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10. Vorbereitungsgebet und Agnus Dei

Nach dem Friedensgruß richtet sich die Gemeinde ganz aus auf den Empfang des auf dem Altar gegenwärtigen Leibes und Blutes ihres Herrn. In der „Form B“, in der Vaterunser und Friedensgruß den Einsetzungsworten folgen, ist in unserer Lutherischen Kirchenagende die Möglichkeit eines gemeinsamen Vorbereitungsgebetes vorgesehen. Hierzu finden sich in der Agende verschiedene Formulierungen: Zum einen findet sich dort eine allerdings sprachlich stark überarbeitete Fassung eines von Martin Luther selbst formulierten Vorbereitungsgebetes, das Luther in seiner Gründonnerstagspredigt des Jahres 1521 gebrauchte und das in seiner ursprünglichen Fassung noch sehr viel plastischer erscheint: „O Herr, ob ich zwar nicht würdig bin, dass du in mein Herz eingehest, so bin ich doch notdürftig deiner Hilfe und begierig deiner Gnade, dass ich möge fromm und selig werden. Nun komme ich in keiner anderen Zuversicht denn auf dein Wort, da du selbst mich zu diesem Tische ladest und sagest mir Unwürdigem zu, ich soll Vergebung meiner Sünden haben durch deinen Leib und Blut, so ich esse und trinke in diesem Sakrament. O lieber Herr, ich weiß, dass deine göttliche Zusage und deine Worte gewiss und wahrhaftig sind. Daran zweifle ich nicht, und darauf esse und trinke ich; mir geschehe nach deinem Worte.“ In diesem Gebet nimmt Luther die Worte des Hauptmanns von Kapernaum in Matthäus 8,8 auf, die in leicht angepasster Form sowohl in der römisch-katholischen Kirche wie in der lutherischen Kirche als Stillgebet der Kommunikanten vor dem Empfang der Kommunion in Gebrauch sind: „Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach eingehst, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Dieses eine Wort ist beim Empfang der Kommunion natürlich das wirkmächtige Stiftungswort Christi selbst, das Brot und Wein zu seinem Leib und Blut und damit zum Heilmittel der Unsterblichkeit werden lässt. Daneben steht in unserer Lutherischen Kirchenagende eine Fassung des sogenannten Anima Christi-Gebets, eines Sakramentsgebets aus dem 14. Jahrhundert, dessen Verfasser möglicherweise Papst Johannes XXII. ist und der Verehrung des im Sakrament gegenwärtigen Christus diente. Es hatte ursprünglich folgenden Wortlaut (in deutscher Übersetzung des lateinischen Texts): „Seele Christi, heilige mich. Leib Christi, rette mich. Blut Christi, tränke mich. Wasser der Seite Christi, reinige mich. Leiden Christi, stärke mich. O guter Jesus, erhöre mich. Birg in deinen Wunden mich. Von dir lass nimmer scheiden mich. Vor dem bösen Feind beschütze mich. In meiner Todesstunde rufe mich. An deine Seite setze mich, mit deinen Heiligen zu loben dich in deinem Reiche ewiglich. Amen.“ Nach der Reformation wurde das Gebet interessanterweise sowohl in der römisch-katholischen als auch in der lutherischen Kirche weiterverwendet. Wir finden es einerseits in den Exerzitien des Ignatius von Loyola, weshalb dieser mitunter irrtümlich als Verfasser des Gebets vermutet wurde. Andererseits erfreute sich das Gebet auch im Luthertum weiterhin größter Beliebtheit; es findet sich in deutscher Übertragung in vielen Gesangbüchern der lutherischen Kirche und wurde beispielsweise auch von Heinrich Schütz vertont. Mit der Aufnahme dieses Sakramentsgebets brachte die lutherische Kirche in einer sehr eindrücklichen Weise zum Ausdruck, dass sie sich mit ihrem Bekenntnis zur Realpräsenz, zur realen Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Brot und Wein des Sakraments, in Kontinuität zur Alten Kirche und zur Kirche des Mittelalters wusste. Sie lehnte zwar die verbindliche Festlegung der Beschreibung des Wunders der Realpräsenz mithilfe der Kategorien der aristotelischen Philosophie ab, wie dies auf dem IV. Laterankonzil 1215 mit der Dogmatisierung der sogenannten „Transsubstantiationslehre“ geschehen war. In der Sache wusste sich die lutherische Kirche mit ihrem Bekenntnis zur Realpräsenz mit der römisch-katholischen Kirche aber ganz einig und hatte darum auch keine Scheu, sich solche Gebete aus der Zeit vor der Reformation selber zueigen zu machen. Insofern ist der Gebrauch dieses Gebets in unseren Gottesdiensten immer auch ein ökumenisches Signal. In unserer Lutherischen Kirchenagende hat das Anima Christi-Gebet nun folgenden Wortlaut erhalten: „Dein heiliger Leib, Herr Jesus Christus, speise mich. Dein teures Blut tränke mich. Dein bitteres Leiden und Sterben stärke mich. Deine siegreiche Auferstehung erfreue und tröste mich. Herr Jesus Christus, erhöre mich. In Deine heiligen Wunden verberge ich mich. Lass mich nimmermehr von Dir geschieden werden. Vom bösen Feind errette mich, im wahren Glauben erhalte mich, dass ich mit allen Auserwählten Dich lobe und preise hier zeitlich und dort ewiglich. Amen.