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8. Epiklese und Anamnese

Zur Zeit Martin Luthers waren die Einsetzungsworte Christi bei der Messfeier umwuchert und überwuchert von zahlreichen Gebeten, die vor allem den Gedanken zum Ausdruck brachten, dass die Messfeier ein Opfer sei, das Gott dargebracht wird. Dieser Fehlentwicklung versuchte Martin Luther dadurch zu wehren, dass er sämtliche Gebete, die die Einsetzungsworte umgaben, strich und damit den Einsetzungsworten selber wieder die zentrale Stellung gab, die ihnen auch zusteht. Dieser Grundentscheidung Luthers schlossen sich weitgehend auch die lutherischen Gottesdienstordnungen der folgenden Jahrhunderte an.

Im 20. Jahrhundert gab es dann jedoch Überlegungen, ob es nicht doch möglich sei, bei der Gestaltung der Sakramentsliturgie hinter Luther und auch hinter die mittelalterlichen Fehlentwicklungen auf die Gottesdienstordnungen der Alten Kirche zurückzugreifen. In ihnen sind die Einsetzungsworte häufig umgeben von einem Gebet, in dem die Herabsendung des Heiligen Geistes erbeten wird, der sogenannten „Epiklese“, und einem Gebet, in dem die Einsetzungsworte eingebunden werden in die Geschichte der Heilstaten Gottes von der Kreuzigung bis hin zur Wiederkunft des Herrn, der sogenannten „Anamnese“. So wurde in die Lutherische Agende in den 50er Jahren wieder ein solches „eucharistisches Gebet“ als eine Möglichkeit aufgenommen.

Für und gegen die Verwendung eines solchen eucharistischen Gebets im Gottesdienst gibt es gute Gründe: Dagegen spricht, dass die Umrahmung der Einsetzungsworte durch Gebete den eindeutig „katabatischen“ Charakter des Heiligen Abendmahls verdecken könnte. „Katabatisch“ bedeutet „hinabsteigend“; gemeint ist mit dem Ausdruck, dass die Bewegung im Heiligen Abendmahl ganz von Gott zum Menschen geht, dass das Heilige Abendmahl also ganz und gar ein Geschenk Gottes ist und nicht eine Tat des Menschen. Gebete haben dagegen einen „anabatischen“ Charakter, das heißt einen „aufsteigenden“ Charakter; ihre Bewegung geht vom Menschen zu Gott. Insofern ist die Bewegung des Gebets der Bewegung der Einsetzungsworte und des Sakraments insgesamt entgegengesetzt. Gegen die Verwendung eines eucharistischen Gebets spricht auch, dass sie als notwendiger Teil der Sakramentsliturgie missverstanden werden könnten, dass also beispielsweise die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi erst durch die Herabrufung des Heiligen Geistes bewirkt wird.

Umgekehrt gibt es aber auch gute Gründe für die Verwendung eines eucharistischen Hochgebets im Gottesdienst: Zum einen greift diese Verwendung zurück auf die Wurzeln der urchristlichen und altkirchlichen Sakramentsfeier, die das Sakrament wesentlich auch als „eucharistia“, also als „Mahl der Danksagung“ verstand. Wesentliche Elemente des Hochgebets, wie es bei uns in unserer Agende steht, finden sich bereits in Texten aus dem 2. und 3. Jahrhundert. Zum anderen vermögen die Gebete, die die Einsetzungsworte umrahmen, aber auch den Horizont der Sakramentsfeier zu erweitern; Aspekte, die in der sonstigen Sakramentsliturgie nur andeutungsweise anklingen, kommen hier deutlicher zum Ausdruck. Wo es klar und unmissverständlich ist, dass die Gegenwart des Leibes und Blutes des Herrn allein durch Seine Worte und nicht durch unser Gebet bewirkt wird, ja dass das Sakrament insgesamt Gabe und Geschenk und nicht unser Opfer ist, hat der Gebrauch des eucharistischen Hochgebets von daher durchaus sein Recht.

Die Epiklese, das Gebet vor den Einsetzungsworten, lautet in unserer Lutherischen Kirchenagende folgendermaßen:

"Gelobet seist du, Herr des Himmels und der Erde, dass du dich über deine Geschöpfe erbarmt und deinen eingebornen Sohn in unser Fleisch gesandt hast. Wir danken dir für die Erlösung, die du uns bereitet hast durch das heilige, allgenugsame Opfer seines Leibes und Blutes am Stamme des Kreuzes. In seinem Namen und zu seinem Gedächtnis versammelt, bitten wir dich, Herr: Sende herab auf uns den Heiligen Geist, heilige und erneuere uns nach Leib und Seele und gib, dass wir unter diesem Brot und Wein deines Sohnes wahren Leib und Blut im rechten Glauben zu unserm Heil empfangen, da wir jetzt nach seinem Befehl sein eigen Testament also handeln und brauchen": Darauf folgen dann die Einsetzungsworte.

Das Gebet beginnt mit einem Lobpreis Gottes des Schöpfers; es knüpft an den Lobpreis an, den Christus in der Nacht, da er verraten ward, gesprochen hatte. Der Lobpreis geht jedoch über den Dank über die Schöpfung hinaus und bezieht sich auf das Heilswerk Christi, auf seine Menschwerdung und sein Kreuzesopfer. Dieses Opfer wird ausdrücklich als „allgenugsam“ bezeichnet; es kann nicht auf irgendeine Weise durch menschliche Opferhandlungen, auch durch keine Sakramentsfeier in irgendeiner Weise ergänzt werden. Indem das Gebet vom Opfer des Leibes und Blutes Christi spricht, macht es deutlich: Die Gabe, die wir im Sakrament empfangen, ist identisch mit der Opfergabe Christi am Kreuz, mit seinem Leib und Blut.

