. Ja, diese Verheißung steht über jedem Gottesdienst, den wir feiern: „Siehe, ich will ein Neues schaffen!“ Du gehst nicht unverändert aus der Kirche heraus, auch wenn du davon selber vielleicht gar nichts spürst. Da wächst wieder etwas bei dir und in dir, auch am Beginn dieses neuen Jahres.
Und darum gilt die Zusage der Jahreslosung eben auch unserer Gemeinde als Ganzes: Gott, der im Leben eines jeden von uns Neues schaffen kann und Neues geschaffen hat, der will und wird dies auch in unserer Gemeinde tun, wie er dies auch bisher getan hat. Ja, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Da haben Menschen den Weg in unsere Gemeinde gefunden, mit denen wir Anfang dieses Jahres noch überhaupt nicht rechnen konnten. Da haben wir auch in diesem Jahr wieder so viele Taufen in unseren Gottesdiensten miterleben können, haben miterleben können, wie Gott seine Kirche erhalten und gemehrt hat. Da habe ich es bei meinen Besuchen bei den Steglitzer Gemeindegliedern neben manch schmerzlicher Erfahrung eben auch erleben dürfen, wie Menschen sich wieder neu geöffnet haben, wieder dazu bereit waren, Schritte auf die Kirche zuzugehen. Nein, sehen können wir davon noch nicht viel; aber da sprosst etwas auf. Da denke ich an unsere Konfirmanden, die in den vergangenen beiden Jahren in unsere Kirche und Gemeinde hineingewachsen sind – ganz unspektakulär, aber eben doch so, dass sie nun als Zuhause erfahren, was ihnen vor zwei Jahren zumeist noch fremd war. Da erlebe ich es in diesen Wochen, dass sich immer mehr Kinder für unseren neuen Vorkonfirmandenunterricht melden, dass ich allmählich gar nicht mehr weiß, wie ich für die alle noch Sitzplätze im Unterricht und bei der Konfirmandenfahrt besorgen soll. Und da habe ich es auch in diesem Jahr wieder erlebt, wie Menschen im Angesicht von Leid und Tod in ihrem Leben geistlich gereift und gewachsen sind, wie Gott sie durch sein Wort und Sakrament hat reifen lassen für die Ewigkeit. Nein, all das liegt doch nicht an den tollen Angeboten in unserer Gemeinde und nicht an unserem Einsatz; das liegt doch daran, dass er am Werk ist, er, der Herr, der uns sein „Siehe!“ zuruft und uns immer wieder neu die Augen dafür öffnen will, dass er da ist, dass er Neues schafft auch in unserer Mitte. Fröhlich und getrost dürfen wir darum miteinander dem neuen Jahr entgegenblicken, denn er ist doch unter uns, der auch zu uns spricht: „Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“ Amen.