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Das Vaterunser: Zweite und Dritte Bitte.

Das Vaterunser: Zweite und Dritte Bitte.

 

DIE ZWEITE BITTE
Dein Reich komme.

Was ist das?
Gottes Reich kommt wohl ohne unser Gebet von sich selbst;
aber wir bitten in diesem Gebet, daß es auch zu uns komme.

Wie geschieht das?
Wenn der himmlische Vater uns seinen Heiligen Geist gibt,
daß wir seinem heiligen Wort durch seine Gnade glauben
und göttlich leben, hier zeitlich und dort ewiglich.


Der Begriff „Reich“ ist uns in unserem Sprachgebrauch heutzutage weitgehend abhanden gekommen. Das hängt wohl nicht zuletzt mit den negativen Erfahrungen zusammen, die wir in unserem Land mit dem letzten „Reich“, dem sogenannten Dritten, gemacht haben. Das griechische Wort, das im Text des Vaterunsers mit „Reich“ wiedergegeben wird, bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie „Königsherrschaft“ und beschreibt zugleich die Würde eines Königs, den Vollzug seiner Herrschaft und den Bereich, über den er seine Herrschaft ausübt. „Dein“ Reich komme, so leitet uns Christus zu beten an und macht damit deutlich, daß die Königsherrschaft Christi zumindest jetzt noch eine umstrittene ist, daß es andere Menschen und Mächte gibt, die die Herrschaft über uns beanspruchen und zu erringen suchen, und daß die Grenzen des Herrschaftsbereichs Gottes im Augenblick noch umkämpft sind und immer neu in Frage gestellt werden. Daß Gott die Königsherrschaft über diese Welt ausübt, läßt sich ja aufgrund unserer Erfahrungen in dieser Welt nicht unbedingt gleich wahrnehmen; im Gegenteil scheinen diese Erfahrungen dem Bekenntnis, daß Gott der König über die Welt ist, ganz und gar zu widersprechen. Eben darum erweist sich die Bitte „Dein Reich komme“ immer wieder neu als dringend notwendig und aktuell.

Mit den Worten „Dein Reich komme“ erbitten wir zunächst und vor allem das baldige Kommen des Tages, an dem Christus für alle Menschen sichtbar als der Herrscher der Welt erscheinen und alle Mächte, die ihm widerstreben, endgültig vernichten wird – kurzum: Es ist eine Bitte um das Kommen des Jüngsten Tages und um die Wiederkunft des HERRN. So relativieren wir mit dieser Bitte jeden Tag aufs neue all unsere Pläne und all unsere Sorgen, und wir beten damit oft genug sicher auch gegen unsere eigenen Wünsche an, unseren Lebenshorizont auf das Leben hier auf dieser Erde zu beschränken – wobei das Kommen des HERRN in diesem Horizont dann oft genug überhaupt keinen Platz hat und höchstens als Störung empfunden wird. Wir wollen eben oft gar nicht, daß Christus schon bald wiederkommt, weil wir uns nicht vorstellen können, daß das Offenbarwerden seiner Herrschaft auch die schönsten Erfahrungen unseres jetzigen Lebens noch einmal unendlich übertreffen wird. So ist diese Bitte „Dein Reich komme“ jeden Tag neu ein heilsames Korrektiv für unsere Lebensperspektive.

Die Bitte „Dein Reich komme“ ist damit zugleich eine Absage an alle menschlichen Utopien, die davon träumen, daß Menschen hier auf dieser Erde selber das Reich Gottes, das Paradies, mit ihrem Handeln schaffen könnten – ganz gleich, ob diese Utopien in einem marxistischen, kapitalistischen oder fanatisch-religiösen Gewand gekleidet vorgetragen werden. Die Bitte erkennt an, daß Gott allein mit seinem Eingreifen zu schaffen vermag, was uns Menschen unmöglich bleibt.

In seinen Katechismuserklärungen betont Martin Luther, daß dieses Reich Gottes, das einmal sichtbar kommen wird, schon jetzt in der Person Jesu Christi verborgen unter uns gegenwärtig ist. Jesus selbst verweist gegenüber den Pharisäern darauf, daß das Reich Gottes „mitten unter euch“ ist (Lukas 17,21), und meint damit keinen anderen als sich selber. Christus selber ist das Reich Gottes in Person. Wo Er ist, da ist das Reich Gottes. Darum beten wir diese Bitte des Vaterunsers im Gottesdienst vor der Spendung der Taufe und vor dem Empfang des Heiligen Altarsakraments: Da, wo Christus im Wasser der Taufe und im Brot und Wein des Heiligen Mahles zu uns kommt, da kommt Gottes Reich zu uns, werden wir in Seinen Herrschaftsbereich aufgenommen und in ihm festgehalten.

Die Herrschaftsweise des Königs Jesus Christus unterscheidet sich dabei erkennbar von der Herrschaftsweise anderer Herrscher: Er übt seine Herrschaft in seiner Kirche nicht mit Zwang und Gewalt aus, sondern allein durch Sein Wort, durch Seine Einladung und Seine Vergebung. Eben dieses Wort hat jedoch Macht, Menschen der Herrschaft Christi zu unterstellen. Eben darum ist die Bitte „Dein Reich komme“ immer auch in besonderer Weise eine Missionsbitte, eine Bitte darum, daß viele Menschen durch das Wort Christi erreicht und durch dieses Glauben wirkende Wort der Königsherrschaft Gottes unterstellt werden. Wenn wir also diese zweite Bitte des Vaterunsers für uns beten, tun wir gut daran, an dieser Stelle innezuhalten und Gott die Namen all derer konkret vorzutragen, zu denen dieses Reich Gottes auch noch kommen möge.

