7. Die Evangelische Kirche (Teil 1)

Die Evangelische Kirche ist in der Form, wie wir sie in unserem Land kennen, ein typisch deutsches Phänomen und nur zu verstehen auf dem Hintergrund der Geschichte der letzten 500 Jahre hier in Deutschland:
Martin Luther und die Unterzeichner des Augsburger Bekenntnisses wollten bekanntlich keine neue Kirche gründen oder gar „aus der katholischen Kirche austreten“. Im Gegenteil war es ihr ureigenster Anspruch, die Lehre der katholischen Kirche selber zu vertreten und damit selber katholisch zu sein. Aus diesem Grunde bemühte man sich auch darum, Bischöfe zu finden, die dazu bereit waren, Priester für diese innerkatholische Reformbewegung, wie man sich selber verstand, zu weihen. Als dies im Wesentlichen nicht gelang, kam Luther auf die folgenreiche Idee, die Fürsten der einzelnen deutschen Länder, die sich der Reformation angeschlossen hatten, zu „Notbischöfen“ zu machen, die für die Neuordnung des Kirchenwesens zuständig waren. Gegen Ende seines Lebens vollzog Luther dann auch selber Bischofsweihen, als ihm schon aufging, welche Probleme mit der Einsetzung von Fürsten als Notbischöfen verbunden waren. Die Funktion der Fürsten als Notbischöfe hatte die Einheit von weltlichem Territorium und Kirche zur Folge; dies wurde schließlich auch 1555 im Augsburger Religionsfrieden festgeschrieben: „Cuius regio, eius religio“: Wer Fürst über ein bestimmtes Gebiet ist, der bestimmt auch die Konfession, die in diesem Gebiet gelten soll. Dabei wurde der Augsburger Religionsfrieden nur zwischen römischen Katholiken und Lutheranern (die Begriffe stellen in Wirklichkeit einen Anachronismus dar!) geschlossen, da beide den Anspruch erhoben, die wahre katholische Kirche zu vertreten. Ausgeschlossen von diesem Religionsfrieden waren dagegen die Calvinisten, deren Lehre sich zu deutlich von dem immer noch wahrgenommenen Grundkonsens der beiden unterzeichnenden Parteien unterschied.
Da die Calvinisten von beiden Seiten kirchlich und rechtlich nicht anerkannt waren, versuchten sie in der Folgezeit, sich gleichsam als Lutheraner zu tarnen und unter dem Deckmantel des lutherischen Glaubens ihre Ideen zu verbreiten. Damit hatten sie auch einigen Erfolg, beispielsweise in Sachsen, bis auch dort die Unvereinbarkeit von Calvinismus und lutherischem Glauben wahrgenommen wurde. Daraufhin formulierten die lutherischen Kirchen ihr Bekenntnis noch einmal eindeutig auch in Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Krypto-Calvinismus“, das heißt: einem Calvinismus, der sich unter dem Schein des Luthertums verbarg. Dieses Bekenntnis, die sogenannte Konkordienformel, gehört zu den lutherischen Bekenntnisschriften, auf die die Pastoren der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche bis heute bei ihrer Ordination verpflichtet werden.
Calvinistisches Gedankengut breitete sich nichtsdestoweniger nicht nur in anderen europäischen Ländern, sondern auch in deutschen Ländern aus: 1613 trat der brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund offiziell zum Calvinismus über. Seit dieser Zeit gab es einen andauernden Konflikt zwischen dem Herrscherhaus und der lutherischen Kirche, die in Brandenburg (später Preußen) weiterhin Bestand hatte. Immer wieder versuchten die Kurfürsten, später die Könige, in die lutherische Kirche hineinzuregieren und ihr Vorschriften zu machen. Besonders unerträglich fanden sie es natürlich, dass das von ihnen vertretene reformierte Bekenntnis in der lutherischen Kirche als falsche Lehre abgelehnt wurde. Das bekannteste Opfer der Auseinandersetzung zwischen Fürstenhof und Kirche in Brandenburg war der Liederdichter Paul Gerhardt, der im 17. Jahrhundert seines Amtes enthoben wurde, weil er sich weigerte, der Weisung des Kurfürsten Folge zu leisten, der von ihm verlangt hatte, nicht mehr zu lehren, was die Konkordienformel über die reformierten Lehren gesagt hatte.
