8. Die Tageszeitengottesdienste (Teil 2)

An die Lesung aus der Heiligen Schrift und deren Auslegung schließt sich in den Tagzeitengottesdiensten der sogenannte Hymnus an:

In ihren Gottesdiensten haben die Christen von Anfang an von den Psalmen als ihren Liedern Gebrauch gemacht. Bereits im Neuen Testament selbst finden wir jedoch Zitate von Kirchenliedern, die die Christen selber geschaffen und formuliert haben: „Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder“ (Kolosser 3,16) hatten nebeneinander ihren Platz im Gottesdienst. Schon in der Alten Kirche wurde man dann jedoch mit einem Problem konfrontiert, das bis heute hochaktuell geblieben ist: Durch selbstformulierte Lieder konnten leicht auch falsche Lehren im Gottesdienst Einzug halten. Diese Gefahr besteht bis heute weiter, auch in unserer lutherischen Kirche: Lieder, die etwa eine reformierte Abendmahlslehre verbreiten („Teilt das Brot!“) oder die biblische Rechtfertigungsbotschaft auf den Kopf stellen („der dich annimmt, wenn du dein Leben ihm gibst“) oder inhaltlich schlicht und einfach hohl sind („Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“), finden im Gottesdienst wegen ihrer schmissigen Melodie Verwendung, prägen damit zugleich aber eben immer auch durch ihren fragwürdigen Inhalt den Glauben der Gemeinde. Bereits im 3. Jahrhundert entschied man sich in der Kirche einmal ganz radikal dafür, alles außerbiblische Liedgut aus den Gottesdiensten zu entfernen. Dies ließ sich allerdings auch nicht lange durchhalten, denn bereits ab dem 4. Jahrhundert wurden in der Kirche Hymnen geschaffen, die durch ihre dichterische Schönheit und ihre inhaltliche Kraft bald zu Recht einen Platz in den Gottesdiensten der Kirche fanden.

Die klassische Form des Hymnus hat der Mailänder Bischof Ambrosius Ende des 4. Jahrhunderts geschaffen: Ein Hymnus besteht aus acht Strophen, denen sich eine Strophe mit dem Lobpreis des dreieinigen Gottes anschließt. Jede Strophe besteht aus viermal vier Jamben (ein Jambus ist eine Silbenfolge einer unbetonten und einer betonten Silbe). In der Reformationszeit wurden viele dieser Hymnen, die in den Jahrhunderten zuvor geschaffen worden waren, ins Deutsche übersetzt und zu deutschen Kirchenliedern umgearbeitet. In unserem Gesangbuch finden wir solche klassischen Hymnenübersetzungen beispielsweise unter den Liednummern 1, 97, 352, 353, 354, 400, 411; weitere Nachdichtungen mittelalterlicher Gesänge finden wir auch unter den Liednummern 63, 76, 120, 137, 154, 286. Während in der Complet der Hymnus feststeht, wechselt er bei der Matutin und in der Vesper je nach der Kirchenjahreszeit. Da uns nicht genügend Hymnen im engeren Sinne zur Verfügung stehen, wird der eigentliche „Hymnus“ zumeist durch andere Lieder, etwa durch das Lied der Woche, ersetzt.

