6. Die orthodoxen Kirchen (Teil 2)

Wenn wir uns als vom westlichen Denken geprägte Christen mit Lehre und Praxis der orthodoxen Kirchen befassen, dann wird uns immer wieder bewusst, wie sich in den orthodoxen Kirchen in den vielen Jahrhunderten der Trennung auf der gemeinsamen Grundlage der Heiligen Schrift vieles entwickelt hat, was unserem Denken nicht sofort zugänglich ist, dieses jedoch zu bereichern vermag – allerdings nicht so, dass sich Lehre und Praxis der orthodoxen Kirche direkt etwa in lutherische Theologie überführen und integrieren ließen. Nicht nur der grundlegende Selbstanspruch der orthodoxen Kirchen, im Unterschied zu den anderen Kirchen allein „die“ apostolische Kirche zu repräsentieren, sondern auch manch konkrete Lehre und Praxis in ihnen muss bei aller Sympathie zugleich auch kritisch hinterfragt werden.
Auffallend ist in der Begegnung mit orthodoxer Theologie und Liturgie immer wieder, was für eine zentrale Bedeutung die Trinität, die Dreieinigkeit Gottes, für die Orthodoxie besitzt. Während im westlichen Denken das Trinitätsdogma eher als „Problem“ oder als „Theorie“ wahrgenommen wird, die mit dem Glaubensleben des Christen nicht viel zu tun hat (genau hier setzen entsprechend auch der Islam und die Zeugen Jehovas mit ihrer Kritik und ihren missionarischen Bemühungen immer wieder an!), bestimmt das Bekenntnis zu dem Dreieinigen Gott Leben und Frömmigkeit eines orthodoxen Christen in hohem Maße. Dies wird auch in den Gottesdiensten deutlich, die durchzogen sind von dem immer wiederkehrenden Lobpreis des Dreieinigen Gottes. Während westliche Theologie dazu neigt, erst einmal abstrakt den „einen“ Gott zu bekennen und erst später davon zu reden, dass dieser eine Gott sich uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist zu erkennen gibt, ist für orthodoxes Denken die Einheit Gottes verankert in der Person Gottes des Vaters. Er ist der alleinige Ursprung von allem, von ihm haben auch der Sohn und der Heilige Geist ihr göttliches Wesen. Von daher wenden sich orthodoxe Theologen immer wieder mit großer Schärfe gegen die Formulierung in der westlichen Fassung des Nizänischen Glaubensbekenntnisses, der Heilige Geist gehe nicht nur vom Vater aus, sondern vom Vater „und dem Sohne“ (lateinisch: filioque). Diese Formulierung war im 6. Jahrhundert zunächst in Spanien in das Nicänum eingefügt worden, um die Gottheit Christi zu unterstreichen, der wie der Vater den Geist aussendet. Für das Denken eines orthodoxen Christen bedeutet dies jedoch, dass damit die Einheit Gottes aufgelöst wird, wenn der Heilige Geist nicht mehr einen, sondern zwei Ursprünge hat. Was uns als „westlichen“ Christen als eine theologische Spitzfindigkeit vorkommen mag, erregt bis heute immer wieder die Gemüter der Orthodoxen bei ihren Begegnung mit der Westkirche. Eben darin wird etwas deutlich von der Bedeutung des trinitarischen Bekenntnisses für ihr Denken.
