2. Die Kommuniongesänge

Wo es möglich ist, kann die Austeilung des Heiligen Abendmahls durch Musik begleitet werden, die sogenannte „musica sub communione“. Diese kann unterschiedliche Formen haben: In den ältesten Beschreibungen des christlichen Gottesdienstes werden jeweils Psalmen als Kommuniongesänge genannt. Mit dem Rückgang der Kommunion durch die Gemeinde verkümmerten auch diese Gesänge; es blieben oft nur noch einzelne Psalmverse über, die zur Kommunion gesungen wurden. Martin Luther wollte die altkirchliche Praxis des Psalmengesangs während der Kommunion wieder aufleben lassen und empfahl dazu besonders den Gesang von Psalm 111. Da nicht überall in den Gemeinden eine geübte Schola für den Psalmengesang vorhanden war, entstanden in der Reformationszeit auch viele Psalmengesänge in Liedform, die von der Gemeinde gesungen werden konnten. Im Weiteren wurden in der lutherischen Kirche viele schöne Abendmahlslieder für den Gemeindegesang gedichtet, von denen leider nur wenige in unserem Gesangbuch erhalten geblieben sind. Später wurde es üblich, zur Sakramentsausteilung auch Lob- und Danklieder, aber dann auch Bußlieder singen zu lassen. Schließlich wandte man sich in der Zeit der Aufklärung ganz dagegen, dass die Gemeinde während der Austeilung des Heiligen Abendmahls überhaupt sang. Eine „sanfte Orgelbegleitung“ wurde als der Idealfall der musica sub communione angesehen. Zunehmend machte sich dann auch reformierter Einfluss geltend, wonach bei der Austeilung des Sakraments ganz geschwiegen werden sollte. Mit der liturgischen Erweckung des 19. Jahrhunderts in der lutherischen Kirche fand dann der Gemeindegesang wieder seinen Platz während der Sakramentsausteilung.

Selbstverständlich geht es bei den Gesängen der Gemeinde nicht bloß darum, die Gemeindeglieder vor allem bei längeren Austeilungen irgendwie zu „beschäftigen“. Mit dem Gesang wird zum Ausdruck gebracht, dass die ganze Gemeinde am Kommuniongeschehen beteiligt ist, nicht nur diejenigen, die gerade vorne am Altar knien. Die anderen Gemeindeglieder bereiten sich mit dem Gesang auf ihre eigene Kommunion vor oder bringen mit dem Gesang ihren Dank für den Kommunionempfang zum Ausdruck bzw. lassen sich durch den Gesang dazu anregen, noch einmal zu bedenken, was sie gerade empfangen haben. Zugleich bildet die ganze Gemeinde, gerade auch die eingeschlossen, die an diesem Tag gerade nicht kommunizieren, mit ihrem Gesang gleichsam einen „Ring des Gebets“ um die Kommunikanten und umgibt sie damit lobend, dankend und fürbittend. Insofern hat der Gesang von Liedern durch die Gemeinde bei der Kommunion einen guten Sinn. Nicht verschwiegen werden soll jedoch auch, dass er natürlich auch praktischen Zwecken dienen kann. Leider besitzen oftmals nicht alle Gottesdienstteilnehmer die nötige geistliche Disziplin, sich während der gesamten Sakramentsausteilung darauf zu besinnen, dass der Herr der Welt auf dem Altar mit seinem Leib und Blut gegenwärtig ist und es von daher eigentlich sogar angebracht wäre, dass die ganze Gemeinde während der gesamten Kommunionausteilung auf den Knien vor ihm liegt. Stattdessen besteht die Gefahr, dass sich Gottesdienstteilnehmer gerade während der Kommunion nur noch als „Zuschauer“ empfinden, nur noch auf Äußerlichkeiten achten oder gar anfangen, sich während der Sakramentsausteilung zu unterhalten. Sicher besteht die Gefahr, dass der Gemeindegesang von manchen als „Schutz“ empfunden wird, sich nun erst recht „unauffällig“ unterhalten zu können. Andererseits würde es die Kommunikanten am Altar gewiss noch mehr stören, wenn sie in dem Augenblick, in dem sie den Leib und das Blut des Herrn empfangen, nichts Anderes als Getuschel hinter sich hören würden.

Voraussetzung für den Gesang der Gemeinde ist natürlich, dass genügend Gottesdienstteilnehmer da sind, die den Gesang auch während des Wechsels der Kommunikantengruppen am Altar durchzutragen vermögen. Ansonsten ist es gewiss barmherziger für alle Beteiligten, auf den Gemeindegesang zu verzichten. Die Wahrnehmung der Ausführung des Gemeindegesangs während der Kommunion ist gewiss unterschiedlich: Während manche es als schön empfinden, wenn ein kräftiger Gemeindegesang ihnen schon eine kleine Vorahnung des Gesangs der himmlischen Heerscharen vermittelt und etwas von dem fröhlichen Charakter der Sakramentsfeier zum Ausdruck bringt, finden es andere wieder schöner, wenn die Gemeinde zur Kommunionausteilung nur leise singt und man sich damit stärker auf die Austeilungsworte bei der Kommunion konzentrieren kann. Dies ist, wie vieles andere auch, sicher eine Ermessensfrage. Gerade bei längeren Austeilungen ist es sicher sinnvoll und für die Stimmbänder der Gemeindeglieder barmherzig, wenn die Gemeinde nicht viele Strophen hintereinander weg singt, sondern der Organist nach einigen Strophen jeweils ein Zwischenspiel einlegt. Wo nicht genügend Gemeindeglieder bei der Kommunion anwesend sind, kann die Orgel auch ganz die musica sub communione übernehmen. Dabei sollten die Organisten jedoch nicht daran gehindert werden, am Ende auch selber die Kommunion empfangen zu können, wenn sie dies möchten. Auch Chorgesang ist grundsätzlich während der Austeilung möglich; allerdings sollte dabei vermieden werden, dass die Austeilungsworte des Pastors und die Worte des Chors für das Gehör der Gemeinde in eine Konkurrenz zueinander treten. Aus diesem Grunde hat sich auch die Darbietung von Sologesängen während der Austeilung in vielen Fällen als schwierig erwiesen.