Auf den Hymnus folgt das sogenannte Canticum: Cantica sind biblische Psalmlieder außerhalb des Psalters selber. Solche Cantica finden wir im Alten Testament etwa in 2. Mose 15, 5. Mose 32, Richter 5, 1. Samuel 2, Jesaja 26, Jesaja 38, Jona 2 oder Habakuk 3. Im Neuen Testament finden wir in den ersten beiden Kapiteln des Lukasevangeliums drei Cantica, die in den Tagzeitengottesdiensten auch der lutherischen Kirche ihren festen Platz gefunden haben: Der Lobgesang des Zacharias (St. Lukas 1,68-79), nach seinem lateinischen Anfangswort auch „Benedictus“ genannt, wird in der Matutin gesungen. In diesem Danklied, das Zacharias damals nach der Geburt Johannes des Täufers sang, wird Christus als der „Aufgang aus der Höhe“ gepriesen. Dies passt gut zum Gebet am Morgen beim Sonnenaufgang, der in der Christenheit immer wieder als Sinnbild für den wiederkommenden Christus gebraucht worden ist - weshalb die christlichen Kirchen ja auch nach Osten hin ausgerichtet sind: Wir feiern mit unserem Gottesdienst dem wiederkommenden Christus entgegen. Der Lobgesang der Gottesmutter Maria (St. Lukas 1,46-55), nach seinem lateinischen Anfangswort auch „Magnificat“ genannt, hat seinen Platz in der Vesper gefunden: In Maria dürfen wir uns als Kirche wiederfinden und immer wieder darüber staunen, dass Gott „die Niedrigkeit seiner Magd angesehen“ hat, wie es im Magnificat heißt, und uns, die wir ihm nichts vorweisen können, so hoch erhoben und so reich beschenkt hat. Einen sinnvollen Platz hat auch der Lobgesang des Simeon (St. Lukas 2,29-32), nach seinen lateinischen Anfangsworten auch „Nunc dimittis“ genannt, in der Complet gefunden, dem Nachtgebet der Kirche, das in besonderer Weise auch dazu dient, das letzte große Einschlafen, das Sterben, immer wieder einzuüben: So singt man mit Simeon in der Complet: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast.“.

Der ganze Tagzeitengottesdienst soll insgesamt ein Gebetsgottesdienst sein. Doch gibt es in ihm auch noch einmal einen besonderen Gebetsteil, der ursprünglich sogar noch ausführlicher gestaltet war und sich nunmehr gleichsam nur noch in „Kurzform“ am Ende der Tagzeitengottesdienste findet. Dieser Gebetsteil besteht aus fünf Stücken: dem Kyrie, dem Vaterunser, den sogenannten Preces (Fürbitten), dem Stillgebet und dem abschließenden Kollektengebet.

Das Kyrie, mit dem der Gebetsteil beginnt, ist ein letzter Überrest einer einstmals ausgedehnten Litanei: Gebetsanliegen wurden genannt und von der Gemeinde mit dem Kyrie-Ruf „Herr, erbarme dich“ aufgenommen – ähnlich wie wir es aus dem Allgemeinen Kirchengebet im Hauptgottesdienst kennen. An das Kyrie schließt sich das Vaterunser an. Heutzutage ist es oftmals üblich, das Vaterunser als Schluss der Gebete, gleichsam als deren Zusammenfassung zu sprechen. In den Tagzeitengebeten finden wir dagegen die umgekehrte Reihenfolge: Das Vaterunser steht am Beginn; es ist als „Muster- und Meistergebet“ gleichsam die Grundlage und der Ausgangspunkt allen Betens und hilft uns, die wir nicht wissen, was wir beten sollen (Römer 8,26). Vom Vaterunser her erhält unser Beten seine Orientierung; dort werden auch die entscheidenden Inhalte benannt, um die es im christlichen Beten immer wieder geht. Das Vaterunser wird nach einer einfachen altkirchlichen Weise gemeinsam von Liturg und Gemeinde gesungen.