Was die Christusverkündigung angeht, legen orthodoxe Theologie und Frömmigkeit besonderes Gewicht auf die Menschwerdung des Gottessohnes und auf seine Auferstehung. Natürlich wird auch dem Kreuzestod Jesu eine Heilsbedeutung zugesprochen; doch tritt er insgesamt in Denken und Frömmigkeit deutlich zurück. Schon in der Gestaltung der Kirchräume ist dieser Unterschied unübersehbar: Steht in lutherischen und römisch-katholischen Kirchräumen der Kruzifixus im Zentrum, so lenkt die Ikonostase, die Bilderwand, in der orthodoxen Kirche die Aufmerksamkeit des Kirchbesuchers stärker auf die „Umgrenzung des Unumgrenzten“, wie die Menschwerdung des Gottessohnes umschrieben wird, und auf die Überwindung des Todes durch den Auferstandenen. Beide Aspekte kommen auch zusammen in der Theologie der Ikonen, die für orthodoxe Frömmigkeit und orthodoxes Denken eine solch große Rolle spielen. Nachdem es Mitte des 8. Jahrhunderts in der orthodoxen Kirche zu einem Bildersturm gekommen war, erlaubte das Zweite Konzil von Nicäa, das von der Orthodoxen Kirche als siebtes Ökumenisches Konzil gewertet wird, im Jahr 787 ausdrücklich die Verehrung der Ikonen, nicht jedoch deren Anbetung. Als Begründung hierfür wurde wesentlich die Menschwerdung des Gottessohnes angeführt: Weil Gott in Christus sichtbar geworden ist, kann er auch dargestellt und abgebildet werden. Die orthodoxen Kirchen feiern jeweils am ersten Fastensonntag den sogenannten „Sonntag der Orthodoxie“, an dem dieses Konzils und des Sieges über die Bilderstürmer gedacht wird. Zugleich bezeugen die Heiligenikonen den Sieg Christi über den Tod: Die Heiligen haben jetzt schon Anteil an dem neuen Leben, das Christus ihnen durch seine Auferstehung erworben hat. Bezeichnenderweise stellt die orthodoxe Osterikone die Höllenfahrt Christi dar und zeigt, wie Christus Adam und die nach ihm kommen, durch seinen Ostersieg dem Machtbereich der gottfeindlichen Mächte entreißt. Die Ikonen werden in der Orthodoxie verehrt, weil sie als „Fenster“ verstanden werden: Durch die Ikone blickt der Gläubige gleichsam hindurch auf die Wirklichkeit, die sie abbildet. Von daher gilt die Verehrung letztlich dem, der durch die Ikone abgebildet wird. Es muss allerdings eingeräumt werden, dass in der Volksfrömmigkeit diese Unterscheidung nicht unbedingt in der gleichen Weise nachvollzogen wird. Überhaupt zeigt sich die orthodoxe Kirche bei der Integration von Elementen vorchristlicher Volksfrömmigkeit immer wieder recht großzügig.
Von der Menschwerdung Christi her wird auch die Verehrung Marias begründet: Das Konzil von Ephesus hatte 431 festgestellt, dass Maria mit Recht als „Gottesgebärerin“ bezeichnet werden kann – eine Entscheidung, die auch von der lutherischen Kirche übernommen wurde. Die Verehrung Marias, die daraus in der orthodoxen Kirche erwachsen ist, ist zum Teil jedoch von einem Überschwang gekennzeichnet, der selbst die römisch-katholische Marienverehrung zum Teil noch übertrifft. Von daher konnte der orthodoxe Theologe Sergej Bulgakov bereits 1927 formulieren: „Das Christentum allein mit Christus, aber ohne die Gottesmutter, das ist seinem Wesen nach eine andere Religion als die Orthodoxie, und der Protestantismus ist von der Kirche nicht durch einzelne seiner Irrlehren und willkürlichen Verkürzungen, sondern vor allem und wesentlicher als alles durch sein fehlendes Gefühl für die Gottesmutter getrennt.“ In dieser Äußerung wird natürlich zunächst einmal deutlich, dass es orthodoxen Theologen in aller Regel äußerst schwerfällt, zwischen protestantischer und lutherischer Theologie zu unterscheiden. Die Angriffe Bulgakovs treffen die lutherische Kirche ja höchstens zum Teil; dennoch ist es bezeichnend, welche Rolle er in diesem Zusammenhang Maria einräumt.
Während wir in der lutherischen Kirche gewohnt sind, bei der Beschreibung der Wiederherstellung unseres zerstörten Verhältnisses zu Gott vor allem von der Rechtfertigung des Sünders zu reden, spricht die orthodoxe Theologie in diesem Zusammenhang von der „Theosis“, von der „Vergöttlichung“ des Menschen: „Gott wurde Mensch, damit wir vergöttlicht würden“ – Dieses Wort des heiligen Athanasius von Alexandrien fasst ganz kurz die orthodoxe Heilslehre zusammen. Die Vergottungslehre als solche widerspricht durchaus nicht lutherischer Lehre; Luther selber kann davon sprechen, dass Gott „Christus, seinen lieben Sohn, ausschüttet über uns und sich in uns gießt und uns in sich zieht, dass er ganz und gar vermenscht wird und wir ganz und gar vergottet werden.“ Aus lutherischer Sicht schwierig ist es dagegen, dass die orthodoxe Theologie die Fähigkeiten des Menschen nach dem Sündenfall, zur eigenen Rettung beizutragen, immer noch recht positiv einzuschätzen vermag, erheblich positiver noch als die römisch-katholische Kirche. Von daher kann die orthodoxe Kirche auch unbefangen von einer „Synergeia“, einem Zusammenwirken von Gott und Mensch auf dem Weg zum Heil sprechen.