Auf den Dank folgt die Bitte um die Herabsendung des Heiligen Geistes, auf Griechisch „Epiklese“ genannt. Während die Ostkirchen die Wandlung der Elemente durch diese Epiklese bewirkt sehen, betont Luther die Wirkmächtigkeit der Einsetzungsworte Christi selber – wobei nach lutherischem Verständnis Wort und Geist gerade kein Gegensatz sind: Der Heilige Geist hat sich vielmehr an das Wort Christi gebunden. Entsprechend geht es bei der Epiklese in der lutherischen Agende auch nicht um eine „Gabenepiklese“, also eine Herabrufung des Heiligen Geistes auf die Elemente Brot und Wein, sondern um eine „Personenepiklese“: Es wird darum gebetet, dass der Heilige Geist auf die Kommunikanten herabkomme, sie heilige und erneure und sie damit die Gaben des Leibes und Blutes Christi zu ihrem Heil empfangen lasse. Kurzum: Es wird darum gebetet, dass der Heilige Geist in den Kommunikanten den Glauben wirkt, der allein die rechte Haltung zum heilsamen Empfang des Sakramentes ist. Der Glaube bewirkt nicht die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi; aber im Glauben empfangen wir diese Gaben, die auch unabhängig von unserem Glauben gegenwärtig sind, zu unserem Heil. Da wir im Sakrament das Allerheiligste empfangen, ist es durchaus angemessen, Gott zu bitten, dass er uns dieses Allerheiligste auch in rechter Weise empfangen lasse.

Auf die Einsetzungsworte folgt die Anamnese, die in unserer Lutherischen Kirchenagende folgenden Wortlaut hat:

"So gedenken wir, Herr, himmlischer Vater, des heilbringenden Leidens und Sterbens deines lieben Sohnes Jesus Christus. Wir preisen seine sieghafte Auferstehung von den Toten und getrösten uns seiner Auffahrt in dein himmlisches Heiligtum, wo er, unser Hoherpriester, uns immerdar vor dir vertritt. Und wie wir alle durch die Gemeinschaft seines Leibes und Blutes ein Leib sind in Christus, so bringe zusammen deine Gemeinde von den Enden der Erde, und lass uns mit allen Gläubigen das Hochzeitsmahl des Lammes feiern in seinem Reich. Durch ihn sei dir, allmächtiger Gott, im Heiligen Geiste Lob und Ehre, Preis und Anbetung jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit." Darauf antwortet die Gemeinde: Amen.

Anamnese bedeutet: „Heilsgedächtnis“. Christus selber hat in den Einsetzungsworten gesagt: „Solches tut zu meinem Gedächtnis“. Und der Apostel Paulus schreibt: „Sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1. Korinther 11,26) Solche Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens geschieht in der Feier des Sakraments: Wir gedenken des heilbringenden Leidens und Sterbens Christi, seiner Auferstehung und seiner immerwährenden Fürbitte als unser Hoherpriester vor Gottes Thron: Der, dessen Leib und Blut wir hier im Sakrament empfangen, tritt zugleich unaufhörlich vor Gott für uns ein.

An dieses Gedenken schließt sich eine Fürbitte an, die bis auf die früheste Zeit der Christenheit zurückreicht: Die Bitte um die Sammlung der Gemeinde, um die Einheit derer, die gemeinsam den Leib und das Blut ihres Herrn empfangen. Wie angebracht ist diese Bitte gerade angesichts der schmerzlichen Trennung der Christenheit am Altar, dass wir Gott um diese geistliche Einheit bitten, die einmal ihren endgültigen sichtbaren Ausdruck beim gemeinsamen Freudenmahl der Ewigkeit finden wird. Jede Sakramentsfeier ist schon ein Vorgeschmack dieses Freudenmahls; hier kommt die Ewigkeit schon in die Zeit hinein. Wie von selbst mündet da das Gebet ein in den Lobpreis des dreieinigen Gottes, in das Lob des Vaters durch Christus im Heiligen Geist: Unsere Liturgie auf Erden und die ewige Anbetung vor dem Thron Gottes werden eins, jetzt, wo das Lamm, dessen Hochzeitsmahl wir einst feiern werden, schon auf dem Altar gegenwärtig ist.

Dem Heilsgedächtnis dient auch eine sogenannte „Akklamation“, ein Ruf, der sich nach unserer Agende unmittelbar an die Einsetzungsworte anschließt: „Geheimnis des Glaubens!“ Darauf antwortet die Gemeinde singend: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Der Bezug zu 1. Korinther 11,26 ist offensichtlich. Auch hier wird der Horizont der Gemeinde bei der Sakramentsfeier wieder nach vorne hin geöffnet: Wir feiern jedes Mal dem wiederkommenden Herrn entgegen, der seine Wiederkunft bei jeder Sakramentsfeier schon vorwegnimmt. Die Worte „Geheimnis des Glaubens“ könnten natürlich missverstanden werden, als ob die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi von unserem Glauben abhängig sei und wir im Sakrament letztlich nichts anderes als unseren Glauben feiern. Das ist natürlich falsch. Der biblische Bezug in 1. Timotheus 3,16 macht jedoch deutlich, dass mit dem Glauben nicht unsere Gläubigkeit gemeint ist, sondern das Glaubensbekenntnis der Kirche, der Glaubensinhalt, vor dem wir nur anbetend auf die Knie sinken können: CHRISTUS ist offenbart im Fleisch; ER ist Mensch geworden, und ER selber ist nun selber mit Seinem Leib und Blut leibhaftig in unserer Mitte gegenwärtig. – Geheimnis des Glaubens!