Luther betont in seiner Auslegung schließlich aber auch, daß wir diese Bitte immer wieder auch mit Bezug auf uns selber beten sollen, daß Gottes Reich auch zu uns komme. Auch wir stehen immer wieder in der Gefahr, uns von anderen Menschen und Mächten, von ihren Meinungen, Versprechungen und Drohungen gefangennehmen zu lassen. Allein können wir uns aus diesen Abhängigkeiten nicht befreien; eben darum tun wir gut daran, auch für uns selber immer wieder zu beten: „Dein Reich komme.“

 

DIE DRITTE BITTE
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Was ist das?
Gottes guter, gnädiger Wille geschieht wohl ohne unser Gebet;
aber wir bitten in diesem Gebet, daß er auch bei uns geschehe.

Wie geschieht das?
Wenn Gott allen bösen Rat und Willen bricht und hindert,
so uns den Namen Gottes nicht heiligen
und sein Reich nicht kommen lassen wollen,
als da ist des Teufels, der Welt und unsers Fleisches Wille;
sondern stärket und behält uns fest in seinem Wort und Glauben
bis an unser Ende.
Das ist sein gnädiger, guter Wille.


Die dritte Bitte des Vaterunsers ist in manch einer Situation unseres Lebens wohl die Bitte, die uns von allen am schwersten über die Lippen kommen mag. Wenn es nur nach uns ginge, so würden wir viel lieber beten: „Mein Wille geschehe.“ Wie schwer es ist, statt „Mein Wille geschehe“ „Dein Wille geschehe“ zu beten, hat Jesus selber am allertiefsten im Garten Gethsemane erfahren (vgl. Lukas 22,42).

Oberflächlich betrachtet scheint diese dritte Bitte einem gewissen Fatalismus zu entsprechen, den man in vielen Religionen beobachten kann und der Anhänger dieser Religionen oftmals in erstaunlicher Weise dazu befähigt, auch schwere Schicksalsschläge anzunehmen und zu tragen. Doch in dieser dritten Bitte des Vaterunsers kommt etwas anderes als Fatalismus zum Ausdruck: Sie bekommt ihren tiefsten Sinn allein von der Anrede des Vaterunsers her: „Vater, dein Wille geschehe.“ In der dritten Bitte bringen wir also unser Vertrauen zum Ausdruck, daß der Gott, zu dem wir beten, kein Tyrann oder Sadist ist, sondern unser Vater, der es nur gut mit uns meint. Eben darum erklärt Martin Luther im Katechismus die Worte „Dein Wille“ auch sogleich mit „Gottes guter, gnädiger Wille“. Wir bekennen mit der dritten Bitte: „Ich weiß, daß du mein lieber Vater bist, der es nur gut mit mir meint und der mein Leben zu einem guten Ziel führen will. Eben darum möge nicht mein Wille geschehen, denn der würde mich letztlich nur von diesem Ziel abbringen, sondern dein Wille geschehe.“

Das klingt so einfach und kann für uns doch so schwer auszusprechen sein, wenn wir in dem, was wir in unserem Leben erfahren, diesen guten, gnädigen Willen Gottes so gar nicht erkennen können. Und eben dies nutzen dann auch die Gegenmächte Gottes aus, die uns von Gott trennen wollen. Martin Luther benennt diese Gegenmächte immer wieder mit einer feststehenden Trias: „Teufel, Welt und Fleisch“. Der Teufel ist eben nicht bloß eine Witz- oder Comicfigur, sondern der Widersacher Gottes in Person, gegen den wir Menschen ohne die Hilfe Gottes nicht die geringste Chance hätten. Die „Welt“ meint natürlich nicht einfach die gesamte Schöpfung Gottes oder die Gesamtheit der Menschheit, sondern die Gesamtheit dessen, was uns in dem, was uns umgibt, von Gott wegzuziehen droht. Und mit unserem „Fleisch“ ist natürlich auch nicht unser Körper oder unsere Körperlichkeit gemeint, erst recht nicht unsere Geschlechtlichkeit. Sondern „Fleisch“ ist vor allem bei Paulus eine Umschreibung des gesamten Menschen in seiner Abwendung von Gott. Auch unser Geist und unsere Seele sind in diesem Sinne „Fleisch“, insofern sie von Gott und seinem Wort nichts wissen wollen. Diese Mächte – Teufel, Welt und Fleisch – arbeiten für Luther gleichsam Hand in Hand in ihrem Bemühen, uns von Gottes Willen zu entfremden. Wie realistisch Luther mit diesen scheinbar so altmodisch klingenden Worten unsere eigene Lebenswirklichkeit beschreibt, dürften wir wohl alle miteinander aus eigener Erfahrung nachvollziehen können. Eben dann dürfte uns die Bitte des Vaterunsers um so leichter über die Lippen kommen: „Dein Wille geschehe. Hindere du diese Mächte daran, über mich Gewalt zu gewinnen, und halte mich in den Kämpfen, in die sie mich zwingen, ganz fest bei dir – bis in die entscheidende Bewährungsstunde unseres Todes.“ Wie gut und tröstlich ist es, daß Gott uns gerade auch die Erhörung dieser Bitte verheißen hat.