24.12.2007 | Kolosser 2, 3-10 (Heilige Christnacht)

HEILIGE CHRISTNACHT – 24. DEZEMBER 2007 – PREDIGT ÜBER KOLOSSER 2,3-10

In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Ich sage das, damit euch niemand betrüge mit verführerischen Reden. Denn obwohl ich leiblich abwesend bin, so bin ich doch im Geist bei euch und freue mich, wenn ich eure Ordnung und euren festen Glauben an Christus sehe. Wie ihr nun den Herrn Christus Jesus angenommen habt, so lebt auch in ihm und seid in ihm verwurzelt und gegründet und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und seid reichlich dankbar. Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus. Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig und an dieser Fülle habt ihr teil in ihm, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.

„Where is Waldo?“ – Wo ist Waldo? So lautet der Titel einer Kinderbuchreihe des britischen Autors Martin Handford. In seinen Büchern finden sich jeweils großformatige, detailreiche Zeichnungen mit hunderten von Menschen. Und irgendwo auf diesen Bildern ist jeweils auch Waldo zu sehen, ein Typ mit einer Brille, einem rot-weiß gestreiften Pullover und einer Bommelmütze. „Where is Waldo?“ – Wo ist Waldo? Man muss manchmal schon eine ganze Weile suchen, bis man ihn irgendwo in einer Ecke des Bildes entdeckt, ihn in der Masse der Menschen, die ihn umgeben, findet.
Wir wollen heute Nacht nicht „Where is Waldo?“ spielen, sondern eine anspruchsvollere Variante wählen. Sie heißt nicht: „Where is Waldo?“, sondern: „Where is God?“ – Wo ist Gott? Nein, die Suche nach Gott ist nicht auf ein Bild in einem Kinderbuch beschränkt, sondern suchen können und dürfen wir überall,  wo wir wollen. Das Problem ist nur: Gott lässt sich nicht so leicht identifizieren wie Waldo, er ist nicht erkennbar an einer Brille, einem rot-weiß gestreiften Pullover und einer Bommelmütze.
Fangen wir also mit unserer Suche an: „Gott ist irgendwo da oben!“ – So hören wir schon den Ersten rufen. Ja, irgendwie glauben wir Menschen gerne, dass Gott oben ist, irgendwo da bei den Sternen oder noch irgendwo dahinter. Wenn er da irgendwo sein sollte, könnten wir unsere Suche nach ihm allerdings auch bald einstellen; dann kommen wir ja ohnehin nicht an ihn heran. Dann wäre allerdings die Suche nach ihm auch ohnehin sinnlos. Was braucht uns ein Gott zu interessieren, der irgendwo da oben ist? Der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins hat in seinem Buch „Der Gotteswahn“ Gott mit einer Teekanne verglichen, die irgendwo durch das Weltall schwebt und so klein ist, dass sie mit keinem Teleskop erfasst werden kann. Dawkins sagt: Man kann natürlich daran glauben, dass es solch eine Teekanne im Weltall gibt; man kann das aber auch bezweifeln. Einen Unterschied macht das letztlich gar nicht, denn diese Teekanne im Weltall hat ja ohnehin nichts mit uns, mit unserem Leben zu tun. Ja, wenn Gott nur irgendwo da oben wäre wie so eine Teekanne, dann könnten wir jetzt Schluss machen. Aber wir ahnen schon: Damit würden wir es uns dann doch zu leicht machen; so einfach können und dürfen wir mit unserer Suche nicht aufhören.
