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8. Der Eingangsteil des Gottesdienstes (Teil 1)

8. Der Eingangsteil des Gottesdienstes (Teil 1)
Schon im Neuen Testament selber lässt sich erkennen, dass der Gottesdienst der christlichen Gemeinde wesentlich aus zwei Teilen besteht: der Wortverkündigung und der Feier des Heiligen Altarsakraments. Diese beiden Teile wurden schon früh durch einen Eingangsteil und einen Schlussteil ergänzt; die Teile selber wurden im Laufe der Zeit dabei liturgisch reicher ausgestaltet. Zum Gottesdienst gehört nach dem Verständnis des Alten Testaments eigentlich auch schon der Weg zum Gotteshaus. Auf dem Weg zum Tempel sangen die Pilger ihre Lieder, die Wallfahrtspsalmen, und bereiteten sich so auf den Besuch des Gotteshauses vor. Auch wir tun gut daran, uns rechtzeitig vor Beginn des Gottesdienstes auf den Weg zu begeben, dass auch wir uns auf dem Weg zur Kirche bereits auf die Begegnung mit dem lebendigen Christus einstimmen können und uns nicht nur von dem Gedanken umtreiben lassen, ob wir es wohl noch schaffen, rechtzeitig vor dem Ende des Orgelvorspiels die Kirche zu betreten.Es ist hilfreich für den Mitvollzug des Gottesdienstes, wenn wir die Kirche bereits einige Minuten vor Beginn des Gottesdienstes betreten und so Zeit haben, uns zu sammeln. Es gibt die schöne Geschichte von einem Indianer, der zum ersten Mal in seinem Leben Auto fuhr. Nach einer Weile bat er den Autofahrer anzuhalten, stieg aus und setzte sich einfach still an den Straßenrand. Als der Autofahrer ihn fragte, was er da tue, antwortete der Indianer: „Ich warte, bis meine Seele nachgekommen ist.“ Auch uns tut es gut, wenn wir bis zum Beginn des Gottesdienstes nicht nur körperlich anwesend sind, sondern wenn bis dahin auch unsere Seele nachgekommen ist. Wenn wir die Kirche betreten, blicken wir zunächst auf den Taufstein. Wir erinnern uns daran: Wir sind getauft; wir sind hier im Haus unseres Vaters. In der römisch-katholischen Kirche gibt es die schöne Einrichtung der Weihwasserbecken am Eingang, die genau diesen Sinn haben, die Kirchbesucher beim Betreten der Kirche an ihre Heilige Taufe zu erinnern. Wenn wir uns an „unseren“ Platz in der Kirche begeben haben (wobei das „unseren“ in Anführungsstrichen steht, weil wir in der Kirche natürlich kein Anrecht auf einen unveräußerlichen „Stammplatz“ haben), sprechen wir zunächst – in der Regel im Knien oder im Stehen – ein stilles Gebet. Wir danken Gott dafür, dass wir zu Seinem Haus kommen dürfen, und bitten ihn, dass er uns jetzt mit rechter Aufmerksamkeit, Ehrfurcht und Freude diesen Gottesdienst feiern lasse. Zugleich bitten wir auch für diejenigen, die in diesem Gottesdienst besondere Dienste übernehmen. Wenn wir unser stilles Gebet gesprochen haben, bleiben wir anschließend auch still und bereiten uns so auf den Einzug des Herrn aller Herren in Seinem Haus vor: „Der HERR ist in seinem heiligen Tempel. Es sei vor ihm stille alle Welt!“ (Habakuk 2,20) Es ist weder für uns selber noch für andere, die sich ebenfalls in der Stille auf den Gottesdienst vorbereiten wollen, hilfreich, wenn wir meinen, die verbliebene Zeit bis zum Beginn des Gottesdienstes mit angeregter Konversation mit unseren Banknachbarn ausfüllen zu können. Dazu haben wir vor dem Betreten der Kirche und besser noch nach dem Gottesdienst immer noch Gelegenheit.Der Klang der Glocken lädt in aller Öffentlichkeit zum Besuch des Gotteshauses ein; er ist Verkündigung der Gegenwart Gottes und Lobpreis seiner Herrlichkeit und eigentlich nicht als Anfeuerungssignal für die letzten zur Kirche eilenden Gottesdienstteilnehmer gedacht. Vielmehr entspricht es dem Sinn des Glockengeläutes, wenn wir als Gottesdienstteilnehmer dieses bereits in der Kirche mitverfolgen.Auf das Glockengeläut folgt das Orgelvorspiel. Sein Sinn besteht nicht darin, die Geräusche zu spät kommender Gottesdienstteilnehmer und die noch laufenden Gespräche zu übertonen. Es ist vielmehr bereits ein Lobpreis Gottes und damit ein Stück Verkündigung. Zugleich bringt gerade auch dieses Orgelspiel zum