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1. Die Gesänge zwischen den Lesungen

Wie wir in der letzten Ausgabe der Glaubensinformationen gesehen haben, gab es im Gottesdienst der Alten Kirche früher zumindest drei Lesungen aus der Heiligen Schrift: Die Lesung aus dem Alten Testament, die Epistel und das Heilige Evangelium. Zwischen diesen drei Lesungen wurden im Laufe der Zeit jeweils Psalmgesänge angestimmt. Da auch diese der Heiligen Schrift entstammen, fügten auch sie sich als Verkündigung des biblischen Wortes ein.
Zwischen der alttestamentlichen Lesung und der Epistel sang man den sogenannten „Gradualpsalm“, benannt nach den Stufen (lateinisch: gradus) vor dem Ambo, dem Lesepult, von denen aus der Chor diesen Gradualpsalm sang. Dabei antwortete die Gemeinde auf die einzelnen Verse des Psalms jeweils mit einem gleichbleibenden Vers aus dem jeweiligen Psalm, dem „Responsum“. Ein typisches Beispiel für einen responsorial gesungenen Psalm ist Psalm 136 mit dem Responsum „Denn seine Güte währet ewiglich“.
Zwischen Epistel- und Evangeliumslesung stand der Hallelujapsalm, ein Psalm, auf den die Gemeinde mit einem Halleluja antwortete. Bei diesem Halleluja wurden oft viele Töne auf einer einzigen Silbe gesungen; dies galt besonders für das „Schluss-A“ des Halleluja (der sogenannte „Jubilus“), das so reich ausgestaltet wurde, dass man darauf schließlich ganze Lieder, die sogenannten „Sequenzen“, sang. Einige dieser lateinischen Sequenzen sind dann schließlich auch als Lieder ins Deutsche übertragen worden, zum Teil auch schon vor der Reformationszeit; reformatorische Nachdichtungen finden wir in unserem Gesangbuch z.B. in ELKG 101 oder 120. Als später die alttestamentliche Lesung in der Epistellesung aufging, reihten sich der Gradual- und der Hallelujapsalm beide an die Epistel an. Die Texte dieser beiden Psalmen schrumpften dabei auf ein oder zwei Verse zusammen.
In der Reformationszeit griff man die Tradition, auf das reich ausgestaltete Halleluja einen Gesang folgen zu lassen, auf, und ersetzte durch diesen Gesang das Graduale. So wurde dieser Gesang nach dem Halleluja nunmehr „Graduallied“ genannt. Dabei ergab sich allerdings eine Umstellung, da nunmehr das Graduallied nach dem Halleluja gesungen wird und damit dem Missverständnis Vorschub geleistet wird, als sei das Halleluja gleichsam nur der Antwortgesang auf die Epistel, während es doch vielmehr die Ankündigung des Heiligen Evangeliums vorbereiten soll. Die Lutheran Church - Missouri Synod, unsere Schwesterkirche in den USA, hat in ihren Gottesdienstordnungen die ursprüngliche Funktion des „Halleluja“ wiederhergestellt; es begleitet hier die Prozession zwischen Epistel und Evangelium. Allerdings verzichten diese Gottesdienstordnungen zugleich auf einen jeweils wechselnden Halleluja-Vers, wie er in unseren Gottesdiensten bekannt ist. 