Tiefgreifende Änderungen in der kirchlichen Lehre und Praxis brachte das 18. Jahrhundert mit sich: Die geistigen „Zwillingsschwestern“ Pietismus und Rationalismus höhlten innerhalb von wenigen Jahrzehnten die Grundfesten der lutherischen Kirche aus: Der Pietismus legte nur noch Wert auf die persönliche Herzensfrömmigkeit des Einzelnen; Gottesdienst und Gnadenmittel traten demgegenüber in ihrer Bedeutung zurück. Auch Lehrfragen wurden unerheblich, wenn es nur noch um die persönliche Beziehung des einzelnen Christen zu Jesus ging. Der Rationalismus baute darauf auf: Nun war nur noch das moralische Handeln des Christen von Bedeutung; Lehre und Gottesdienst wurden nach den Prinzipien einer „Vernunftreligion“ neu und „zeitgemäß“ umformuliert. Innerhalb weniger Jahrzehnte ging die Teilnahme am Gottesdienst schlagartig zurück; wenn es nur noch – bestenfalls – um Herzensfrömmigkeit und ansonsten nur noch um sittlich anständiges Verhalten des Christen ging, spielten natürlich auch konfessionelle Unterschiede keine Rolle mehr. Damit war der Boden bereitet für die Einführung von Unionen von Lutheranern und Reformierten, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zahlreichen deutschen Ländern vollzogen wurden – entweder mit staatlichem Druck wie etwa in Preußen oder auch, wie etwa in Baden, freiwillig als „Konsensunion“. Identitätsstiftend war dabei wesentlich das Gegenüber zur römisch-katholischen Kirche: „Wir sind evangelisch, weil wir nicht katholisch sind“.
Unionen wurden formal nur in den deutschen Ländern vollzogen, in denen zuvor bereits reformierte und lutherische Kirchen nebeneinander existiert hatten. Doch auch die äußerlich rein lutherischen Landeskirchen waren zumeist vom Geist des Pietismus und der Aufklärung gezeichnet; dies wurde in den Gottesdiensten ebenso erkennbar wie etwa auch in den verwendeten Katechismen für den kirchlichen Unterricht. Mit dem Zusammenwachsen der deutschen Länder zum Deutschen Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt auch der Gedanke einer „deutschen Nationalkirche“ immer weitere Unterstützung: Erkenntnisleitend war dabei weiterhin die Vorstellung der Identität von Territorium und Kirche, auch wenn diese in Preußen durch die Anerkennung der altlutherischen Kirche als eigenständiger Kirche 1845 wiederum ein Stück weit in Frage gestellt wurde. Nach wie vor war jedoch in den deutschen Ländern der jeweilige Fürst oder König zugleich Oberhaupt der Staatskirche: Der Bischof des Berliner Doms, also der Berliner Bischofskirche, war selbstverständlich der Deutsche Kaiser.