Da hören wir schon den Nächsten: „Ich habe Gott in der Natur gefunden, ja, Gott ist die Natur!“ Das klingt schön und befreit einen vor allem von der lästigen Verpflichtung, sich am Sonntagmorgen in eine überdachte Kirche setzen zu müssen. Ein Spaziergang im Grunewald – ist das nicht ein sehr viel erhebenderer Gottesdienst, als sich anhören zu müssen, wie sich da vorne in der Kirche einer bei seiner Predigt einen abbricht? Doch was heißt das eigentlich: Gott ist in der Natur, ja, Gott ist die Natur? Finden wir Gott nur bei schönem Wetter, oder finden wir Gott auch beim Dauerregen und im Schneematsch, ja, mehr noch: Finden wir Gott auch im Erdbeben, auch im Tsunami? Ja, ist Gott vielleicht sogar der Tsunami? Und was für ein Gott ist das dann? Ein unpersönlicher, willkürlicher Gott, der schweigt, der mal Gefühle des Glücks und mal Gefühle des Entsetzens bei uns hervorruft? Nein, als Gott eignet sich die Natur nicht sonderlich, auch wenn man ihr immer wieder eine erstaunliche Kreativität zuschreibt, sie habe dieses oder jenes entwickelt oder entstehen lassen. Nein, das ist nicht die Natur selber, so erkennen wir, wenn wir uns ein wenig näher mit ihr befassen; die Natur weist vielmehr über sich selbst hinaus auf den, dem sie ihre Existenz verdankt. Sie ist nicht Gott, sondern kommt von Gott.
Wo ist Gott? „Du findest ihn in deinem Inneren!“ – So lautet die Antwort, die heutzutage gerne auf diese Frage gegeben wird. Ja, du musst dich einfach nur in dich selbst versenken, dann wirst du dort auf Gott, auf das Göttliche in dir, stoßen. Brüder und Schwestern, ich habe es ausprobiert und muss euch leider enttäuschen: Der Tipp ist falsch. Wenn ich immer tiefer in mich hineinhorche und mich in mich selber versenke, dann finde ich da zwar allen möglichen Kram, aber je tiefer ich grabe, desto dunkler wird es. Alles Mögliche finde ich da, aber nicht Gott. Der findet mein Innerstes als Aufenthaltsort nämlich nicht besonders attraktiv, im Gegenteil: Er und ich – wir passen eigentlich überhaupt nicht zusammen. Und ich sage dir: Bei dir sieht das auch nicht anders aus. Vielleicht findest du ja irgendwas Schönes und Erfreuliches, wenn du dich in dich selber versenkst. Aber wer sagt dir, dass das nicht bloß dein Gefühl ist, dass du da etwas gefunden hast, das nicht aus dir selber stammt? Wer sagt dir, dass du da etwas gefunden hast, was auch dann noch besteht, wenn du einmal sterben wirst, wenn von dir hier auf der Erde nichts Sichtbares mehr übrig bleibt? Nein, auch wenn wir Gott in unserem Inneren, in unserer Seele suchen, kommen wir am Ende nicht weiter.
Wo ist Gott? Wenn wir bei unserer Suche fortfahren, stellen wir bald fest, dass diese Frage schon so oft von Menschen gestellt worden ist, ja, dass diese Frage für viele Menschen nicht bloß der Teil eines netten Ratespiels war und ist, sondern die Frage ist, in der sie ihren ganzen Schmerz und ihre ganze Verzweiflung gepackt haben über das, was sie in ihrem Leben erfahren mussten und müssen. Der jüdische Schriftsteller und Nobelpreisträger Elie Wiesel berichtet in einem Buch davon, wie er im KZ Zeuge der Hinrichtung eines Kindes wurde. Das Kind wurde erhängt; aber es war zu leicht; mehr als eine halbe Stunde kämpfte es vor den Augen der KZ-Insassen seinen Todeskampf. Elie Wiesel schreibt: „’Wo ist Gott, wo ist er?’, fragte jemand hinter mir. … Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: Wo er ist? Dort, dort hängt er am Galgen …“