Mit dem Halleluja hat auch die Sprache des Alten Testaments, das Hebräische, seinen festen Platz in der Liturgie der christlichen Kirche gefunden. „Halleluja“ heißt auf Deutsch: „Lobet den HERRN!“ Schon im Gottesdienst des alten Israel hatte dieser Lobruf seinen festen Platz; das „Halleluja“ findet sich in vielen Psalmen. Martin Luther hat das „Halleluja“ die „vox perpetua ecclesiae“, die „ewige Stimme der Kirche“ genannt. „Loben“ und „leben“ gehören nach biblischem Verständnis ganz eng zusammen (vgl. Jesaja 38,18+19). Von daher erklingt das „Halleluja“ während des gesamten Kirchenjahrs im Gottesdienst – außer in der Vorfasten- und Fastenzeit. Wenn das „Halleluja“ ab dem Sonntag Septuagesimae verstummt, ist dies der erste Schritt auf die Fastenzeit zu: Das Halleluja erklingt nun nicht mehr, weder in der Form des Hallelujaverses nach der Epistel noch in den Liedern, bis es dann in der Osternacht wieder neu angestimmt und immer wieder von neuem wiederholt wird. So hat das Halleluja in der Kirche auch immer zugleich einen österlichen Klang; es wird auch bei christlichen Beerdigungen jeweils am Grab angestimmt und gesungen.
Früher wurde in der Kirche in der Fastenzeit statt des Halleluja ein sogenannter „Tractus“, ein Psalmgesang, der nicht im Wechsel mit der Gemeinde, sondern vom Vorsänger oder dem Chor „in einem Zug“ (daher der Name „Tractus“) gesungen wurde. Diese Tradition gibt es hier in Deutschland in unseren lutherischen Gottesdiensten nicht mehr; hier endet die Epistellesung einfach still. Dagegen hat unsere Schwesterkirche in den USA in ihrem neuen Gesangbuch nun auch den „Tractus“ in der Fastenzeit zumindest in einer Kurzform wiedereingeführt.
In unseren Gottesdiensten besteht das „Halleluja“ nach der Epistellesung aus drei Teilen: aus dem Hallelujavers in der Mitte und dem ihn umrahmenden Hallelujagesang. Je nach Psalmton wird das Halleluja vor und nach dem Hallelujavers dreimal oder viermal gesungen. Viermal, also besonders häufig, wird es im 5. Psalmton gesungen, der vor allem für Ostern und andere Christusfeste bestimmt ist. Der Hallelujavers in der Mitte ist meistens ein Psalmvers; er kann aber auch anderen biblischen Büchern und mitunter auch der altkirchlichen Überlieferung entnommen sein. So lautet etwa der Hallelujavers der Christnacht: „Erschienen ist uns der Tag, den Gott geheiligt. Kommt herzu, ihr Völker, und betet an den Herren; denn heute steigt herab das große Licht auf die Erde.“ Der Hallelujavers des Osterfestes ist dem Evangelium nach St. Lukas entnommen: „Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden.“ (St. Lukas 24,6.34) Dies ist der wohl älteste überlieferte Hallelujavers; er wird in der gesamten österlichen Freudenzeit, den 50 Tagen bis Pfingsten, an den Hallelujavers des jeweiligen Sonn- und Festtags angefügt, sodass wir in dieser Zeit einen doppelten Hallelujavers haben – nach der langen Zeit des Schweigens in der Fastenzeit. Auch zu Pfingsten haben wir noch einmal einen doppelten Hallelujavers: An den Psalmvers wird noch das altkirchliche Gebet „Komm, Heiliger Geist, erfüll die Herzen deiner Gläubigen und entzünd in ihnen das Feuer deiner göttlichen Liebe“ angefügt.  