1918 wurden die Staatskirchen mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu Landeskirchen, das heißt zu Kirchen, deren Oberhaupt nicht mehr der Landesherr war, die aber weiterhin in ihrem Selbstverständnis und ihrer Verfassung territorial bestimmt waren. Eine wichtige Entscheidung fiel dann nach dem Zweiten Weltkrieg: Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen des Kirchenkampfs schlossen sich alle „evangelischen“ Landeskirchen 1948 zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD) zusammen. Auch alle lutherischen Landeskirchen schlossen sich der EKiD an und verwarfen damit ausdrücklich die Option der Bildung einer deutschlandweiten lutherischen Bekenntniskirche unter Einschluss der altlutherischen Kirche. Man gründete zwar parallel zur EKiD die „Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands“ (VELKD); doch trat deren kirchliche Bedeutung im Laufe der Zeit hinter der Zugehörigkeit von deren Gliedkirchen zur EKiD immer mehr zurück. „Die EKiD ist der Schlafwagen, mit dem wir die Lutheraner in die Union fahren“, hatte bereits damals bei der Gründung der EKiD der unierte Berliner Bischof Otto Dibelius erklärt und mit dieser prophetischen Äußerung Recht behalten: Längst versteht sich die EKiD nicht mehr bloß als Bund von Kirchen, sondern selber als Kirche, als EKD; mit der Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie haben die lutherischen Landeskirchen beispielsweise in der Abendmahlsfrage calvinistische Positionen akzeptiert und übernommen, und in den gegenwärtigen Überlegungen um die Zusammenlegung von Landeskirchen innerhalb der EKD spielt die Frage der ursprünglichen Bekenntnisbindung der jeweiligen Landeskirchen gar keine Rolle mehr: Unierte und ehemals lutherische Landeskirchen lassen sich problemlos vereinigen, nachdem bereits seit längerer Zeit auch Theologen aus unierten Kirchen, ja sogar mit ausdrücklich calvinistischer Bekenntnisbindung, Bischöfe in Kirchen der VELKD werden konnten. Dies spiegelt sich auch in der Praxis wider: Wurden bis Mitte des 20. Jahrhunderts Kirchglieder einer lutherischen Landeskirche bei einem Umzug in das Gebiet einer unierten Landeskirche an Gemeinden der altlutherischen Kirche in diesem Gebiet überwiesen, so gibt es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hier in Deutschland das Phänomen der „Möbelwagenkonversion“: Man wird automatisch von einer Landeskirche in die andere überwiesen, unabhängig von deren formalem Bekenntnisstand.
So hat sich im Laufe der Zeit in der Tat in der EKD so etwas wie eine allgemeine „evangelische“ Identität herausgebildet. Diese Identität ist weiterhin wesentlich territorial geprägt: Alle Bewohner eines bestimmten Gebiets sind, wenn sie denn nicht „katholisch“ sind, erst einmal – zumindest potentiell – „evangelisch“. Bekenntnisfragen spielen in aller Regel kaum eine Rolle; identitätsstiftend ist weiterhin wesentlich das Gegenüber zur römisch-katholischen Kirche. Entsprechend definiert sich die EKD seit einigen Jahren auch in bewusster Abgrenzung zur römisch-katholischen Kirche als „Kirche der Freiheit“, was ausdrücklich auch die Anerkennung eines weitreichenden Pluralismus in der Lehre einschließt: Da es kein verbindliches Lehramt gibt und die normative Funktion der Heiligen Schrift dadurch ausgehöhlt ist, dass sie nicht mehr als Wort Gottes, sondern lediglich als Zeugnis des Glaubens ihrer Verfasser verstanden und behandelt wird, haben Pastoren und Pastorinnen in der EKD einen weiten Spielraum in ihrem Verständnis der Aussagen der Heiligen Schrift.
Diese Entwicklung hat aber zugleich dazu geführt, dass sich die Kirchglieder der EKD heutzutage immer weniger als Glieder einer konkreten Landeskirche, sondern häufig nur noch als Glieder einer bestimmten – so oder so geprägten – Gemeinde ansehen, abgesehen von einem allgemeinen Grundverständnis, „evangelisch“ zu sein. In diesem Zusammenhang haben dann verschiedenste Richtungsgemeinden ihren Platz in den Landeskirchen und können nebeneinander ungehindert existieren und arbeiten, solange sie sich nicht auf die Verbindlichkeit des Bekenntnisses berufen und damit Lehre und Praxis anderer Gemeinden in Frage stellen und kritisieren. Tun sie dies, so müssen sie allerdings immer wieder erfahren, dass die Toleranz von Kirchenleitungen an diesem Punkt sehr begrenzt ist. Die emotionale Bindung der davon betroffenen Gemeindeglieder an die Evangelische Kirche als „die Kirche“ hindert jedoch viele von ihnen daran, den Weg in eine Bekenntniskirche zu gehen, in der der Bekenntnisstand der Gemeinde nicht vom jeweiligen Pastor abhängig ist. Dies sollte uns als SELK jedoch nicht davon abhalten, die Verbindung mit Gemeinden und Kirchlichen Sammlungen in den Landeskirchen zu suchen, die je an ihrem Ort sich in Lehre und Praxis am lutherischen Bekenntnis orientieren.