“ Die Einfügung des Verweises auf die Auferstehung Christi, die sich auch in vorherigen lutherischen Agenden so nicht findet, sollte dabei offenbar einer einseitigen Frömmigkeitsprägung, die allein auf Leiden und Sterben Christi ausgerichtet ist, wehren. In den Gottesdiensten in unserer St. Marienkirche wird dieses Vorbereitungsgebet seit einigen Jahren auf Anregung von Gemeindegliedern hin jeweils gemeinsam von der ganzen Gemeinde gesprochen; der Text des Gebets ist darum ganz vorne in den Gesangbüchern eingeklebt worden. Dies ist aus zwei Gründen eine sehr sinnvolle Praxis. Zum einen prägt sich dieses Gebet durch das beständige Mitsprechen den Gottesdienstteilnehmern in besonderer Weise ein und wird damit für sie zum eisernen Vorrat des Glaubens – bis hin aufs Sterbebett. Mit diesem Gebet, das man geradezu als „Kurzformel des christlichen Glaubens“ (Balthasar Fischer) bezeichnet hat, können wir am Ende im Frieden heimgehen; wie gut, wenn es in unserem Leben immer wieder bei jeder Sakramentsfeier durch das Mitsprechen in unser Herz gepflanzt wurde! Zum anderen wehrt das gemeinsame Sprechen dieses Gebets aber auch einem individualistischen Missverständnis des Sakraments: Die Kommunion ist niemals nur ein Geschehen zwischen Christus und mir, sondern geschieht immer in der Gemeinschaft der Gemeinde und Kirche. Eben daran werden wir durch das gemeinsame Sprechen des Gebets geradezu sinnenfällig erinnert. Martin Luther hat in seiner lateinischen Gottesdienstordnung, der „Formula Missae“, ebenfalls die Aufnahme eines Kommuniongebets aus dem Mittelalter als Vorbereitungsgebet zur Kommunion vorgeschlagen. Dieses Gebet stammt aus dem 9. Jahrhundert, wobei Luther im Sinne des oben Erwähnten anregte, im Gebet statt der 1. Person Singular die 1. Person Plural zu verwenden und statt „mich“ und „meine“ „uns“ und „unsere“ zu lesen. In dieser Form findet sich dieses mittelalterliche Vorbereitungsgebet ebenfalls in unserer Lutherischen Kirchenagende als eine Möglichkeit: „Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, du hast durch deinen Tod der Welt das Leben geschenkt: erlöse uns durch deinen Leib und dein Blut von allen Sünden. Hilf uns, deine Gebote treu zu erfüllen, und lass uns von dir niemals geschieden werden. Der du mit dem Vater und dem Heiligen Geiste lebst und regierst in Ewigkeit. Amen.“ Auch dieses Gebet gehört bis heute zum gemeinsamen Gebetsschatz der lutherischen und der römisch-katholischen Kirche.  Schon sehr früh fand das „Agnus Dei“, das „Christe, du Lamm Gottes“, seinen Platz in der Sakramentsliturgie. Es bezieht sich auf den Bekenntnisruf Johannes des Täufers: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (St. Johannes 1,29) Daran angefügt ist der Huldigungsruf: „Erbarm dich unser“, wie er uns bereits aus dem Kyrie eleison bekannt ist. Der Text des Agnus Dei wurde dreimal gesungen; ab dem 11. Jahrhundert wurde es üblich, beim dritten Mal statt des „Erbarm dich unser“ „Gib uns deinen Frieden“ zu singen. Ursprünglicher Anlass dieser Einfügung waren wohl ganz konkrete Kriegsnöte; doch ergibt diese Bitte auch darüber hinaus einen guten Sinn: Der Frieden mit Gott, den Christus uns durch sein Opfer vermittelt, ist ja Gabe und Wirkung des Sakraments. Das Agnus Dei wurde in der Liturgie ursprünglich als Gesang zur Brotbrechung gebraucht: Vor Beginn der Austeilung wurden die großen Hostien in kleine Stücke gebrochen, die dann in der Kommunion ausgeteilt wurden. Dieser Vorgang wurde zum Teil dann selber als Opfergeschehen interpretiert, am drastischsten bis heute in der orthodoxen Kirche, wo ein Priester mit kleinen Lanzen in die Brote sticht und damit die Sakramentsfeier als dramatische Darstellung der Opferung Christi erkennbar werden lässt. Die lutherische Kirche war darum gegenüber der Brechung des Brotes sehr zurückhaltend eingestellt: Sie wollte alle Missverständnisse vermeiden, wonach die Sakramentsfeier selber eine Opferhandlung der Kirche ist. Außerdem wurde auf reformierter Seite das Brechen des Brotes geradezu zum eigentlichen Kern der Sakramentsfeier im Sinne einer Erinnerungsfeier an das Sterben Christi erklärt; mit dem Brechen des Brotes sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass das Brot gerade nicht der Leib Christi ist. Solche Assoziationen liegen uns heute eher fern; wir können darum die Brechung des Brotes auch in der lutherischen Kirche wieder unbefangener vornehmen, solange damit nicht die Missverständnisse von Opferhandlung oder Erinnerungsfeier verbunden werden. In vielen lutherischen Kirchenordnungen, auch in unserer Lutherischen Kirchenagende, war und ist es vorgesehen, das Agnus Dei als erstes Lied während der Kommunionausteilung zu singen. In unserer Agende wird jedoch auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Agnus Dei auch vor der Austeilung gesungen werden kann, wie dies in unserer Gemeinde geschieht. Es ist dann Anbetungslied, das von der Gemeinde kniend gesungen wird und das dazu dient, dem Lamm Gottes zu huldigen, das mit seinem geopferten Leib und Blut nun auf dem Altar gegenwärtig ist. Gerade so ist es ein besonders eindrückliches Bekenntnis der Gemeinde zur Realpräsenz des Leibes und Blutes ihres Herrn, die eben nicht von unserem Glauben oder unserem Empfangen abhängt.