Die Hallelujaverse sind auch in unserem Gesangbuch jeweils unter der 0-Nummer zu finden. Das Graduallied geht in seiner heutigen Gestalt auf die Anregung Martin Luthers in seiner „Deutschen Messe“ zurück, anstelle des Graduale „ein deutsch Lied“ zu singen. Mit dem Graduallied übernahm und übernimmt die Gemeinde an dieser Stelle gleichsam selber ein Stück der Wortverkündigung; es handelt sich dabei jeweils um Lieder, in denen die Botschaft des Sonntags in besonderer Deutlichkeit zur Sprache kam. Die Tradition des Gradualliedes ging in der evangelischen Kirche in der Zeit verloren, in der es im Gottesdienst nur noch eine einzige Lesung aus der Heiligen Schrift gab. Erst im 20. Jahrhundert wurde diese Tradition wiederbelebt – und dies mit nachhaltigem „Erfolg“. Die Praxis des Gradualliedes, auch „Hauptlied“ genannt, hat sich mittlerweile auch in unseren lutherischen Gottesdiensten fest eingebürgert. Für diese Praxis des Gradualliedes spricht eine ganze Reihe von Gründen: Es ist gut, wenn die christliche Gemeinde mit dem jeweiligen Sonntag jeweils auch zumindest ein festes Lied verbindet. So legen sich regelmäßige Gottesdienstteilnehmer mit dem Gesang des Gradualliedes eine „eiserne Ration“ an Liedern zu, die ihnen vertraut sind, weil sie jedes Jahr – und zumeist ja auch nicht nur an diesem Sonntag – gesungen werden. Für die Praxis des Gradualliedes spricht weiter, dass dadurch eine ganze Reihe von inhaltlich gehaltvollen Liedern der Gemeinde in besonderer Weise nahegebracht wird. Die Gemeinde lernt dadurch wirklich zentrale Lieder aus dem lutherischen Liedgut kennen; diese können, eben weil sie Graduallieder sind, nicht einfach „unter den Tisch fallen“. Weiterhin spricht für die Praxis des Gradualliedes, dass damit wenigstens ein Lied in jedem Gottesdienst der Willkür des Pastors bei der Liedauswahl entzogen ist. Während ansonsten eine Gemeinde unweigerlich durch die stets subjektive Liedauswahl des Pastors mit geprägt wird und dadurch bestimmte Lieder sehr gut, andere aber vielleicht kaum oder gar nicht kennenlernt, ist durch das Graduallied eine gewisse Sicherung eingebaut, dass manche Lieder auch dann gesungen werden, wenn sie nicht zu den absoluten Favoriten des Pastors zählen. Die Praxis des Gradualliedes ist darüber hinaus auch eine Hilfe für die Kirchenmusiker: Ein Lied im Gottesdienst des jeweiligen Sonntags kennen sie auf jeden Fall schon im Voraus und können dies entsprechend auch in besonderer Weise vorbereiten. Schließlich spricht für die Praxis des Gradualliedes auch, dass es eine Brücke zwischen dem Gottesdienst am Sonntag und der persönlichen Andacht in der Woche, ja auch den Wochengottesdiensten ohne besonderes Proprium darstellt: Das Lied, das am Sonntag als Hauptlied gesungen wird, begegnet uns auch in Gemeindekreisen und bei ähnlichen Anlässen wieder. Vom Gesang von „Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern“ (Kolosser 3,16) weiß schon das Neue Testament zu berichten. Bereits im Neuen Testament selber treten eigene geistliche Dichtungen neben das Liedgut aus dem Alten Testament. Schon die Alte Kirche machte allerdings auch die Erfahrung, wie leicht gerade durch selbstformulierte Lieder auch falsche Lehren in die Kirchen einzudringen vermochten. Darum war die Kirche lange Zeit sehr zurückhaltend mit der Verwendung von Liedern, die mehr waren als bloße Nachdichtung eines biblischen Textes. Diese Zurückhaltung gab es interessanterweise gerade auch in der reformierten Kirche, wo man sich weitgehend auf den Gesang von Psalmennachdichtungen beschränkte. Dagegen hat sich die lutherische Reformation gerade auch durch den Gesang von reformatorischen Liedern schnell verbreitet. Dennoch bleibt die Warnung aus der Erfahrung der Alten Kirche berechtigt, dass Lieder im Gottesdienst immer sehr genau auf ihren Inhalt geprüft werden sollten, damit die Gemeinde durch sie nicht von einer unbiblischen Lehre und Frömmigkeit geprägt wird. Gerade auch von daher behalten die Graduallieder mit ihren klaren Lehraussagen ihre bleibende Bedeutung für den Gottesdienst in der lutherischen Kirche.