Ausdruck, dass die Feier des christlichen Gottesdienstes keinen Zweck hat. Sie dient weder der Unterhaltung noch der Belehrung; vielmehr treten wir im Gottesdienst alle miteinander ein in die Gegenwart Gottes und bringen ihm – ganz zweckfrei – unsere Lobgesänge mit unseren Stimmen und auch mit den Stimmen der Instrumente dar. Wenn der Pastor mit seinen Mithelfern während des Orgelvorspiels in die Kirche einzieht, hat er zuvor in der Sakristei ebenfalls seine Vorbereitungsgebete gesprochen. Bevor er nun die Kirche betritt, hat er dabei seine Uhr abgelegt: Jetzt tritt auch er in den Raum ein, in dem Himmel und Erde eins werden und wir den Zwängen irdischer Zeitrechnung entnommen sind. Zu besonderen Anlässen wird bei diesem Einzug das Vortragekreuz vorangetragen. Es macht deutlich: Gastgeber dieses Gottesdienstes ist nicht der Pastor; vielmehr hält jetzt der auferstandene Christus in unserer Mitte seinen Einzug. Darum erhebt sich die Gemeinde auch vor diesem Kreuz und erweist damit dem gegenwärtigen Christus selber ihre Reverenz.Bei manchen Gottesdiensten ist es notwendig, dass der Pastor oder ein Gemeindeglied zu Beginn einige Ansagen zum Ablauf macht. Weder notwendig noch sinnvoll ist es dagegen, dass der Pastor zu Beginn des Gottesdienstes die Gemeinde mit mehr oder weniger jovialen Worten begrüßt und damit der irrigen Auffassung Vorschub leistet, er sei der Gastgeber des Gottesdienstes und „halte“ ihn nun. Nicht das „Ich“ des Pastors sollte am Beginn des Gottesdienstes stehen, sondern der Name des dreieinigen Gottes, mit dessen Anrufung die Verheißung unseres Herrn verbunden ist: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (St. Matthäus 18,20)Wenn dem Hauptgottesdienst kein Beichtgottesdienst vorangegangen ist, kann auf das Orgelvorspiel ein Rüstgebet mit einem Sündenbekenntnis der Gemeinde folgen. Es ist sicherlich gut und sinnvoll, dass wir zu Beginn des Gottesdienstes zum Ausdruck bringen, dass wir es nicht verdient haben, mit der Schuld unseres Lebens in die Gegenwart des lebendigen Gottes zu treten, und wir eigentlich vielmehr mit Jesaja im Angesicht Gottes aufschreien müssten: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.“ (Jesaja 6,5) Andererseits wäre es auch ein Missverständnis, wenn wir glaubten, wir müssten gleichsam so etwas wie einen „Vorwaschgang“ über uns ergehen lassen, um am Gottesdienst teilnehmen zu dürfen: Als getaufte Christen sind wir reingewaschen und werden nicht erst durch einen bestimmten Reinigungsakt „kultfähig“, wie dies in vielen Religionen sonst üblich ist.Anschließend stimmt die Gemeinde das Eingangslied an. Im lutherischen Gottesdienst wird viel gesungen. Damit nehmen wir schon die Weisungen des Neuen Testamentes auf: „Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“ (Kolosser 3,16) Und bereits im Jahr 111 berichtet Plinius, der Statthalter Bithyniens, verwundert dem römischen Kaiser Trajan, dass die Christen „an einem festgesetzten Tag vor Tagesanbruch zusammenkommen und Christus wie einem Gott ein Loblied singen“. „Bis orat, qui cantat“, „Es betet doppelt, wer singt“ – Dieses alte Wort bewahrheitet sich in unseren Gottesdienst immer wieder. Das Singen der Lieder bewegt Herz und Mund noch einmal in anderer Weise, als dies durch bloßes Sprechen allein möglich wäre; die Botschaft des Evangeliums, die in diesen Liedern zum Ausdruck kommt, prägt sich uns dadurch tief ein und steht uns oftmals selbst dann noch zur Verfügung, wenn uns später in unserem Leben vielleicht einmal Hören und Sehen, Sinn und Verstand vergehen mögen. Darüber hinaus haben wir gerade auch mit unserem Gesang Anteil am himmlischen Gottesdienst, in dem ebenfalls nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift viel, ja geradezu unaufhörlich gesungen wird. Zugleich verbindet uns der Gesang der Lieder mit den Christen, die vor uns gelebt und diese Lieder bereits früher gedichtet und selber gesungen haben. Auch der Gesang der Lieder ist von daher seinem tiefsten Wesen nach zweckfrei und dient keinesfalls bloß pädagogischen oder ornamentalen Zwecken.