Und damit ist Elie Wiesel, so unfasslich es klingt, ganz dicht dran an dem, was wir in dieser Nacht feiern und was der Apostel Paulus in unserer Predigtlesung entfaltet: Nein, Gott ist nicht irgendwo oben, er ist nicht einfach irgendwo in der Natur, er lässt sich auch nicht einfach in meinem Inneren, in meinen Gefühlen finden. Was sollten wir mit solch einem Gott auch schon anfangen können angesichts all dessen, was wir an Furchtbarem und Unbegreiflichem in dieser Welt erleben müssen! Nein, Gott lässt sich in der Tat am Galgen finden, so bezeugt es auch der Apostel Paulus, er lässt sich finden als Jude an einem Galgen, nicht baumelnd, sondern festgenagelt, er, der lebendige Gott, der nicht auf einer Wolke sitzt, der nicht bloß als Windesrauschen durch die Blätter streicht, der nicht bloß irgendwelche Glücksgefühle in mir hervorruft, sondern der mitten in unsere Welt hineinkommt, fassbar, erkennbar wird, sich nicht in irgendwelchen Ideen oder Empfindungen wieder auflöst. Ja, du kannst Gott erkennen, nicht an seiner Brille und einem rot-weiß gestreiften Pullover, sondern an den Windeln, die er trägt, an dem Futtertrog im Viehstall, in den er sich legen lässt, so lässt er es den Hirten in der Heiligen Nacht mitteilen. Du kannst Gott erkennen an den Nägelmalen in seinen Händen und Füßen, an der Wunde in seiner Seite. Ja, so sieht er aus, er, der lebendige Gott. Er trägt die Gestalt eines konkreten Menschen namens Jesus Christus, ja, er ist dieser Mensch, denn, so schreibt der Apostel Paulus hier, in ihm, Christus, wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. Gott findest du in dem Leib dieses Menschen, nicht nur irgendwo in seiner Seele, sondern in seinem Leib, nein, nicht nur ein bisschen von Gott findest du da, sondern Gott ganz, ihn, dem die ganze Welt ihre Existenz verdankt, ihn, dem auch du dein Leben verdankst. Der ist mitten in das Leid und das Elend dieser Welt hineinkommen, der ist Mensch geworden, der hat sich da in diese Krippe legen lassen, ja, hat sich selber zu Tode foltern lassen, damit all das Unfassbare, was auf dieser Welt geschieht, nicht sinnlos bleibt, damit auch der Todeskampf jenes Jungen im KZ nicht sinnlos bleibt.
Wo ist Gott? Es ist verständlich, dass Menschen immer wieder so fragen, und es ist verständlich, dass sie immer wieder versucht haben, sich auf diese Frage ihre eigenen Antworten zurechtzulegen. Doch die Botschaft dieser Heiligen Nacht lautet: Ihr braucht nicht länger zu spekulieren; Gott hat geantwortet, hat sich festgelegt in seinem Sohn Jesus Christus. In ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis; auf ihn sollen und dürfen wir blicken, wenn wir sonst mit den Fragen in unserem Leben überhaupt nicht mehr weiterkommen.
Wo ist Gott? Er lässt sich finden, lässt sich entdecken in seinen Windeln, lässt sich auch heute Nacht entdecken und finden in einem Stück Brot und einem Schluck Wein. Nein, Gott ist nicht oben, er ist hier unten, mitten unter uns, du darfst ihn essen und trinken, darfst hier am Altar Anteil gewinnen an der Fülle der Gottheit, so schreibt der Apostel Paulus hier. Ja, es ist schon richtig: Gott lebt auch in dir. Aber das ist eben keine Selbstverständlichkeit, das ist keine allgemeine Wahrheit; er lebt nicht einfach in dir, seit du geboren bist. Sondern er lebt in dir, wenn du ihn heute Nacht mit deinem Munde empfängst, wenn er dadurch auch in dir leibhaftig Wohnung nimmt.
Ja, ich hoffe, du hast es schon gemerkt: Wir spielen hier kein Spiel; hier geht es um dein Leben. Davon, dass du Gott findest, hängt deine Zukunft, hängt dein ewiges Leben ab. Nein, du brauchst nicht länger nach ihm zu suchen. Er hat dich doch schon längst gefunden, hat sich mit dir schon verbunden in deiner Taufe. Darum komm, komm hierher, wo er sich finden lässt, dein Gott, er, in dem die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt. Komm, iss und trink ihn, lass ihn in dir leben, nicht nur heute, sondern immer wieder. Und dann lass dich durch nichts und niemanden mehr von ihm abbringen, sondern bleibe dran an ihm. Er wird dich dahin bringen, wo auch deine letzten Fragen noch eine Antwort finden werden. Amen.