Bei der Auswahl der Lieder, die die Gemeinde während der Austeilung singt, spielt für die Gottesdienste in Zehlendorf, in denen die Kommunion sehr lange dauert, natürlich die Strophenzahl eine nicht unwesentliche Rolle. In der festlichen Hälfte des Kirchenjahres legen sich Lieder der jeweiligen Kirchenjahreszeit nahe, während in der zweiten Hälfte des Kirchenjahres neben den Abendmahlsliedern des Gesangbuchs auch andere Lob-, Dank- und Vertrauenslieder zur Verfügung stehen. Der Anteil der Lieder von Paul Gerhardt ist dabei gewiss überproportional hoch. Dies liegt nicht allein daran, dass seine Lieder in aller Regel viele Strophen haben; es liegt vor allem an der Qualität dieser Lieder, in denen sich lutherische Theologie in wunderbarer Weise Ausdruck verschafft hat und die immer wieder neu auch durchsichtig für das Kommuniongeschehen erscheinen.

Wenn alle Kommunikanten, inklusive des Liturgen, das Sakrament empfangen haben, stimmt die Gemeinde als abschließendes Lied das „Nunc dimittis“ (übersetzt: „Nun entlässt du“) an, den Lobgesang des Simeon. Dieser Gesang des Nunc dimittis ist eine Tradition, die wohl in fast allen Gemeinden unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche verbreitet ist, sich außerhalb der SELK aber kaum irgendwo findet. Dabei geht die Praxis, diesen Lobgesang des Simeon am Ende der Sakramentsfeier anzustimmen, bereits auf das Mittelalter zurück: Dort betete der Priester diesen Lobgesang, während er die Sakramentsgeräte nach der Austeilung reinigte. Entsprechende Belege finden wir beispielsweise in einem Messbuch aus St. Peter in Rom aus dem 12./13. Jahrhundert. Genau während dieser Zeit singt die Gemeinde nun auch bei uns diesen Lobgesang, der ansonsten in der Kirche seinen festen Platz im Nachtgebet, in der Complet, hat. Das Nunc dimittis passt an dieser Stelle inhaltlich ganz wunderbar: Wie Simeon damals im Tempel das kleine Jesuskind auf den Armen hielt, in ihm im Glauben bereits seinen Herrn und Heiland erkannte und nun wusste, dass er im Frieden sterben konnte, weil er die Erfüllung seines Lebens erfahren hatte, so dürfen auch wir fröhlich bekennen: Wir haben ihn, Christus, leibhaftig empfangen, haben ihn im Brot und Wein mit den Augen des Glaubens als unseren gegenwärtigen Herrn erkannt und dürfen nun im Frieden heimgehen – nach Hause und schließlich auch in unser himmlisches Zuhause. Denn nun, da Christus in uns lebt, ist alles gut, haben wir Frieden mit Gott, haben wir das größte Glück unseres Lebens empfangen.

In der Ausführung des „Nunc dimittis“ gibt es in unserer Kirche verschiedene Varianten: Melodiemäßig gibt es neben einer Langfassung, die mit ihren „Melismen“, also längeren Tonfolgen, die auf eine Silbe gesungen werden, der Freude über die empfangene Gabe in überschwänglicher Weise Ausdruck verleiht, auch eine nüchternere Kurzfassung. Unterschiede gibt es auch darin, ob die Gemeinde sich bereits zu Beginn des Nunc dimittis oder erst zur Doxologie, also dem „Ehr sei dem Vater …“ erhebt. Dieses Problem hätte es zur Reformationszeit noch nicht gegeben, weil es da noch keine Kirchenbänke gab. Einerseits ist es sicher sinnvoll, sich zum Liedgesang zu erheben. Dann wäre es aber auch sinnvoll, sich zu dem Gesang anderer Lieder, beispielsweise zum Eingangslied, das ja die Funktion eines „Introitus“ hat, zu erheben. Die Praxis, sich erst zur Doxologie zu erheben, hat ebenfalls ihren guten Sinn: Die Anbetung des dreieinigen Gottes wird damit noch einmal in besonderer Weise hervorgehoben. In unserer amerikanischen Schwesterkirche, der LCMS, ist es üblich, sich auch sonst zur Schlussstrophe zu erheben, wenn ein Kirchenlied mit einem Lobpreis des dreieinigen Gottes schließt. Dafür gibt es im neuen Gesangbuch der LCMS sogar ein besonderes Symbol. Dies ist eine sehr schöne und sinnvolle Praxis. An den beiden Sonntagen der Passionszeit, an denen das Gloria Patri, das „Ehre sei dem Vater …“ entfällt, singen wir in unserer Gemeinde statt des Nunc dimittis den Kommuniongesang „Gott sei gelobet und gebenedeiet“, der von Martin Luther nach einem mittelalterlichen Kommuniongesang gedichtet worden ist. Leider hat der Gesang in unserem Gesangbuch im Vergleich zum ursprünglichen Text Luthers eine gewisse sprachliche Verhunzung erfahren, ist aber immer noch ein schönes Bekenntnis zu der im Sakrament empfangenen Gabe.