Auf das Vaterunser folgen die sogenannten „Preces“, Fürbitten, bei denen die Gemeinde auf Gebetsanliegen jeweils mit einem Psalmvers oder einem Vers, der im Stil von Psalmversen geformt ist, antwortet. Gerade in diesen Preces wird in besonderer Weise erkennbar, wie biblisch gesättigt die Tagzeitengottesdienste sind: bis in die Sprachgestalt hinein sind sie von biblischen Worten geformt. Damit bilden die Tagzeitengottesdienste ein heilsames Gegengewicht gegenüber der Gefahr, dass wir in unserem eigenen persönlichen Beten auch, was die Wortwahl angeht, nur noch um uns selber und unser subjektives Empfinden und Formulieren kreisen. So kann gerade dieser Gebetsteil der Stundengebete immer wieder auch unser eigenes freies Beten bereichern. Für dieses eigene freie Beten ist auch in den Tagzeitengottesdiensten Platz vorgesehen beim Stillen Gebet, das jeweils auf die Preces folgt. Das Stille Gebet im Gottesdienst bedarf der Einführung und Anleitung, damit aus ihm nicht bloß eine peinliche Verlegenheitsstille wird, weil die Gottesdienstteilnehmer denken, dass der Liturg nun wohl den Faden verloren hat oder gerade nicht weiß, wie es nun weitergehen soll. Wünschenswert wäre es allemal, wenn solche Zeiten der Stille nicht nur in den Tagzeitengottesdiensten, sondern auch wieder mehr im sonntäglichen Hauptgottesdienst der Gemeinde ihren Platz hätten. Ein dafür bereits vorgesehener Platz ist die Zeit zwischen dem Eingangsgruß des Liturgen: „Der Herr sei mit euch – und mit deinem Geist“ und dem folgenden Kollektengebet. Hier haben die Gemeindeglieder auch im Eingangsteil des Sonntagsgottesdienstes die Gelegenheit, Gott vorzutragen, was ihnen gerade in besonderer Weise auf dem Herzen liegt. Doch Stille einzuüben, ist heutzutage schwierig. Im Konfirmandenunterricht machen wir beim Thema „Gebet“ jeweils regelrechte Stilleübungen. Dabei zeigt sich oftmals, dass es für manche Konfirmanden geradezu unerträglich ist, auch nur eine Minute intensiver Stille zu erleben, während sie sonst von morgens bis abends pausenlos von allen möglichen Seiten berieselt werden. Doch auch Erwachsene tun sich ja oftmals schwer damit, in der Kirche einfach nur einmal leise zu sein … Dabei sehnen sich Menschen umgekehrt heutzutage ja immer wieder nach Stille, haben wir gerade als Kirche die Möglichkeit, ihnen hier ein „Alternativprogramm“ zur Dauerberieselung zu bieten. Und dass Gotteslob und Stille zusammengehören, wusste bereits das Alte Testament: „Gott, man lobt dich in der Stille zu Zion“ (Psalm 65,2). Das stille Gebet im Gottesdienst hat seinen besonders guten Sinn: Es ist persönlich und bleibt doch umfangen vom Beten der Gemeinschaft und bleibt damit bewahrt vor Eigensucht und Ichbezogenheit. Im Rahmen der Gebetsstille ist es am Ende schließlich auch möglich, bestimmte Gebetsanliegen und Fürbitten auch noch einmal laut auszusprechen. In unseren Vespergottesdiensten geschieht dies in der Weise, dass in dieser Stelle namentlich für die Kranken und Pflegebedürftigen in der Gemeinde, für Gemeindeglieder in fernen Ländern, für unsere Schwestergemeinden, für besondere Anlässe in der Gemeinde und auch für unseren Bischof gebetet wird. Abgeschlossen wird dieser Gebetsteil durch ein „Kollektengebet“, ein zusammenfassendes Gebet, über das an anderer Stelle in den Glaubensinformationen schon ausführlicher informiert wurde. In unserem Gesangbuch finden wir für jeden Wochentag ein eigenes Kollektengebet für Matutin und Vesper, das sich im Übrigen auch jeweils gut als Anleitung zum persönlichen Gebet eignet. Die Tagzeitengottesdienste werden im Unterschied zum Hauptgottesdienst nicht mit dem Aaronitischen Segen (4. Mose 6,24-26), sondern dem einfachen trinitarischen Segen beschlossen: „Es segne und behüte euch der allmächtige und barmherzige Gott, der + Vater, der Sohn und der Heilige Geist.“