Die orthodoxe Kirche hat seit dem 13. Jahrhundert die ursprünglich westliche Lehre von der Siebenzahl der Sakramente übernommen. Dabei steht in ihr am Beginn des Christenlebens gleich ein Doppelsakrament: An die Taufe schließt sich unmittelbar die Myronsalbung als zweites Sakrament an, die in ihrer Bedeutung der römisch-katholischen Firmung bzw. auf lutherischer Seite der Konfirmation entspricht. Außerdem wird bereits dem neugetauften Säugling auch die Kommunion gereicht, die in der orthodoxen Kirche in der Weise gespendet wird, dass der Kommunikant Leib und Blut Christi zugleich von einem Löffel empfängt – nicht zuletzt auch eine Erinnerung daran, dass die Kommunion für orthodoxes Denken wesentlich „pharmakon athanasias“, Heilmittel der Unsterblichkeit, ist.
Dadurch, dass bereits der Säugling Myronsalbung und Kommunion empfängt, gibt es in der orthodoxen Kirche keine Einrichtung, die dem Konfirmandenunterricht bzw. Erstkommunionunterricht entsprechen würde. Dies hat zur Folge, dass zumindest eine obligatorische kirchliche Unterweisung von Kindern und Jugendlichen unterbleibt und diese auch im Erwachsenenalter zumeist nicht mehr nachgeholt wird. So bleibt es dem Interesse und Bemühen des einzelnen Gläubigen überlassen, tiefer in die Geheimnisse des Glaubens einzudringen, während viele Glieder der orthodoxen Kirche mit ihrem Glauben höchstens bestimmte volkstümliche Bräuche und Riten verbinden – ähnlich wie im heutigen Protestantismus.
Bereits die lutherischen Bekenntnisschriften im 16. Jahrhundert hatten einen Konsens mit der orthodoxen Kirche in der Frage der leibhaftigen Gegenwart Christi in den Elementen des Heiligen Mahles festgestellt und sich dabei auch nicht gescheut, den von der orthodoxen Kirche verwendeten Begriff der „Wandlung“ positiv aufzunehmen. Gemeinsamkeiten zwischen lutherischer und orthodoxer Theologie ergeben sich auch im Verständnis dessen, was Kirche ist, weil beide Seiten eine „eucharistische Ekklesiologie“ vertreten, das heißt: Beide Seiten sehen den Gottesdienst, konkret die Feier des Altarsakraments, als konstitutiv für die Bestimmung dessen, was Kirche ist, an. Auch was das Verständnis des kirchlichen Amtes angeht, ließe sich manche Gemeinsamkeit erkennen: Auch die orthodoxen Kirchen behaupten, dass ihre Weihen gültig sind, obwohl sie von Bischöfen vollzogen werden, die nicht in der Gemeinschaft mit dem Papst stehen. Allerdings stellen leider auch die orthodoxen Kirchen in Frage, dass in der lutherischen Kirche das apostolische Hirtenamt weitergegeben wird. Eine weitere Gemeinsamkeit mit den Orthodoxen besteht darin, dass auch orthodoxe Priester verheiratet sein dürfen – sie müssen allerdings bereits vor der Priesterweihe geheiratet haben; danach ist dies nicht mehr möglich. Dagegen dürfen Bischöfe nicht verheiratet sein; es handelt sich bei ihnen darum häufig um ehemalige Mönchspriester oder aber auch um Witwer.
Künftige ökumenische Annäherungen und Verständigungen mit den orthodoxen Kirchen hängen wesentlich von deren Bereitschaft ab, die lutherische Seite als Kirche ernst zu nehmen. Hier werden von orthodoxer Seite leider ganz unterschiedliche Haltungen eingenommen, die von Arroganz und Ignoranz bis zu großer Offenheit reichen.