Auf das Eingangslied folgt der „Introitus“. Der Introitus ist ein Psalm oder ein Teil eines Psalms, der ursprünglich beim Einzug der Amtsträger ins Gotteshaus gesungen wurde. In gewisser Weise haben wir zu Beginn des Gottesdienstes also eine Doppelung oder gar eine Verdreifachung: Orgelvorspiel, Eingangslied und Introitus haben im Gottesdienst eigentlich alle dieselbe Funktion. Wenn der Introitus von daher auch durch das Orgelvorspiel und/oder Eingangslied ersetzt werden kann, hat er doch auch im Gottesdienst seinen guten Sinn, weil durch ihn der Psalter seinen festen Platz in unseren Gottesdiensten hat. Gewiss haben die Psalmen noch einmal eine besondere Bedeutung in den täglichen Stundengebeten der Kirche. Dennoch ist es gut und wichtig, dass sie auch in den sonntäglichen Hauptgottesdiensten vorkommen. Viele dieser Introiten haben im Laufe der Jahrhunderte bestimmten Sonntagen ihr besonderes Gepräge, ja sogar ihren Namen gegeben: Estomihi, Invokavit, Reminiszere, Okuli, Laetare, Judika, Quasimodogeniti, Misercordias Domini, Jubilate und Kantate sind jeweils die ersten Worte des früher lateinisch gesungenen Introitus des entsprechenden Sonntags. Diese Introitusanfänge haben wir in unserer lutherischen Kirche in deutscher Übersetzung bis heute beibehalten. Die Introiten werden jeweils im Wechsel zwischen der Schola (wo dies nicht möglich ist, vom Liturgen) und der Gemeinde gesungen. Die Melodie der Introiten wird von den sogenannten Psalmtönen bestimmt. Dabei handelt es sich um Melodie-Modelle, die den Text des gebeteten Psalms in besonderer Weise hervorheben sollen. Die insgesamt neun verschiedenen Psalmtöne haben jeweils einen sehr unterschiedlichen Charakter. So findet beispielsweise der besonders fröhliche und strahlende 5. Psalmton vor allem in den Zeiten der Christusfeste Verwendung. Die Psalmverse bestehen dabei jeweils aus zwei Vershälften; nach dem Gesang der ersten Vershälfte wird dabei jeweils eine kurze Pause gemacht, um dem Inhalt dieser Vershälfte kurz nachsinnen zu können. Die Psalmgebete werden in der Kirche jeweils grundsätzlich mit dem „Gloria Patri“ abgeschlossen, dem „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Damit bringt die Kirche zum Ausdruck, dass der Gott, zu dem in den Psalmen gebetet wird, der Dreieinige Gott ist und die Psalmen als Gebet Christi, als Gebet zu Christus und als Gebet durch Christus zum Vater ihren eigentlichen und tiefsten Sinn erhalten. Schon in den Zeiten der Alten Kirche diente das „Gloria Patri“ dem Bekenntnis zur Einheit und Wesensgleichheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dieser Lobpreis des Dreieinigen Gottes verstummt nur an den beiden letzten Sonntagen der Passionszeit vor Ostern.